Interview zum Versandhandel in der DDR Kataloge wie im Westen

04. Januar 2016, 18:14 Uhr

Einen Versandhandel à la Neckermann gab es für zwei Jahrzehnte auch in der DDR. "Keine Zeit verlaufen – im Versandhaus kaufen" war der Slogan der DDR-Versandhäuser. Ein fast vergessenes Kapitel Konsumgeschichte. Die Sozialwissenschaftlerin Dr. Anna Kaminsky hat die Geschichte der ostdeutschen Versandhäuser in ihrem Buch "Kaufrausch" rekonstruiert und beschreibt das Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Ideologie. Wir haben die Autorin zu diesem Kapitel der DDR-Wirtschaftsgeschichte befragt.

Versorgungsengpässe, Bückware – das sind die Stichworte, die einem beim Thema DDR und Einkaufen einfallen. Dass es in der DDR zwischen 1956 und 1975 einen Versandhandel gegeben hat, erscheint rückblickend geradezu paradox.

Dr. Anna Kaminsky: Mir ging es ähnlich, als ich Ende der 1980er-Jahre durch Zufall auf einen Katalog gestoßen bin, der im Papiermüll lag. Da war ich doch sehr erstaunt, dass es damals so einen sehr westlich anmutenden Katalog gab. Ich hab dann im Bekanntenkreis rumgefragt und die meisten haben gesagt, nee, das gab‘s nicht - nur für die Bonzen.

Wie kam es, dass die DDR den Versandhandel – den es ja vor dem Krieg schon gab – in den 1950er-Jahren wiederbelebt hat?

Hintergrund für die Gründung des Versandhandels war der Aufstand von 17. Juni 1953. Damals hatten ja der Unmut über die Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln und die Unzufriedenheit mit der politischen Situation eine landesweite Protestwelle ausgelöst. Man suchte deshalb nach neuen Wegen, um die brisante Versorgungslage zu verbessern - vor allem auf dem Land und in Schwerpunktgebieten mit industriellen Großprojekten wie der Wismut AG, den Leuna-Werken und der Werft in Rostock. Dort sollten gezielt Waren zur Verfügung gestellt werden. Über den Versandhandel glaubte man die Warenströme besser lenken zu können. Das Katalogangebot sollte der Bevölkerung außerdem vermitteln, wie sehr sich der Staat um das Wohl des Volkes bemühte.

Wie konnte denn ein Versandhandel unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft in der DDR überhaupt existieren?

Der Versandhandel hat von Beginn unter allen den Problemen, die in der DDR-Wirtschaft grassierten, genauso gelitten wie alle anderen Bereiche. Das fing damit an, dass es im Versandhandel nicht genug Waren gab. Hinzu kam ja noch, dass die Waren, die im Versandhandel angeboten wurden, dem normalen Handel abgezogen wurden. Es wurde ja nicht zusätzlich produziert. Allerdings enthielt der Katalog auch Waren, die es weder im Versandhandel noch im normalen Handel im Angebot gab. Papier ist geduldig und man kann natürlich viele schöne Fotos abdrucken, ohne dass man die Dinge auch wirklich kaufen kann. In vielen Katalogen finden Sie oftmals schon nach der ersten Auslieferung Beilegezettel, auf denen die Waren aufgelistet sind, die es alle nicht mehr zu kaufen gab.

Es wurden also bewusst Waren angeboten, die eigentlich nicht verfügbar waren.

In einigen Jahren sind beispielsweise Waschmaschinen im Katalog, die verschwanden schnell wieder, weil man die Nachfrage gar nicht befriedigen konnte. Es wurden vielleicht 100 Geräte ausgeliefert, aber nicht die Tausende, die bestellt wurden. Dauerbrenner waren Bettwäsche, modische Kleidung, schöne Kleidung, technische Haushaltsgeräte, die ein bisschen modern waren. Im Prinzip fast alles. Und wenn Sie sich die verschiedenen Beipackzettel anschauen, dann finden Sie Waren, bei denen man nicht vermutet hätte, dass sie nicht verfügbar waren, Arbeitskleidung beispielsweise.

Wie sah es aus mit Halstüchern, Pionierblusen und FDJ-Blusen?

Das waren die Dinge, die immer lieferbar waren, deshalb hat man sie ja ins Sortiment aufgenommen. Dadurch konnte man die Erfolgsquote an realisierten Bestellungen erhöhen: Wenn ein Besteller fünf Artikel bestellt hatte und nur ein Artikel geliefert werden konnte, galt die gesamte Bestellung trotzdem als "erfolgreich durchgeführt".

Das Papier für den Katalog konnte aber immer organisiert werden?

Geschichte

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Das Papier war ein großes Problem, die DDR litt ja unter Rohstoffmangel. In erster Linie sollten deshalb ideologische Schriften gedruckt werden. Der Versandhandel bekam eine bestimmte Druckkapazität zugeteilt, die aber von Anfang an für den Vertrieb nicht ausreichte. Deshalb wurden sogenannte Bestellzentren in LPG-Büros und ausgewählten Konsumverkaufsstellen eingerichtet, wo die Leute hingehen, im Katalog blättern und bestellen konnten. Ohnehin wurden die Kataloge nur an Empfänger in den ausgewählten Schwerpunktbereichen verschickt. Leute in größeren Städten, wo es ohnehin Läden gab, die sollten die Kataloge gar nicht erst zu Gesicht bekommen.

Hat man versucht, die Versandhauskataloge für politische Propaganda zu nutzen?

Politische Propaganda finden Sie in allen Katalogen – von Anfang an. Zum einen gab es in jedem Katalog ein Geleitwort, das darauf verwies, dass das Angebot im Katalog ein Resultat der Bemühungen von Staats- und Parteiführung, die Lebensverhältnisse des werktätigen Volkes zu verbessern, ist. Zum anderen posierten die Models im Katalog mit DDR-Fahnen oder vor den allseits bekannten Propagandabannern mit Aufschriften wie "Vorwärts zum Sozialismus“. Das zog sich durch alle Kataloge durch.

Wieso gab es eigentlich gleich zwei Versandhäuser – das konsument und das Centrum-Versandhaus. Hatten die Häuser eine unterschiedliche Ausrichtung?

Das konsument-Versandhaus in Karl-Marx-Stadt, das zuerst gegründet worden war, kümmerte um die Versorgung der Landbevölkerung. Das Centrum-Versandhaus mit Sitz in Leipzig bekam das attraktivere Publikum: die Städte. Das sieht man den Katalogen auch an: Die Centrum-Kataloge sind viel moderner und hatten zuerst auch Hochglanzpapier, während die konsument-Kataloge noch länger in einem bescheideneren Outfit daherkamen. Aber eine Konkurrenz in dem Sinne gab es nicht, in der DDR war ja alles zugeteilt. Die Versandhändler mussten innerhalb der starren Strukturen der Planwirtschaft der DDR agieren, ihnen waren die Hände gebunden.

Heute wie damals waren die Hauptnutzer der Kataloge Frauen. Welches Frauenbild spiegelten die Kataloge wider?

Das Frauenbild änderte sich im Laufe der Jahre. In den ersten Katalogen, die sich vor allem an die Landbevölkerung richteten, wurde noch ein proletarisches Frauenbild vermittelt. Die Models waren eher kräftig und in den Begleittexten war die Rede von der 'Frau, die am Arbeitsplatz ihren Mann' steht. Damit polemisierte man auch gegen die Frauen aus den Westkatalogen. Es gab dann aber Beschwerden von Frauen, die lieber junge schlanke Frauen im Katalog sehen wollten. In den Katalogen in den 60/70er Jahren bestimmen dann junge moderne Frauen das Katalogbild.

Warum kam Mitte der 1970er-Jahre das Aus für den Versandhandel?

Der Versandhandel musste jedes Jahr größere Ausfälle melden. Es kamen immer mehr Bestellungen, die immer weniger befriedigt werden konnten. Der Unmut wurde immer größer und was als Prestigeobjekt gedacht war, um über den Versandhandel die Warenströme besser lenken, entpuppte sich als Schimäre, weil es ja in der ganzen DDR nicht genug Waren gab. Im Prinzip hat der Erfolg dem Versandhandel den Garaus gemacht. Zudem gab es 1972 gab es einen Eklat, als im Katalog ideologisch nicht zulässige Namen für Herrenbekleidung aufkamen wie "Heino" nach dem Schlagersänger, "Jupp" nach dem Fußballer oder nach westlichen Orten wie Wien, Zürich und Rio de Janeiro. Das war genau das, was die DDR-Führung nicht wollte, dass sich die Leute nach Westen orientierten.

Wie konnte denn so etwas durchrutschen?

Der Parteisekretär und der Generaldirektor verloren natürlich sofort ihre Posten. Eine Erklärung habe ich auch nicht, aber eine Vermutung. Damals liefen ja gerade die Verhandlungen zwischen der DDR und der BRD über den Grundlagenvertrag. Da war auf beiden Seiten sehr viel von Annäherung und friedlicher Koexistenz die Rede. Und ich denke, dass viele Leute in der DDR und auch die Angestellten im Versandhandel darauf ihre Hoffnungen gesetzt haben und das für bare Münze genommen haben. Man hat damals nicht erkannt, dass die propagandistischen Verlautbarungen der SED-Führung nur für die oberste politische Ebene galten. Was die Bevölkerung betraf, begann viel mehr eine rigide Abgrenzung zum Westen. Damals mussten beispielsweise Lehrer den Kontakt zu ihren Westverwandten abbrechen, außerdem wurde das auch in der DDR übliche Autokennzeichen D durch DDR ersetzt. Also auf der einen Seite Annäherung an die Bundesrepublik und auf der anderen Seite härtere Abgrenzung - diese widersprüchliche Doppelstrategie hat die normale DDR-Bevölkerung nicht erkannt.

Über die Autorin Dr. Anna Kaminsky Studium an der Sektion Theoretische und angewandte Sprachwissenschaft (Schwerpunkt romanische Sprachen) an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, 1992 Promotion Dr. phil. 1993 bis 1998 Mitarbeit in verschiedenen Forschungs- und Ausstellungsprojekten u.a. am Berliner Institut für vergleichende Sozialforschung, an der Universität Münster, der Gedenkstätte Sachsenhausen und am Deutschen Historischen Museum, seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin, seit 2001 Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Publikationen zu Alltags- und Konsumkultur sowie zu Fragen der Erinnerungspolitik; u.a. Kaufrausch. Die Geschichte der ostdeutschen Versandhäuser, Berlin 1998;

Kaufrausch. Die Geschichte der ostdeutschen Versandhäuser 175 Seiten, erschienen im Ch. Links Verlag (1998). Das Buch ist vergriffen oder nur noch antiquarisch erhältlich.