Hungerstreik hinter Gittern Das "Gelbe Elend" im Herbst 1989

08. Dezember 2009, 08:54 Uhr

Gelb ist die Farbe der Backsteinbauten, und elend ging es denen, die dort hinter Mauern saßen. Der Herbst 1989 brachte auch den politischen Gefangenen die unerwartete Freiheit.

Lkw voller Gefangener, im Laufschritt in die Haftanstalt, Androhung von Stockhieben, Knüppelspalier. Zwischen dem 6. und 9. Oktober 1989 wurde das "Gelbe Elend" in Bautzen noch einmal ein Schreckensort für Menschen, die sich in Dresden und anderen Städten Sachsens an Demonstrationen beteiligt hatten. Für 800 Festgenommene wurde die Haftanstalt "Bautzen I" der "Zuführungspunkt".

Nach der friedlichen Demonstration am 9. Oktober in Leipzig, nach den Mahnwachen und mit Beginn des sogenannten Dialogs wurde auch die bis dahin tabuisierte Haftanstalt "Bautzen II" mit ihren politischen Gefangenen ein öffentliches Thema. Es gab Erlebnisberichte "Zugeführter", Artikel über Festnahmen und Misshandlungen, Ende Oktober sogar ein Bürgerforum mit dem Anstaltsleiter, später dann Demonstrationen, die bis an das Gefängnistor führten. Eine erste Amnestie des Staatsrates am 27. Oktober galt den Anfang Oktober '89 Verhafteten und den "Republikflüchtigen" – dieser Erlass betraf auch Inhaftierte in "Bautzen II": 23 Insassen mussten auf Grund dieses Beschlusses entlassen werden.

Bewegung auch in "Bautzen II"

Sorgte die Amnestie in der Öffentlichkeit für eine gewisse Beruhigung, so schürte sie doch unter den Häftlingen Unmut, gerade unter den etwa 120 in "Bautzen II" isolierten. Denn diejenigen, die beispielsweise für "Republikflucht" in Tateinheit mit "illegalem Devisenhandel" in Haft saßen, sollten nicht freikommen. Sie galten nicht als "Politische".

Die Anstaltsleitung war mit Verstößen gegen die Haftordnung konfrontiert, Arreststrafen wurden verhängt, ein Gefangener trat Ende November in den Hungerstreik. Unerhörtes passierte hinter den Mauern - unbemerkt von der Öffentlichkeit. So stellte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) mit Beginn der Demonstrationen in Bautzen seine Tätigkeit ein und konzentrierte sich auf das Vernichten von Akten. Im Kesselhaus des Gefängnisses wurden Papiere verbrannt.

Druck von außen und von innen

Am 30. November riefen die Häftlinge von "Bautzen I" vor laufenden Fernsehkameras zu einem unbefristeten Arbeits- und Hungerstreik auf, alle anderen Strafvollzugseinrichtungen der DDR schlossen sich an. Am 3. Dezember wurde DDR-weit eine Menschenkette gebildet – in Bautzen riefen die Pfarrer dazu auf, auch die Gefängnisse einzubeziehen. Hunderte Menschen versammelten sich vor den Toren von "Bautzen II". Pfarrer Erhard Simmgen erinnert sich:

Ich muss sagen, ich war überwältigt: Es waren alte Leute mit Krückstock weit unten aus den Vororten da und hatten den Weg hier hoch gemacht. Ich weiß nicht mehr, wie viele das waren, aber eine ganze Menge, auch eine ganze Menge Jugend. Es wurde dann auch gesungen: 'Stasi in den Tagebau!' usw. - die üblichen Sachen. (…) Einige der jungen Leute versuchten dann, an der Fassade hochzuklettern, das haben die dann auch gemacht. Sie haben bis in die obersten Etagen Kerzen in die Fenster gestellt …

Pfarrer Erhard Simmgen

Pfarrer Simmgen bat um Einlass und wollte Kontakt zu den Gefangenen aufnehmen. Er wurde zwar in den Besuchsraum gelassen, konnte aber keinen Gefangenen sprechen. Und doch sprach sich sein Besuch herum. Unter dem Eindruck der Demonstration verweigerten am 4. Dezember auch die Gefangenen der Sonderhaftanstalt "Bautzen II" die Arbeit. Ein Gefangenenrat wurde gegründet und ein Forderungskatalog aufgestellt: Überprüfung aller Urteile, Abschaffung politisch motivierter Straftatbestimmungen, Generalamnestie.

"Wir dachten, die erschießen uns alle"

Die Anstaltsleitung reagierte verunsichert, so etwas hatte es noch nie gegeben. Streikkomitee und Anstaltsleitung vereinbarten eine Garantieerklärung zum Gewaltverzicht. Erlebnisberichte dokumentieren, wie sehr den Gefangenen trotz dieser Selbstermutigung die Angst im Nacken saß. Peter Naundorf, der Sprecher des Gefangenenrates, sagt im Hörfunk-Feature "Die Wende im Stasi-Knast Bautzen II" von MDR FIGARO:

Einige hatten natürlich wahnsinnige Angst, die haben gesagt: 'Die bringen uns alle um jetzt!' Wenn die hier drinnen Angst kriegen, dann hauen die uns ein Bataillon Staatssicherheit rein. Da kann es uns passieren, dass sie hier zwei Mann durchschicken mit einem Bündel Handgranaten, und wir sitzen alle in unseren Zellen, und überall schmeißen sie so ein Ding rein.

Peter Naundorf, der Sprecher des Gefangenenrates von "Bautzen II
Häftlinge protestieren im Dezember 1989 mit beschriebenen Bettlaken
Häftlinge protestieren im Dezember 1989 mit beschriebenen Bettlaken Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der Gefangenenrat forderte, Kirchenvertreter in die Haftanstalt einzulassen. Am 6. Dezember konnte Pfarrer Simmgen mit Gefangenen sprechen. In diesen Tagen wurde das Thema Strafvollzug zum Thema der Medien. Die Opposition und die Kirchen forderten Aufklärung über die Sonderhaftanstalt, Einzelschicksale wurden bekannt. Aber auch eine neuerliche Amnestie konnte die Gefangenen in "Bautzen II" nicht beruhigen – sie befürchteten, dass sich damit die Machthaber ein Hintertürchen bauten. In einem offenen Brief forderte der Gefangenenrat:

Wir erwarten, dass Verbrechen am Volke in Verbindung mit Amtsmissbrauch nicht amnestiert werden.

offener Brief des Gefangenenrates

Durch Vermittlung und auf Druck des Neuen Forums filmte am 9. Dezember ein Kamerateam aus Westberlin in der Haftanstalt. Erstmals kamen Bilder aus dem Inneren von "Bautzen II" an die Öffentlichkeit. Und erschreckende Aussagen wie die von André Baganz, zu hören im Hörfunk-Feature "Die Wende im Stasi-Knast Bautzen II" von MDR FIGARO:

Insgesamt bin ich seit über acht Jahren hier, ich war fünf Jahre in Einzelhaft. Also es wäre schön, wenn sie mich in der Zelle auch mal filmen würden, in der ich fünf Jahre zugebracht habe. Was ich hier durchmachen musste an Psychoterror, das ist unbeschreiblich. Zum Beispiel hat einer der Bosse hier, sein Name ist Jüttner, Major Jüttner, zu mir persönlich gesagt: 'Ich lasse ihnen die Visage zerdreschen und eines Tages werde ich sie umlegen lassen!

André Baganz, Inhaftierter in "Bautzen II

Die Staatsanwaltschaft schaltet sich ein

Der innere und äußere Druck sorgte dafür, dass die Häftlinge sich innerhalb von "Bautzen II" frei bewegen konnten. Pfarrer Simmgen führte regelmäßig seelsorgerische Gespräche. Ein Anwalt wurde bestellt, der als Vermittler zwischen Gefangenenrat und Staatsanwaltschaft diente. Bald wurde auch Rechtsanwalt Wolfgang Vogel als Unterhändler in humanitären Fragen hinzugezogen. Auch aus der Bundesrepublik kam Unterstützung, nicht nur für die in Bautzen II inhaftierten Bundesbürger. Staatssekretär Walter Priesnitz besuchte am 12. Dezember die Haftanstalt – am selben Tag begannen die Entlassungen. Bis zum 22. Dezember konnten alle politischen Gefangenen "Bautzen II" verlassen.

"Gelbes Elend" und "Stasi-Knast" Diese beiden Begriffe werden häufig synonym verwendet, da die Bautzner Haftanstalten zum Inbegriff für DDR-Unrecht wurden. In Bautzen gab es aber zwei verschiedene Gefängnisse:

Bautzen I Das ehemalige Zuchthaus wird als "Bautzen I" bezeichnet. Wegen der Fassade aus gelbem Backstein hieß es im Volksmund "Gelbes Elend". Heute befindet sich dort eine Justizvollzugsanstalt.

Bautzen II Das Untersuchungsgefängnis in der Nähe des Amts- und Landgerichtes ist bekannt als "Bautzen II". Obwohl es von 1956 bis 1989 dem Ministerium des Innern unterstellt war, wurde es als "Stasi-Knast" bezeichnet, weil dort hauptsächlich politische Gefangene untergebracht wurden, die während ihrer Haft unter Kontrolle der Stasi standen. Seit 1994 befindet sich dort eine Gedenkstätte für beide Gefängnisse.