Das Altpapier am 25. Oktober 2017 Große Dilemmata, große Keulen

Heute mit emotionalen Reden und einem Sieben-Stunden-Video von den Münchener Medientagen. Ein dazu passendes Facebook-Experiment in sechs Staaten zeigt, wohin die Reise gehen könnte. Außerdem: 122 Millionen Euro für Fußballspiele; "E-Privacy" ist viel wichtiger als der Begriff leider klingt (auch für Dich!); und Medienkompetenz bleibt wichtig. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Zwei wichtige Eröffnungsereignisse zogen am gestrigen Dienstag viel deutsche Medienaufmerksamkeit auf sich. Erstens wurde der neue Bundestag eröffnet, der bekanntlich den Aufstieg zum zweitgrößten Parlament der Welt geschafft hat.

Sein neuer Präsident Wolfgang Schäuble ist heute auf ungefähr allen Nicht-Boulevardzeitungen zu sehen. Und tatsächlich könnte er, der Bundestag, wieder etwas spannend werden. Zumindest zeigt sich Star-Leitartikler Heribert Prantl noch mal wieder in Topfform ("Man sollte das Parlament mit einer Großküche vergleichen: Es ist heiß dort, es siedet und qualmt, manchmal spritzt das Fett, manchmal ...").

Richtig viel Medienmedienaufmerksamkeit zog der Bundestag noch nicht auf sich. Und wenn's gut läuft, wird er sogar vier Jahre lang beisammensitzen. Insofern zum zweiten Ereignis, das gestern losging, aber kürzer dauern wird: den Münchener Medientagen. Auf der Medienkonferenz "werden bis Donnerstag über 400 Referenten und bis zu 6.000 Besucher erwartet" (Tagesspiegel).


Scharfe Schäferkordt-Rede

Die wichtigste Eröffnungsrede hielt RTL-Deutschland-Chefin Anke Schäferkordt. Am ausführlichsten dokumentiert sie der begeisterungsfähige dwdl.de-Chef Thomas Lückerath:

"Es sollte - anders als beim harmlosen Interview in der heutigen 'Süddeutschen Zeitung' - noch deutlich meinungsfreudiger und für Schäferkordt ungewohnt scharf werfen."

Dieses gestern im Altpapierkorb erwähnte SZ-Interview gibt's weiterhin online nur kostenpflichtig; was Lückerath meint, hat @niggi vertwittert. Jetzt aber die scharfe Rede in der emotionalen dwdl.de-Schilderung:

"Richtig in Fahrt kam Anke Schäferkordt beim Bekenntnis zum dualen Mediensystem. 'Marktverzerrung durch 8 Milliarden Euro Rundfunkbeitrag muss eingedämmt werden', so die Chefin der Mediengruppe RTL Deutschland. Ihre Beobachtung: 'Die Verflechtungen von Öffentlich-Rechtlichen und Medienpolitik sind immer noch eng.' Nichts werde konkret in Angriff genommen und bisher immer noch nicht strukturell gespart bei ARD und ZDF. Stattdessen soll mehr Freiheit im Netz eingeräumt werden, damit Inhalte auch in Social Media verbreitet werden können. 'Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen', sagt Schäferkordt: Die Öffentlich-Rechtlichen sollen den Auftrag bekommen, die mit Beitragsgeld finanzierten Inhalte den US-Anbietern aus dem Silicon Valley kostenfrei verfügbar zu machen. 'Hut ab vor dieser Spitze der Wettbewerbsverzerrung', so eine spürbar aufgebrachte RTL-Chefin. Man frage sich schon, so ihr Nachsatz mit sehr energischer Stimme, ob die Chefs der US-Medienkonzerne vor lauter Lachen über die gesetzliche Wettbewerbsverzerrung in Deutschland abends überhaupt in den Schlaf kommen. Eine klare Aussage, die im Saal mit lautem Applaus quittiert wurde."

Dieses Argument zitiere ich gern, auch weil es partiell dem entspricht, was ich im "Jahrbuch Fernsehen" über den Umgang der Öffentlich-Rechtlichen mit den digitalen Plattformen schrieb.

Falls Sie jetzt Lust bekommen haben, das Feuerwerk online nachzuempfinden: Die Medientage haben ein Video auf  - 'türlich - Youtube gestellt, das in nicht einmal siebeneinhalb Stunden knackigen Überblick vermittelt. Bei ca. 5:28:30 hören Sie die (auch etwas weitschweifige) Klaas-Heufer-Umlauf-Ankündigung des Schäferkordt-Auftritts ...


Staatstragendes, Lamentos, Schimpfen (auch #mtm17)

Was ging sonst noch in München? Es gab "viel Staatstragendes und Belobigendes für den wahren, guten und schönen Journalismus" zu hören, berichtet Stefan Winterbauer im Rahmen eines launigen meedia.de-Überblicks. Von Schäferkordts Rede war er weniger angetan ("Die Medientage bieten für derlei Lamentos seit Jahren eine bewährte Bühne"), von Conferencier Heufer-Umlauf immerhin beim kontroversen Interviewen des Burda-Vorstands Philipp Welte.

Eine analytischere Zusammenfassung der Medienkonferenz von vor der Haustür bietet die Süddeutsche. Karoline Meta Beisel berichtet sowohl, wie Patrick Walker, "der bei Facebook für die Medienpartnerschaften in Europa zuständig ist", über eine Heufer-Umlauf-Frage "schimpfte", als auch, wie das Schäferkordt über "die sogenannte E-Privacy-Richtlinie für den Datenschutz, die auf EU-Ebene gerade erarbeitet wird" tat: Die

"schwinge mit sehr strengen Einwilligungsvoraussetzungen 'die ganz große Keule des Verbraucherschutzes'. Werbefinanzierte Angebote im Netz seien dann 'kaum noch möglich', so Schäferkordt, während die US-Konzerne sich an diese Regeln nicht halten müssten."

Woher Sie diese E-Privacy- bzw. "ePrivacy" kennen könnten: aus dem Altpapier gestern, zumindest wenn Sie zum dort verlinkten netzpolitik.org-Artikel klickten. Ich hatte allerdings zunächst irrtümlich "Datenschutzgrundverordnung" geschrieben. Nun erklärt netzpolitik.orgs Ingo Dachwitz noch mal im aufrüttelnderen Buzzfeed-Sound "Sechs Gründe, warum die totlangweilig klingende ePrivacy-Verordnung für dich wichtig ist".

Ob es gelingen kann, solche Regeln gleichermaßen europäischen wie US-amerikanischen Unternehmen aufzuerlegen, die ihren Europasitz dort wählten, wo Datenschutz und Steuern am niedrigsten sind, ist eine spannende Frage. Im Allgemeinen versuchen Politiker so was gar nicht erst. Wenn sie es doch auf nationaler Ebene tun, kommt etwas raus wie Justizminister Maas' NetzDG (dessen Zukunft ohnehin ungewiss ist), und wenn jemand es tun könnte, dann die EU – deren Digitalkompetenz zeitweise der inzwischen wieder für anderes zuständige Günter Oettinger verkörperte. Diese großen Dilemmata können auf Medienkonferenzen höchstens angesprochen, aber nicht aufgelöst werden.

Facebooks neueste Geschäftsidee

Und als ob Mark Zuckerberg ein Herz für die Münchener Medientage hätte, hat der Facebook-Konzern gerade ein spannendes Experiment gestartet, das exemplarisch zeigt, wohin es führt, wenn sich Medien (oder Institutionen) zu stark vom Traffic, den Facebook herbeispült, abhängig machen. Das Experiment findet in sechs Staaten auf drei Kontinenten zwischen Bolivien, dem EU-Mitgliedsstaat Slowakei und Sri Lanka statt, die Facebook vermutlich nach ihrer Diversität und Kleinheit ausgewählt hat. Wenn es dort zu Einnahmeeinbrüchen kommen sollte, würde ein globaler Datenkrake das nicht einmal in seiner Portokasse spüren (die Internetkonzerne vermutlich ohnehin nicht führen). Vermutlich kommt es aber zu Einnahmesprüngchen.

Denn in den "sechs Ländern hat Facebook journalistische Beiträge aus den News Feeds seiner Nutzer verbannt" (Fridtjof Küchemann, FAZ), wobei es behauptet, nur Wünschen der Nutzer (die "lieber gleich die Beiträge ihrer eigenen Freunde und Familie sehen würden", Standard) zu folgen. Die Folge (wired.de):

"Von Nachrichtenmagazinen über Profilseiten von Musikern bis hin zu den Facebook-Pages von Fußballmannschaften könnten alle Seitenbetreiber im Sozialen Netzwerk gezwungen sein, für das Erscheinen im regulären Newsfeed zu bezahlen, um auch weiterhin von Nutzern gesehen zu werden".

Dass Unternehmen aller Art möglichst Monopole aufbauen, um ihre Kunden (die sie zunächst nicht unbedingt so nennen) abkassieren zu können, sobald ihre Angebote schwer verzichtbar sind, ist ein alter Hut und funktioniert in den meisten alten Branchen auch gar nicht, weil da Wettbewerbshüter und Kartellbehörden scharf aufpassen. Bloß im Internet, in dem alle Mediengattungen zusammenwachsen, könnte so etwas in vielen Bereichen kommen, weil da einerseits die alten Wettbewerbshüter und Kartellbehörden kaum funktionieren und andererseites viele Akteure – vor Einnahmerückgängen panische Verlage, aber auch beitragssatte öffentlich-rechtliche Medienanstalten – denken, sie müssten alles auf allen Plattformen ausspielen. Das ist ein wachsendes Problem.


Altpapierkorb (Fußballspielrechte-Kosten, das oder die Maß, Medienkompetenz!)

+++ Die Medien-Zahl des Tages kommt vom epd (Tweet) und gilt dem heißen Eisen Fußballspiel-Fernsehrechte-Kosten: "Bis zu 122 Mio Euro für zwei Spielzeiten" sollen ARD und ZDF für zwei Spielzeiten der von der UEFA ersonnenen "Nations League" zahlen. Gestern ging es hier unter dem Stichwort "programmstrategische Bedeutung der Nationalmannschaft", das der WDR-Rundfunkratschef Andreas Meyer-Lauber schöpfte, darum. +++

+++ Zurück nach München. Wenn sich alles trifft, was Rang und Namen hat in der Medienszene, wo war denn dann die Medienpolitik? Bayerns Medienministerin Ilse Aigner kommt im oben erwähnten meedia.de-Artikel vor. Sie habe sich "mit Blick auf die Öffentlich-Rechtlichen in gebotener Schwammigkeit" geäußert und "eine 'maßvolle' Beitragserhöhung in Aussicht" gestellt. Um welches oder welche Maß es geht, wird sich zeigen. +++ Der oben erwähnte Tsp.-Artikel zitiert von ihr frische Idee, "die Medienkompetenz der Nutzer zu fördern", die in diesem Medienkompetenzportal natürlich repräsentiert sein muss. +++

+++ Angewandte Medienkompetenz bei epd medien: "Wenn ein Inhalt nicht das Medium wechselt, sondern 'nur' das Dispositiv, also die Rahmenbedingungen der Rezeption, verändert er sich trotzdem. Ein Kinofilm wird für die Fernsehausstrahlung neu gemischt, weil die Umgebungsgeräusche im Wohnzimmer lauter sind als im Kinosaal. Wird eine Fernsehserie für einen Streamingdienst konzipiert, müssen ihre Folgen nicht mehr alle gleich lang sein. ..." Dann geht es Alexander Matzkeit aber um den Deutschlandfunk-Podcast "Der Tag". +++

+++ Abstruse, unsägliche und rassistische Haltungen durch negierte Kausalzusammenhänge in Überschriften über Online-Artikeln widerlegen zu wollen, ist keine gute Idee, hat focus.de eindrücklich und hoffentlich nachhaltig bewiesen (meedia.de). +++

+++ Thema Google: Wiederum in München setzten auch Google-Vertreter übliche Lamentos ab und forderten "mehr Freiräume für digitale Medien" (digitalfernsehen.de/dpa). +++ Googles "Pixel 2 XL" ist ein irre tolles Gerät, vielleicht sogar das beste der "Besten der Besten der Besten!" (Bzw. lässt auch zeit.de jegliche Distanz fahren, wenn neue sog. Smartphones locken). +++ Kritik an Google kommt, wenn dann von Evgeny Morozov ("'Google Urbanism' soll unsere Städte bequemer, nachhaltiger machen. In Wahrheit dient das Projekt den Spekulanten und der Privatisierung des öffentlichen Raums", SZ-Feuilleton). +++

+++ Wie der Werbevermarkter Ströer, u.a. Besitzer von T-Online, nun "auch journalistischen Angeboten Konkurrenz" macht, die ja ebenfalls von Werbung leben wollen, beleuchtet Deutschlandfunks "@mediasres". +++

+++ In der Schweiz gibt es ein Jahrbuch "Qualität der Medien" (Neue Zürcher). +++

+++ Ferner verdient Respekt, wie pfiffig die SZ-Medienseite ihre selbstgestellte Aufgabe erfüllt, auf was auf Netflix gespannt zu machen (Haupt-Online-Überschrift: "Sean Penn fürchtet um sein Leben - wegen einer Doku"), auch wenn es "unfassbar öde und unfassbar selbstverliebt" ist. +++

+++ "Das Etikett ist normalerweise zweifelhaft, aber die Geschichten zeigen tatsächlich Frauen, die großen Mut beweisen" (Kathleen Hildebrand auf der SZ-Medienseite über Antonia Rados' RTL-"Nachtjournal"-Reihe namens "Starke Frauen"). +++

+++ Und Michael Hanfeld würdigt auf der FAZ-Medienseite (noch nicht frei online) zur Jubiläumssendung heute Abend 50 Jahre "Aktenzeichen XY": "Heute erscheint das in jeder Hinsicht unspektakulär, in den siebziger Jahren, bis in die Achtziger hinein, war die Sendung jedoch hochumstritten. Sie wurde aus ideologischen Gründen angegriffen und war den Linken ein Dorn im Auge, besonders wenn sie sich in die Terrorfahndung einschaltete und hinter Mitgliedern der RAF her war. Dass die spätere Terroristin Ulrike Meinhof, als sie noch als Journalistin arbeitete, die Sendung in dem Magazin 'Konkret' als vermeintlich faschistische Jagd auf Menschen brandmarkte, ist eine im Nachhinein besonders bittere Pointe." +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.