Sommer der Ausreise Die Botschaft von Prag (1/4): Die Vorgeschichte bis zum August 1989

29. November 2021, 14:19 Uhr

Eigentlich sollte die deutsche Botschaft in Prag der Beziehungspflege zwischen BRD und Tschechoslowakei dienen. 1989 aber begann hier ein Kapitel deutsch-deutscher Geschichte.

Angefangen hatte alles schon Mitte der 80er-Jahre. "Im Dezember 1984", berichtet der ehemalige Botschafter Hermann Huber, "gab es einmal eine große Flüchtlingswelle mit insgesamt 340 Flüchtlingen, wobei die höchste Zahl der gleichzeitig Anwesenden etwa 160 betrug."

Helmut Ziebart, der Botschafter der DDR in Prag, erinnert sich an ein besonders prekäres Detail: "Zu den ersten Botschaftsflüchtlingen gehörte eine Nichte des damaligen Ministerpräsidenten der DDR, Willy Stoph." Auf sie konzentrierte sich schnell das Interesse der Medien und damit auch auf die Politik generell. Damals verständigten sich Ost und West auf ein für beide Seiten akzeptables Verfahren, sagt Ziebart: "Die Ausreise wurde den betreffenden Personen gewährt, aber nicht direkt aus Prag, sondern, indem sie in die DDR zurückfuhren, dort Ausreiseanträge stellten und dann ausreisen konnten." Im Sommer 1989 sollte sich dieses Verfahren ändern – einige Besetzer weigerten sich, in die DDR zurückzukehren.

Die Ausreisewelle schaukelt sich hoch

Zum Stichtag 30. Juni 1989 warteten 125.000 Personen auf die, wie es offiziell hieß, "Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR". Die geheimen Dienstanweisungen des Ministeriums für Staatssicherheit legten Strafmaßnahmen fest. So mussten Antragsteller mit willkürlichen Vorladungen, Stasi-Verhören und Berufsverboten rechnen. Auf die einen wirkten diese Demütigungen abschreckend, andere fühlten sich bestärkt und suchten andere Wegen, um die DDR zu verlassen. Ihre Flucht sollte über die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik in Osteuropa führen.

"Obhutspflicht" des Westens und im Osten "Straftatbestand Kontaktaufnahme"

Den rechtlichen Rahmen für das Handeln der Botschaften gab die aus dem Grundgesetz abgeleitete Obhutspflicht der Bundesrepublik für alle Deutschen. Botschafter Huber erklärt dazu: "Wir haben die Bürger der DDR immer als deutsche Staatsangehörige betrachtet. Das hat sich natürlich dann ausgezahlt. Denn wir konnten uns gegenüber der tschechoslowakischen Regierung immer darauf berufen, dass es sich hier um deutsche Staatsangehörige handele, für die wir das Gastrecht übernähmen und denen wir das Gastrecht gewährten".

Aus Sorge um das internationale Renommee der DDR sah sich die SED-Führung gezwungen, die sogenannten "Festsetzer" verhältnismäßig freundlich zu behandeln. Ihnen wurde Straffreiheit zugesichert, wie Hans Schindler bestätigt.

Üblicherweise verhandelte der Rechtsanwalt Professor Wolfgang Vogel, Honeckers Unterhändler in humanitären Fragen, mit den Besetzern. Nach Zusicherung der Straffreiheit und "wohlwollenden Prüfung" ihrer Ausreisegesuche verließen die meisten der Besetzer die Botschaften in Prag, Warschau, Budapest und die "Ständige Vertretung" in Ostberlin.

In der DDR gab es ja es ein Gesetz, wonach Bürger nur mit Zustimmung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten in die Botschaft eines anderen Staates gehen durften, es sei denn, es handelte sich um reine Visa-Fragen oder ähnliches. Und gegen dieses Gesetz hatten die Bürger natürlich verstoßen, deshalb Straffreiheit und Zusicherung, dass ihnen keine Nachteile daraus entstehen."

Hans Schindler, 1989 stellvertretender Leiter der Abteilung BRD im DDR-Außenministerium

Devisen für Menschenrechte?

Für jeden Flüchtling, der seine Ausreise über die Botschaft erzwang, zahlte die Bundesrepublik 10.000 D-Mark auf ein geheimes Devisenkonto der DDR. Von 1984 bis zum Sommer 1989 kamen so mehr als 2.000 Menschen in die BRD. Fünf Jahre lang gehörte dieser Umgang mit Botschaftsflüchtlingen zum politischen Tagesgeschäft in den deutsch-deutschen Beziehungen.

Zuspitzung der Lage - Die neue Qualität der Besetzungen 1989

Anders als bei den Besetzungen der Vorjahre weigerten sich im Sommer 1989 einige der Botschaftsbesetzer, noch einmal in die DDR zurückzukehren, um von dort aus per Ausreiseantrag ihre Übersiedlung in die Bundesrepublik zu betreiben. Hermann Huber erinnert sich an die Motivation der verzweifelt Entschlossenen:

Das waren Leute, die unter keinen Umständen wieder zurück in die DDR wollten, auch nicht gegen noch so schöne Zusagen. Sondern das waren Leute, die mir erklärten, sie müssten mir leider, wie sie so schön sagten, auf die Nerven gehen, aber man bringe sie hier nicht mehr raus, es sei denn direkt nach Westdeutschland.

Hermann Huber

Tabu-Thema der DDR-Medien: "Ausreise"

Für die offiziellen DDR-Medien war das Thema "Ausreise" tabu, weil es nicht in das Bild passte, das die SED-Führung von ihrem Staat in der Welt zu zeichnen bemüht war. Am 3. August 1989 meldete die "Tagesschau" 130 Besetzer in Budapest, 80 in Ostberlin und 20 in Prag. Die SED-Spitze geriet weiter unter Druck und musste handeln. Zunächst schränkte sie das Mandat von Rechtsanwalt Vogel ein. Fortan konnte er nur noch Straffreiheit, nicht mehr eine "wohlwollende Prüfung" der Ausreiseersuchen zusichern. Nach dieser Mandatseinschränkung am 8. August berichtete erstmalig die "Aktuelle Kamera" über die Besetzungen. Am Stil der Meldungen wurde deutlich, wie sehr sich die Situation zugespitzt hatte: "Seit einigen Tagen führen bundesdeutsche Medien eine lautstarke Kampagne um einige DDR-Bürger, denen in der BRD-Botschaft in Budapest widerrechtlich Aufenthalt gewährt wird und die auf illegalen Wegen in die BRD gelangen wollen. Wie heute der stellvertretende Sprecher des Außenministeriums der DDR, Dr. Denis Ruh, in Berlin erklärte, stellt ein solches Verhalten von ausländischen Vertretungen der BRD eine grobe Einmischung in souveräne Angelegenheiten der DDR dar. Die Wahrnehmung sogenannter Obhutspflichten gegenüber Bürgern anderer Staaten durch die BRD ist eine typische großdeutsche Anmaßung, die aufs Schärfste zurückgewiesen werden muss", betonte der Sprecher.