Das Erbe der Kombinate Der erste Streik im Osten

10. Juni 2011, 14:36 Uhr

Im ehemaligen VEB Kombinat Fernmeldewerk Leipzig fand 1993 der erste Streik im Osten statt. Aber keiner wusste, wie man streikt ...

Melscherstraße, Leipzig-Stötteritz, am 3. Mai 1993: Streikposten beziehen Stellung vor dem Tor der Siemens Kommunikationstechnik GmbH, ehemals "VEB Kombinat Fernmeldewerk Leipzig". 1991 war das Kombinat mit Filialen in der gesamten DDR aufgelöst und der Leipziger Stammbetrieb vom Münchner Weltkonzern Siemens übernommen worden. 500 Beschäftigte stellten jetzt Leiterplatten und Bauteile für Telefonanlagen her. Es ist der größte noch verbliebene Industriebetrieb in Stötteritz – und es ist der erste ostdeutsche Betrieb, in dem Metaller nach der Wiedervereinigung streiken. Es geht um die längst fällige Lohnerhöhung.

Die war im Tarifvertrag von 1991 versprochen worden. Demnach sollten die Löhne schrittweise an das Westniveau angeglichen werden. Doch 1993 beruft sich die Arbeitgeberseite auf eine Revisionsklausel, die ihr gestattet, abhängig von der wirtschaftlichen Situation den Tarifvertrag zu umgehen. Statt der fälligen 26 Prozent Erhöhung sind deshalb bis zum Mai 1993 gerade einmal neun geflossen.

Gewerkschaften mit schwerem Stand

Die Streikposten der IG Metall verschließen das Werktor mit einer Stahlkette, ein Kipper kommt und schüttet einen Haufen Sand vor die Zufahrt. Die Geschäftsleitung will mit etwa 40 "arbeitswilligen" Kollegen durch das Tor – die Streikenden verwehren den Zutritt, sind sauer auf die Streikbrecher. In diesen Tagen geht der Riss mitten durch die Belegschaft – und auch die Streikenden selbst sind verunsichert.

Seit 65 Jahren war in Ostdeutschland nicht mehr gestreikt worden. Gewerkschaften sind im Osten im Verruf, sie waren der verlängerte Arm des Staates. Nun kommen die Profi-Gewerkschafter aus dem Westen und machen den Ostlern Mut: "Ihr habt einen ganzen Staat in die Knie gezwungen, nun könnt Ihr doch auch für Eure Löhne Euch stark machen", ermuntern sie die zögerliche Belegschaft und schwäbeln dabei. Der Arbeitgeber lassen in der Melcherstraße großformatig plakatieren: "Wer jetzt streikt, streikt gegen sich selbst" – Rhetorik wie zu DDR-Zeiten. Aber sie wirkt, zumindest als Verunsicherung.

Die Schere zwischen Oben und Unten

Siemens ist damals der zweitgrößte Konzern Deutschlands, mehr als 400.000 Mitarbeiter, 18.000 davon im Osten, Jahresgewinn 2 Milliarden Mark. Für 15 Millionen hat der Konzern das Fernmeldewerk in Leipzig erworben, von den ehemals 4000 Beschäftigten arbeiten noch 500, und das zu Löhnen auf einem Niveau von 48 Prozent ihrer Westkollegen. Die Siemens-Vorstände hatten sich 1992 elf Prozent Zulagen genehmigt – und sie waren nicht die einzigen. Bundestag, Landtage, Stadtverordnete – alle griffen kräftig in die Schatullen, Diätenerhöhungen bei gleichzeitigem Sparsamkeitsgerede sorgten für Unmut.

Die Stimmung war reif für einen Streik in einem Land, wo seit der Vereinigung alle vom Teilen redeten, aber immer nur die Geldbörsen der anderen meinten. Insbesondere die ostdeutschen Arbeiter fühlten sich über den Tisch gezogen: Bei Siemens in Leipzig verdienten sie im Schnitt 1000 Mark weniger als ihre Westkollegen, zeitgleich aber explodierten die Lebenshaltungskosten.

Der wirtschaftliche Rahmen

Laut "Spiegel" lagen im Frühjahr 1990 die Ostlöhne noch knapp über den polnischen Tarifen. Mit der Währungsunion war bereits das Niveau von Griechenland erreicht. Mitte 1993 würden die ostdeutschen Löhne mit denen der USA gleichziehen. Ende des gleichen Jahres wird die Arbeitsstunde in Leipzig und Schwerin teurer als in Japan sein. Jeder Sanierer, so der "Spiegel" damals, sei da zum Scheitern verurteilt, weil der Lohnauftrieb die Erfolge möglicher Rationalisierung auffressen würde.

Leeres Versprechen in Leipzig

In der Melcherstraße werden Zelte aufgeschlagen, Streikposten bewachen das Gelände, die Geschäftsführung wird beschimpft, die Gewerkschaft verklagt. Die Situation verhärtet sich. Endlich kommt es zu einem Gütetermin. Ministerpräsident Biedenkopf vermittelt – ein neuer Stufenplan soll ab dem 1. Juni 1993 gelten. Er sieht vor, dass erst ab 1996 gleicher Lohn in Ost und West zu zahlen sei – wie wir heute wissen, war auch das ein zu optimistisches Versprechen.