Das Altpapier am 8. Dezember 2017 Die ARD bleibt mutlos

Ist es ein "beachtlicher Schritt", wenn der WDR ankündigt, im Netz seinen Textanteil zu reduzieren? Oder doch eher eine journalistische Bankrotterklärung? Darf man darauf hoffen, dass in den Hauptprogrammen der Öffentlich-Rechtlichen künftig ab und zu ein 90-minütiger Dokumentarfilm um 20.15 Uhr läuft? Außerdem: Der gebloggte Wunsch nach einem "kleinen Holocaust" ist nicht strafbar. Ein Altpapier von René Martens.

ZDF-Intendant Thomas Bellut hat im gestern hier bereits analysierten Interview mit der Zeit ein bisschen Selbstkritik geübt:

"Wir haben uns in den Textbeiträgen auf unserer Internetseite zurückgenommen, was sich nicht immer positiv auf unseren Erfolg auswirkt."

Möglicherweise ist das Interview ein bisschen zu spät erschienen, um Tom Buhrow, seinen Intendantenkollegen vom WDR, noch eines Anderen zu belehren. Der meinte nämlich am Donnerstag mitteilen zu müssen, "auf der Startseite" von wdr.de würden künftig "die wesentlichen nachrichtlichen Fakten textlich nur noch knapp zusammengefasst".

Buhrows knackige Statements in diesem Zusammenhang lauten:

"Wir setzen online deutlich stärker auf unseren Kernauftrag."

Und:

"Ich will keine Energie in überflüssige Rechtsstreitigkeiten stecken, sondern ein starkes Neben- und Miteinander von Sendern und Zeitungen fördern."

Daniel Bouhs schreibt dazu in der taz:

"Damit zieht sich ein immer deutlicherer Riss durch die Öffentlich-Rechtlichen – zwischen Textanhängern und Textvermeidern",

Er zitiert in diesem Zusammenhang verschiedene über Twitter verbreitete Reaktionen, unter anderem eine von SWR-Redakteur Stephan Ebmeyer:

"Text funktioniert immer noch am besten. Vor allem mobil."

Das gilt zum Beispiel dann, wenn das W-Lan schlecht ist, es gar kein W-Lan gibt oder man keine Videos oder Audiobeiträge abspielen mag, weil man keinen Kopfhörer zur Hand hat.

Zu verkünden, sich in seiner eigenen journalistischen Arbeit formal zu beschneiden - zumal in einem Medium, in dem es theoretisch keine Längenbeschränkungen gibt -, kommt einer Bankrotterklärung gleich. Oder ist alles halb so wild, weil das Diktum des Kernauftragskenners Buhrow ja bloß "auf der Startseite" Anwendung finden soll? Der Eindruck, dass Buhrow der mit seinem Job am meisten überforderte ARD-Intendant ist, verstärkt sich jedenfalls mal wieder.

Die FAZ sieht’s übrigens so:

"In einem Streit, in dem die Fronten verhärtet schienen, erscheint die Initiative des WDR (…) als beachtlicher Schritt."

Für Feinschmecker: Autor des Beitrags ist nicht Michael Hanfeld, sondern Axel Weidemann.

Ein Verteilungskampf um sieben Minuten

Eine gute Ergänzung zur Diskussion über die WDR-Entscheidung: ein längerer Beitrag von Volker Lilienthal für Causa, das Debattenportal des Tagesspiegels. Er war bereits fertig, bevor Buhrows Beschneidungsdiktum publik wurde, aber der Kontext, in dem die Ankündigung zu betrachten ist - Presseähnlichkeit unter rechtlichen wie nicht-rechtlichen Gesichtspunkten - kommt ausführlich zur Sprache. Lilienthal geht unter anderem ein auf die aktuelle, im Oktober (siehe Altpapier) veröffentlichte ARD-ZDF-Online-Studie. Demnach entfallen

"von den 45 Minuten, die die Deutschen täglich für internetbasierte Mediennutzung aufwenden, (…) nur sieben Minuten auf das Lesen von Artikeln (…) Der Verteilungskampf dreht sich also im Grunde nur um diese sieben Minuten."

Dass sich der ideologische Furor der Verleger mit Statistiken eindämmen lässt, glaube ich allerdings nicht. Zwar im Prinzip bekannt, aber immer wieder wert, erwähnt zu werden:

"Moderne Online-Angebote der Presse sind längst nicht mehr nur digitalisierte Zeitungen, sondern sie werden mehr und mehr angereichert mit Audio- und auch Bewegtbild-Elementen. Sprich: Auch Verleger machen im Netz Rundfunk – und stellen insofern eine Konkurrenz für das Kerngeschäft von ARD und ZDF dar. Die ungleichen Wettbewerber also vergeben sich nichts. Beispielsweise wird der neue Nachrichten-Podcast von Zeit Online täglich von bis zu 100.000 Interessenten abgerufen. Ein großer Erfolg. Braucht man da noch den öffentlich-rechtlichen Hörfunk?"

Warum "Bimbes" erst um 22.45 Uhr?

Innerhalb von 48 Stunden wurde in dieser Woche in Berlin gleich zweimal über die Lage des Dokumentarfilms und der Dokumentarfilmer debattiert. Über die erste Veranstaltung, die von der AG Dok organisierte Diskussion "Mut zur Wirklichkeit - Die Rolle des dokumentarischen Fernsehens für das Gelingen von Gesellschaft" - prominentester Podiumsteilnehmer: Günter Wallraff - schreibt Altpapier-Autor Christian Bartels in seiner Medienkolumne für evangelisch.de. Es sei "höchste Zeit", dass ARD und ZDF "ab und zu um 20.15 Uhr im Ersten oder Zweiten einen 90-minütigen Dokumentarfilm ausstrahlen", meint er.

Diese Forderung wurde auch auf der am Mittwoch bei vom Grimme-Institut organisierten Veranstaltung "Die Bedeutung des Dokumentarischen" in der Deutschen Kinemathek (Mitschnitt bei wwwagner.tv) laut. "'Bimbes' nach der 'Tagesschau'?", lautet heute dazu die entsprechende Headline im Tagesspiegel. Die Moderatorin Klaudia Wick hatte den ARD-Chefredakteur Rainald Becker gefragt, ob man "Bimbes", den Dokumentarfilm über Helmut Kohls Gaunereien (siehe Altpapier von Montag) statt um 22.45 Uhr nicht auch um 20.15 Uhr hätte zeigen können. Ja, hätte man, meinte Becker.

Ansonsten herrschte großer Dissens: Becker sagte, es werde pro Jahr bei "14 bis 16" langen Dokumentarfilmen im Ersten bleiben (laut anderen Zählungen sind es zwölf), anwesende Dokumentarfilmer forderten dagegen einen pro Woche. Allzu ausgeprägt ist der "Mut zur Wirklichkeit" bei der ARD dann halt doch nicht.

Über die Diskussion berichten außerdem "@medias res" und - am ausführlichsten - das Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms. Geschrieben hat den Text dessen "ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender" Manfred Hattendorf, der hauptamtlich die Abteilung Film und Planung beim SWR leitet. Ein Eigenlob kann er sich nicht verkneifen:

"Auch wenn es bei der Veranstaltung in Berlin mangels SWR-Beteiligung niemand auf dem Podium sagte: Ohne den SWR gäbe es den Sendeplatz des Langen Dokumentarfilms schon lange nicht mehr. Denn der SWR ist der größte Produzent von Dokumentarfilmen im Ersten."

Hübsch übrigens, dass Hattendorf offenbar unabsichtlich den von dem Produzenten Thomas Kufus während der Veranstaltung performten Versprecher "Peter Gauland" für die Nachwelt konserviert hat (zumindest in der um 10 Uhr abrufbaren Version). Jetzt muss aber bald auch irgendjemand mal "Alexander Gauweiler" sagen.

Sonnengrußfreudige Medienanstaltsmenschen

Die Landesmedienanstalten-Woche im Altpapier (siehe die Kolumnen von Dienstag, Mittwoch und Donnerstag), die wir einem sozialdemokratischen Schlawiner verdanken, geht heute zuende mit der Empfehlung, sich einem epd-medien-Longread zuzuwenden. Ausgangspunkt des Textes von Jürgen Betz, der bis Januar dieses Jahres Justiziar beim HR war, ist die Beobachtung, dass im Zuge der Debatten über die Höhe und die Verwendung des Rundfunkbeitrags bestenfalls selten die Strukturen der Landesmedienanstalten zur Sprache kommen, obwohl 1,8989 Prozent aus dem Rundfunkbeitragsaufkommen an diese Aufsichtsbehörden fließen. Betz schreibt:

"Bislang haben sich die Länder nicht ernsthaft mit der Struktur, den sich verändernden Aufgaben und deren Erfüllung durch die Landesmedienanstalten sowie deren Finanzierung befasst. Nach wiederholten Aufforderungen und Monita bezüglich der pauschalen und nicht auf konkreten Finanzbedarfsanmeldungen und -überprüfungen beruhenden Finanzierung der Landesmedienanstalten in mehreren KEF-Berichten hatte die KEF im September 2016 in ihrem Thesenpapier 'Überlegungen zur Modernisierung des KEF-Verfahrens der AG Auftrag und Strukturoptimierung der Rundfunkanstalten der Länder' ausgeführt: 'Nur ca. ein Drittel davon (gemeint ist das auf 605 Millionen Euro geschätzte Beitragsaufkommen der Medienanstalten aus dem Zwei-Prozent-Anteil in der Zeit von 2013 bis 2016) wird für Kernaufgaben (Zulassung und Aufsicht) eingesetzt'".

Der Rest zum Beispiel für die Organisation von Veranstaltungen wie "Kreativer Sonnengruß - wie kreative Leistungen den Unternehmenserfolg sichern", wie Betz genüsslich schildert. Außerdem kritisiert er, dass die in Richtung Medienanstalten

"fließenden Mittel automatisch (stiegen und steigen), wenn die früheren Rundfunkgebühren und heutigen Rundfunkbeiträge steigen, obwohl weder zuvor eine Finanzbedarfsanmeldung der Medienanstalten erfolgte, geschweige denn eine Finanzbedarfsüberprüfung und -ermittlung, wie dies beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit ist".

Der Text steht derzeit nicht frei online, im Netz ist allerdings eine andere - vor allem aufgrund von Tabellen noch längere - Version verfügbar, sie ist in der Ausgabe 7-8/17 der ARD-Zeitschrift Media Perspektiven (Co-Autorin Isabelle Fried) erschienen.

Eine weitere Longread-Empfehlung fürs Wochenende: ein 8.000-Wörter-Text über "Weinstein’s complicity machine". Die New York Times beschreibt, wie sich Harvey Weinstein ein System aus Vertuschern und De-facto-Mittätern errichtete:

"Mr. Weinstein’s final, failed round of manipulations shows how he operated for more than three decades: by trying to turn others into instruments or shields for his behavior, according to nearly 200 interviews, internal company records and previously undisclosed emails. Some aided his actions without realizing what he was doing. Many knew something or detected hints, though few understood the scale of his sexual misconduct. Almost everyone had incentives to look the other way or reasons to stay silent. Now, even as the tally of Mr. Weinstein’s alleged misdeeds is still emerging, so is a debate about collective failure and the apportioning of blame."

Besonders bizarr: Zu den Verbündeten Weinsteins gehörte auch das Trashblatt The National Enquirer.

Altpapierkorb (La Repubblica, Telegram, Mosul Eye, Class of 2018, "Kleiner Holocaust", Hajo Seppelt, "CSI")

+++ Die "Anatomie" einer bereits im Altpapier aufgegriffenen "Kampagne" dubioser Schweizer Journalisten bzw. einen "breiten antiintellektuellen Feldzug" gegen diverse Herausgeber des herausragenden Blogs Geschichte der Gegenwart und insbesondere die Genderforscherin Franziska Schutzbach beschreibt die WoZ in ihrer aktuellen Ausgabe.

+++ Für die SZ berichtet Oliver Meiler über einen rechtsextremen Angriff auf das Redaktionshaus der italienischen Tageszeitung La Repubblica: "Dreizehn Mitglieder der kleinen, neofaschistischen Partei Forza Nuova traten mit Rauchpetarden und Brandfackeln auf (…) Sie wedelten damit, dann warfen sie zwei Fackeln gegen die Fassade, was durchaus hätte gefährlich sein können, doch passiert ist nichts. Ihre Gesichter hatten die Eindringlinge mit weißen Masken verdeckt. Auf einem Transparent riefen sie zum Boykott der Zeitung und des Nachrichtenmagazins L' Espresso auf, das zu derselben Verlagsgruppe gehört (…) Kaum war die Aktion vorüber, erschien auf Facebook ein Post, in dem es hieß, das sei nur der erste 'Kriegsakt' gewesen." Für Altpapier-Leser, die des Italienischen mächtig sind: Dies schreibt La Repubblica selbst über den Vorfall. Die Befürchtung, dass Ähnliches bald in Deutschland passieren könnte, ist wohl nicht von der Hand zu weisen. 

+++ Hauptthema auf der SZ-Medienseite: Julian Hans, der Moskau-Korrespondent der Zeitung, berichtet darüber, wie die über den Messenger-Dienst Telegram verbreiteten Politik-Kanäle Nesygar und Metoditschka zu "einflussreichen politischen Nachrichtenquellen" in Russland wurden.

+++ Auf der SZ-Meinungsseite wiederum porträtiert Moritz Baumstieger den irakischen Historiker und Blogger Omar Mohammed: "Die vergangenen Jahre versteckte sich der 31-Jährige (…) hinter dem Pseudonym Mosul Eye. Mohammed war während der Herrschaft des IS zeitweise die einzige Quelle, die aus der nordirakischen Stadt Mossul berichtete - auf seinem Blog, auf Facebook und Twitter. Hunderttausende lasen, was Mohammed hinter heruntergelassenen Jalousien unter Lebensgefahr tippte. Für Medien weltweit - auch die Süddeutsche Zeitung - war er ein Ansprechpartner, der manchmal über Chatprogramme Interviews gab." Die AP News stellen Mohammed ebenfalls vor.

+++ Über das von der Hamburger Polizei gegenüber Medienhäusern vorgebrachte Ansinnen, bisher nicht veröffentlichtes Bildmaterial in Sachen G20 zur Verfügung gestellt zu bekommen (siehe Altpapier), schreibt Katharina Schipkowski in der taz: "Bleibt die Frage, was das Ganze soll. Die Soko 'Schwarzer Block' sitzt seit Monaten vor einem riesigen Berg Daten. 165 Mitarbeiter*innen beackern über 30.000 Bild- und Videodateien. Woher also dieser Trieb, immer mehr Material akquirieren zu wollen? (…) Auch die taz hatte übrigens beim G20-Gipfel Videoteams im Einsatz. Bei denen ist die Polizei aber noch nicht vorstellig geworden. Das kann sie sich auch gleich sparen."

+++ Was widerfährt einem christdemokratischen Blogger aus Limburg, der sich im Zuge des G20 einen "kleinen Holocaust" für den von ihm als "Krebsgeschwür" titulierten Schwarzen Block wünscht? Rechtlich nüscht. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt kann keine Straftat erkennen. Frank van Bebber von der "Hessenschau" des HR berichtet.

+++ Der ORF-Moderator Armin Wolf hat es in die "Class of 2018" bzw. unter die "28 people who are shaping, shaking and stirring Europe" geschafft. Gemeint ist eine Liste, die der europäische, zu 50 Prozent Springer gehörende Ableger des Online-Magazins Politico zusammengestellt hat und die Der Standard zusammenfasst. Wolf, der im Ranking auf Platz elf landete, sei "einer der bestvorbereiteten (und gefürchteten) politischen Journalisten Europas". Zum Top-Shaker haben die Politico-Leute übrigens Christian Lindner gekürt.

+++ Anlässlich des noch bis Samstag andauernden SPD-Bundesparteitags fordert Hendrik Zörner im Blog des DJV, dass sich die Partei damit befasst, "was in ihrem Wirtschaftsbereich los ist", also damit, dass die Verlage, an der die ddvg - der Medienholding der Partei - beteiligt sind, "auf die eine oder andere Weise die in der Zeitungsbranche geltenden Tarifverträge für Journalisten und Verlagsangestellte umgehen".

 +++ Wie "suspected Russian hoaxers" versuchten, den WDR-Investigativjournalisten Hajo Seppelt hereinzulegen, rekapituliert der Guardian.

+++ Können sich "potenzielle Verbrecher" bei den verschiedenen Ablegern der Serie "CSI" abschauen, "wie sie eine Tat am besten vertuschen" können? Nein, meldet der Informationsdienst Wissenschaft: "Psychologen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) um Prof. Dr. Heiko Hecht geben (...) Entwarnung: Sie zeigen in einer experimentellen Untersuchung, dass zwischen dem Anschauen von forensischen Serien und den Fähigkeiten, ein Verbrechen zu begehen, kein Zusammenhang besteht."

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.