Massenauswanderung aus Litauen Besuch in einem aussterbenden Dorf

21. März 2017, 10:28 Uhr

Die Region Utena in Litauen stirbt aus. Die jungen Leute wandern aus, suchen ihr Glück im Westen. Hunderte Häuser stehen leer, den Schulen gehen die Schüler aus. Wir haben ein typisches Dorf besucht: Kurkliai.

Als die stattliche Dorfschule von Kurkliai 1980 eröffnet wurde, lernten noch weit über 200 Kinder hier. Heute seien es nur noch 47 und der Schule droht die Schließung, erzählt Geschichtslehrerin Rasa Černiauskaitė. Und die Zukunftsaussichten sind schlecht – für das nächste Schuljahr würden nur noch drei ABC-Schützen erwartet, verrät die Pädagogin. Jeweils zwei Jahrgänge würden zusammen unterrichtet – weil es so wenig Schüler gibt.

Und solche Dorfschulen gibt es in Litauen zuhauf, denn das Land leidet unter einer Massenauswanderung. Viele junge Litauer kehren ihrem Land den Rücken und suchen im Ausland ihr Glück. Noch kurz vor dem EU-Beitritt im Jahr 2004 hatte Litauen fast 3,4 Millionen Einwohner. Inzwischen ist es eine halbe Million weniger – in gerade mal 13 Jahren. Für so ein kleines Land wie Litauen ein wahrer Aderlass.

Massenauswanderung und Überalterung

Und die Region Utena, in der Kurkliai liegt, leidet besonders darunter. Sie zählt zu den am schnellsten schrumpfenden Landstrichen innerhalb der EU. Die Einwohnerzahl ist seit Jahren in freiem Fall. Daran ändern auch Millionen an Fördergeldern nichts, die seit dem EU-Beitritt Litauens in die Region fließen und für den Bau und die Sanierung von Straßen, Sport- und Kulturstätten eingesetzt werden. Die jungen Menschen wandern ab. Die Alten und Armen bleiben zurück.

Ein Beispiel: die Dorfambulanz. Etwa 15 Patienten warten geduldig vor dem Sprechstundenzimmer, alle dem Augenschein nach jenseits der 50. "Meine Patienten haben alle die typischen chronischen Krankheiten des Alters", sagt Ärztin Dalia Kazlauskienė. "Die Jungen wandern aus, letztes Jahr gab es nur zwei Geburten hier im Dorf, früher gab es etwa zehn." Die Medizinerin arbeitet schon seit 25 Jahren hier, kannte manche ihrer Patienten noch als junge Menschen voller Kraft und Elan. Doch inzwischen herrsche eine eher depressive Stimmung in Kurkliai, meint sie. "Es ist wirklich traurig. Der öffentliche Personennahverkehr ist nicht so toll, die alten Leute haben es schwer, hierher zu kommen, wenn irgendwas weh tut. Früher wurden sie von den Kindern hergebracht, aber die leben jetzt oft im Ausland."

Wenig Arbeit, niedrige Löhne

Hauptgrund für die Massenabwanderung seien die niedrigen Löhne in der Gegend, meint Gemeindevorsitzender Algimantas Jurkus. Es gebe nicht allzu viele Arbeitgeber, lediglich eine größere Schweinezucht und eine Kiesgrube. Entsprechend niedrig sind auch die Gehälter, wenn man denn Arbeit bekommt. "Die jungen Leute sprechen Fremdsprachen und sind mit den Gehältern hier vor Ort unzufrieden. In Irland oder Norwegen verdienen sie über 2.000 Euro. Viele sagen, wenn ich nur 1.000 Euro in Litauen hätte, würde ich bleiben“, sagt der Ortsbürgermeister. Er weiß es aus erster Hand, denn einige seiner Verwandten leben auch im Ausland. In seinem Dorf stehen rund 50 Häuser leer. In der gesamten Region dürfte es Hunderte davon geben.

Zeichen gegen Hoffnungslosigkeit

Es gibt aber auch einige Lichtblicke – junge Leute, die ihr Leben in der Region gestalten. Norbertas Černiauskas ist in Kurkliai aufgewachsen. Er ist einer, der es geschafft hat, arbeitet heute als Historiker an der Uni Vilnius. Das langsame Sterben seines Heimatortes will er nicht widerspruchslos hinnehmen. Er organisiert Aktionen, die den Zusammenhalt im Dorf stärken und die Leute darin halten sollen.

Einmal im Jahr bringt Černiauskas Hunderte Menschen in die Region – geschichtsinteressierte Menschen, die zu seinem historischen Sommerlager kommen, einige Kilometer von Kurkliai entfernt. Dadurch hat er die Gegend bekannter gemacht – und erreicht, dass einige der leerstehenden Häuser von Städtern gekauft wurden – als Sommersitz. "Wir Litauer müssen aufhören zu meckern und anfangen unser eigenes Leben in der Heimat zu gestalten. Was uns fehlt ist das Verständnis, dass es auch hier nicht so schlimm ist", sagt Černiauskas. Vielleicht ein hartes Urteil gegenüber einigen seiner Landsleute. Aber gleichzeitig ein Hoffnungszeichen für die Zukunft des Landes. Denn das braucht Menschen, die vor Ort die anpacken statt auszuwandern.

Utena ist einer von zehn Bezirken, den obersten Verwaltungseinheiten, in Litauen, benannt nach der gleichnamigen Stadt in der Region. Die Einwohnerzahl liegt bei rund 135.500 (Stand 2016). Die Region im Nordosten des Landes an der Grenze zu Lettland und Weißrussland zählt historisch zu Oberlitauen und ist bekannt für ihre vielen Seen. Durch Utena führt die Fernstraße von Warschau nach St. Petersburg.

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