Treffen von Außenminister Sigmar Gabriel mit estnischen Premier Jüri Ratas in Tallinn, am 1. März 2017.
Baltikum-Reise von Außenminister Sigmar Gabriel: Am Mittwoch traf er den estnischen Premier Jüri Ratas in Tallinn. Bildrechte: picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Interview "Die Balten wollen es sich mit Deutschland nicht verscherzen"

02. März 2017, 10:49 Uhr

Außenminister Gabriel hat am Donnerstag in Litauen das Bundeswehrbataillon besucht. Ein Interview mit Baltikum-Experten Kai-Olaf Lang über Sicherheitspolitik, Verteidigungsausgaben und die Angst vor Russland.

In den baltischen Staaten herrscht eine Angst vor Moskau. Wie wahrscheinlich ist ein Angriff Russlands?

NATO-Bündnistruppen im Baltikum zu stationieren, ist aus Sicht der baltischen Staaten ein wichtiger Schritt. Jedoch bleiben diese Länder verwundbar, weil sie militärisch schwach aufgestellt sind und weiterhin eine klare Überlegenheit Russlands in der Region besteht. Auch befürchten die Balten, dass die NATO im Ernstfall Schwierigkeiten hätte, Hilfe zu leisten. Russland kann durch die Enklave Kaliningrad und die enge militärische Bindung mit Weißrussland die baltischen Staaten förmlich isolieren. Konkreter gesagt: Die Russen könnten durch Luftabwehrsysteme oder gegen Schiffe gerichtete Lenkwaffen eine Art Sperrriegel um die Region errichten. Dagegen könnte die NATO nur wenig ausrichten.

Die Angst vor Russland ist im Baltikum also berechtigt?

Die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Intervention Russlands im Baltikum ist äußert gering. Wir können sie allerdings nicht hundertprozentig ausschließen. Eine der Lehren aus dem Ukrainekonflikt ist, dass der Westen mit der Unberechenbarkeit und einer großen Entschlossenheit Moskaus rechnen muss.  Außerdem sind sogenannte hybride Kriegsführungen, das heißt eine Kombination aus Propaganda, Formen der gesellschaftlichen Destabilisierung und militärischen Maßnahmen, durchaus denkbar.

Das Baltikum will Russland auf Distanz halten, doch bei der Energieversorgung ist es von Moskau weitestgehend abhängig. Welche Alternative gäbe es?

Kai-Olaf Lang leitet die Forschungsgruppe EU-Integration bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Baltikum-Experte Kai-Olaf Lang Bildrechte: Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin

Vor ein paar Jahren war es in der Tat noch so, dass eine eklatante Abhängigkeit von Russland bestand. Der Gasbedarf wurde beispielsweise vollständig von Russland gedeckt, es gab keine alternative Infrastruktur . Doch hier hat sich vieles bewegt: In Litauen wurde ein Terminal für Flüssiggas in Betrieb genommen, so dass das Land nun Erdgas aus anderen Lieferquellen importieren kann. Würde man noch eine Gasleitung von Litauen nach Polen bauen, hätte das Baltikum eine direkte Anbindung an die Gasinfrastruktur in einem EU-Land.

Auch im Elektrizitätssektor gab es positive Veränderungen. Zwischen Estland und Finnland wurden Unterwasserkabel durch die Ostsee gelegt, Litauen ist mittlerweile mit Schweden und Polen verbunden. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die drei baltischen Staaten kleine Länder mit kleinen Energiemärkten sind. Daher kann mit wenigen Schritten effektiv diversifiziert werden. Vor einigen Jahren sprach man über die baltischen Staaten noch als abgekapselte "Energieinseln" in der EU, jetzt sind sie mindestens "Energiehalbinseln".

Seit Kurzem sind Bundeswehr-Soldaten in einem NATO-Bataillon in Litauen stationiert. Fühlt sich die Bevölkerung im Baltikum dadurch nun sicherer?

Ja, zweifelsohne fühlen sich die Balten jetzt sicherer. Alle drei Länder setzen auf Abschreckung und Rückversicherung. Durch die Anwesenheit von NATO-Verbündeten auf eigenem Territorium soll ein klares Signal an Moskau gesendet werden, dass es bei Anwendung militärischer Gewalt seitens Russlands zu einer entschlossenen Reaktion des Bündnisses kommen würde. Auch hoffen die Balten, dass durch die Anwesenheit von Truppenkontingenten der NATO in ihren Ländern, die Militärverbündeten auch wirklich zu Hilfe eilen würden, um bei einem Angriff, ihre eigenen Soldaten zu schützen.

US-Präsident Donald Trump hat im vorigen Jahr in seinem Wahlkampf offen gelassen, ob er das Baltikum im Ernstfall verteidigen lassen würde. Wie reagiert man im Baltikum nun auf Trump?

Die USA waren für das Baltikum immer DER Sicherheitsanker. Man dachte, wenn es hart auf hart käme, könne man sich immer auf die Amerikaner verlassen. Mit Trumps Äußerungen und seiner kontroversen Haltung zu Russland, hat die Verunsicherung aber zugenommen und deswegen will man auch die Beziehungen zu den europäischen Verbündeten stärken. Die Litauer sind froh, dass sich ein Land wie Deutschland aktiv engagiert und Bundeswehrsoldaten ins litauische Rukla entsandt hat. In gewisser Weise hat man jetzt das Thema europäische Sicherheitspolitik für sich entdeckt und hofft auch, dass die EU-Staaten wieder mehr Geld für den Militärbereich ausgeben. Doch setzt man natürlich weiterhin vorranging auf eine starke NATO und darauf dass Trump letztlich auch die Sicherheit dieser drei Länder garantieren wird. 

Außenminister Sigmar Gabriel erklärte unlängst, er wisse nicht, wie Deutschland in kurzer Zeit seinen Verteidigungsetat aufstocken solle und verwies auf die Millionen Euro für die Flüchtlingsintegration, die auch zur Stabilisierung Europas beitragen würden. Im Baltikum stößt er mit diesem Argument auf Unverständnis. Warum?

Die baltischen Staaten sind bei diesem Thema in der Tat zurückhaltend. Sie wollen keine verbindlichen Umverteilungsquoten in der EU. Das ist Konsens der relevanten politischen Kräfte in allen drei Ländern. Sie wollen sich durchaus solidarisch zeigen, aber eben nicht durch die Aufnahme einer großen Menge an Flüchtlingen. Ein Argument ist, dass vor allem in Estland und Lettland große russische Minderheiten leben, die immer noch unzureichend integriert sind. Da will man nicht noch andere integrieren müssen. Der Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik Deutschlands und der EU-Kommission ist in den baltischen Staaten jedoch verhaltener als in anderen osteuropäischen Ländern. Die Balten wollen es sich in dieser Sache eben nicht mit Deutschland verscherzen.

Rund ein Viertel der Bewohner Lettlands und Estlands sind russischstämmig. Viele informieren sich über staatsnahe russische Medien. Droht dort ein Krisenherd im eigenen Land?

Die Mehrheit der Balten misstraut den russischsprachigen Gemeinschaften. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen gibt es einen 'gespaltenen Informationsraum'. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Minderheit tatsächlich russische Medien konsumiert und damit der russischen Informations- oder Desinformationspolitik direkt ausgesetzt. Doch ich wäre vorsichtig zu sagen, dass die russischen Minderheiten das trojanische Pferd des Kremls in den baltischen Staaten sind.

Soziologische Studien in Estland haben zum Beispiel herausgefunden, dass die russische Minderheit keineswegs homogen ist und dass es unter deren Angehörigen sowohl loyale Staatsbürger und Patrioten gibt wie auch jene, die sich in ihrem Staat nicht wirklich heimisch fühlen und sich kulturell oder sprachlich eher nach Russland orientieren. Dennoch verspürt in den russischen Gemeinschaften in Estland oder Lettland kaum jemand den Wunsch, sich abspalten und Russland anschließen zu wollen. In Estland stellt übrigens momentan eine Partei den Regierungschef, die von vielen Russischssprachigen gewählt wird und die mehrere russische Politiker in wichtige öffentliche Posten gebracht hat. 

Zur Person Kai-Olaf Lang ist Experte für Ost- und Mitteleuropa. Er arbeitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.