Gespräch mit Silke Satjukow und Rainer Gries "Helden braucht man in Krisenzeiten"

05. Januar 2016, 09:32 Uhr

Vor allem in den 1950er-Jahren wurden in den sozialistischen Ländern scharenweise Helden kreiert. Sie sollten helfen, die Leute von der Idee des Sozialismus zu überzeugen. Dabei war der Heldenkult keineswegs auf die sozialistischen Staaten beschränkt. Ein Gespräch mit den Historikern Silke Satjukow und Rainer Gries.

"Arm das Land, das Helden braucht", sagte einst Bert Brecht. Waren die sozialistischen Länder in diesem Sinne arm oder armeselig?

Rainer Gries: Nein, sie waren gar nicht arm. Mit den Helden hatten sie einerseits Propagandafiguren, mit denen sie die politischen Inhalte personifizieren konnten. Das ist nämlich eine ganz moderne PR- und Propagandastrategie - immer wenn man ein Gesicht hat zu einer Idee, dann kriegt man die Inhalte auch gut bei den Leuten unter. Und andererseits: Diese Helden waren ja auch Medien. Sie funktionierten nicht nur von oben nach unten, sondern sie funktionierten auch von unten nach oben – quasi Helden zum Anfassen.

Silke Satjukow: Stellen Sie sich Europa, Osteuropa, im Jahr 1945 vor. Alles war zusammengebrochen. Die sogenannte "Stunde Null". Was passierte nun? Man hatte eine Botschaft, das war eine kommunistische, vom Kreml ausgehend. Und man schickte Helden als eine Art Missionare durch die verschiedenen Länder im Osten, um die Leute vom Sozialismus zu überzeugen. Die Leute wollten nämlich mehrheitlich keinen Sozialismus. Und diese Missionare mussten möglichst charismatisch sein und ein richtiges Heldenformat besitzen.

Wer waren die Helden der ersten Stunde?

Prof. Dr. Silke Satjukow
Prof. Silke Satjukow Bildrechte: Silke Satjukow

Silke Satjukow: Die ersten Helden waren die kommunistischen Widerstandskämpfer. Die haben die richtige Geschichte erzählt: Wir waren im KZ, wir haben gelitten für euch. Jetzt aber fordern wir eure Schuld ein, ihr müsst uns folgen. Und sie erzählten sogar eine schöne Geschichte, die Geschichte vom Kommunismus nämlich – alle werden gleich sein, allen wird es gut gehen, es wird keinen Krieg mehr geben und keine Ausbeutung. Die Botschaft war tatsächlich schön und die Heldenfiguren waren auch glaubhaft, da sie tatsächlich in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten inhaftiert waren. Nun musste man nur noch versuchen, die Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen.

Rainer Gries: Die Bevölkerung musste aber auch etwas davon haben: Sie können die Leute nämlich nicht dazu zwingen, diesen oder jenen Helden zu verehren, sie müssen sie überzeugen.

Silke Satjukow:
Vor allem die Aufbaugeneration fühlte sich angesprochen. Walter Ulbricht sagte ihnen, wenn ihr uns anerkennt, wenn ihr den Sozialismus mit aufbaut, dann entschulden wir euch für euer Mitläufertum unter Hitler. So lief das im Großen und Ganzen ab.

Die Leute wurden mit toten Helden geködert. Mit Ernst Thälmann etwa im Osten Deutschlands, mit Julius Fučík in der ČSSR ... Aber die toten Helden waren auf Dauer vermutlich nicht attraktiv genug. Denn später mussten dann doch lebende Helden her …

Adolf Hennecke
Held der Arbeit: der Bergmann Adolf Hennecke Bildrechte: Verfügbar für Kunden mit Rechnungsadresse in Deutschland. | Bergbaumuseum_Archiv

Silke Satjukow: Dann mussten charismatische lebendige Helden ran – der erste von ihnen war Adolf Hennecke, Bergmann, "Held der Arbeit". Er machte seinen Kollegen vor, wie höchste Arbeitsleistungen vollbracht werden können nach dem Motto "Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben". Er war umstritten, keine Frage, aber er setzte sich doch mehr oder weniger durch, weil er zur richtigen Zeit das Richtige tat. Und das ist eigentlich auch die Definition des Helden: Das Richtige im rechten Moment tun. Und der Hennecke machte das. Es ging allen schlecht und er arbeitete wie ein Berserker, um mehr Kohle zu fördern. Genau das brauchte man damals …

Das sind die Arbeiterhelden – Hans Garbe, Frieda Hockauf, der russische Bergmann Alexei Stachanow. Dann kam ein neuer Heldentyp.  

Silke Satjukow: Viel interessanter sind später, in den 1960er-Jahren, dann natürlich die wirklich auch attraktiven Helden des Sozialismus: Juri Gagarin, der erste Mann im Weltraum, jung und hübsch, Valentina Tereschkowa, die erste Frau im Weltraum und "Täve" Schur, ein junger Mann und überdies fairer Sportsmann.

Von nicht unerheblicher Bedeutung ist scheinbar auch die erotische Komponente …?

Silke Satjukow: Keine Frage. Der Held muss nicht nur das Richtige zur richtigen Zeit tun, sondern die Menschen müssen ihn lieben, ihn auch erotisch lieben. Und in dieser Form wurden die Helden in der DDR ebenso wie in den anderen sozialistischen Ländern "installiert".

Wann hatten Helden Konjunktur?

Silke Satjukow: Ende der 1940er-Jahren und in den 1950er-Jahren waren die Heldenfiguren unbedingt notwendig. Alles lag in Trümmern, es musste aufgebaut werden. In den 1960er-Jahren war schon einiges geleistet, da machten sich die Helden langsam rar. Die 1970er- und 1980er-Jahre sind dann eine absolut heldenarme Zeit, da hat man noch den Kosmonauten Siegmund Jähn, mehr aber auch nicht. Die Helden zogen einfach nicht mehr.

Die Zeiten waren geordnet, sicher. Helden dagegen sind etwas für Zeiten der Unordnung …

Silke Satjukow: Helden braucht man in Krisenzeiten, wenn alles durcheinander geht, nichts mehr sicher ist, dann braucht man Sicherungsfiguren, paternalistische Personen. Helden eben.

Die Grundmuster sind immer gleich …?

Silke Satjukow: Ja, die sind gewissermaßen anthropologisch determiniert. Die Grundmuster sind immer identisch: Die Leute wollen immer erotische, nachahmenswerte Vorbilder: Aus kleinen Verhältnissen kommend, hat er Großes geleistet … Das ist immer und überall gleich.

Gibt es bei der Heldenverehrung Unterschiede in den verschiedenen sozialistischen Ländern? Gibt es möglicherweise verschiedene Heldentypen?

Rainer Gries: Es gibt überhaupt keine Unterschiede. Es gibt sogar zu ähnlichen Zeiten ähnliche Helden - und zwar systemübergreifend! So haben wir etwa die Helden des Sports in den 1950er-Jahren. Ich nenne sie die "Wir sind wieder Wer"-Helden: die westdeutsche Fußball-Weltmeistermannschaft von 1954, den ungarischen Fußballer Ferenc Puskás oder, in Österreich den Skisportler Toni Seiler. Und in den 1960er-Jahren dann die Weltraumhelden der UdSSR und der USA.

Silke Satjukow:
Aber es gibt doch einen wichtigen Unterschied zwischen demokratischen und diktatorischen Staaten. In der Diktatur kann die Partei die Botschaft, die der Held spricht, bestimmen. Sie kann ihn dirigieren. Sie kann Adolf Hennecke, "Täve" Schur oder Siegmund Jähn ohne weiteres vorgeben, das und das musst du unbedingt sagen. In der Demokratie sieht das etwas anders aus. Da kann die Regierung dem Helden nicht alles in den Mund legen. Sie würden das sicher auch gern tun, aber sie können es nicht. Der Held in der Demokratie ist unberechenbarer.

Insofern sind die sozialistischen Helden schon ein besonderer Typ. Sie konnten zuverlässig und weitestgehend ungestört aufgebaut werden von der Partei oder der Regierung.

Störendes konnte weggelassen oder retuschiert werden …

Rainer Gries: Klar. Im Osten konnten Partei oder Regierung immer Einfluss auf die Helden selbst und deren Verehrung nehmen. Juri Gagarin zum Beispiel war ein Säufer und lief am Ende komplett "aus dem Ruder". Also hat man ihn in der Versenkung verschwinden lassen, still und heimlich. Der Held konnte gerettet werden. Im Westen wäre er vermutlich von den Medien "abgeschossen" worden.

Wie kamen die sozialistischen Helden über das Ende des Sozialismus hinweg?

Silke Satjukow: Mit dem Ende des Sozialismus sind sie zunächst prekär geworden, zusammengeschrumpft oder ganz und gar in der Versenkung verschwunden. Aber da die Leute, die Ostdeutschen, noch da waren, und sie die Heldenbilder noch im Kopf hatten – "Täve" Schur, Juri Gagarin oder Siegmund Jähn waren halt Teil ihres Lebens gewesen -, kamen sie Mitte der 1990er-Jahre wieder hervor. Die Ostdeutschen haben ihre Helden zurückgefordert.    

Rainer Gries: Sie stifteten schlicht Identität. Und sind mittlerweile aufgenommen von der Gesellschaft.

Leben wir, wie zahlreiche Soziologen meinen, in postheroischen Zeiten? In Zeiten, die keiner Helden mehr bedarf und keine mehr hat?    

Silke Satjukow: Das Gegenteil ist der Fall. Krisenzeiten sind gute Zeiten für Heldenfiguren. Heiße Gesellschaften fordern kalte Elemente. Und ein kaltes Element ist stets eine Sicherheitsfigur. Wir leben in keiner postheroischen Zeit, wir sind in einer heroischen Zeit par excellence. Je chaotischer die Zeitläufte, desto mehr sehnen sich die Leute nach Helden.

Rainer Gries: Und wir haben die Helden doch auch weiterhin im Sport, wir haben sie in der Werbung, im Popgeschäft.    

Biografien Prof. Dr. Silke Satjukow, geboren 1965 in Weimar, studierte von 1991 bis 1995 Geschichte, Germanistik, Philosophie, russische Sprache und Literatur in Moskau, Berlin, Erfurt und Jena. Seit 2001 ist Silke Satjukow Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Magdeburg.
2002 gab sie gemeinsam mit Rainer Gries das Buch "Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR" (Christoph Links Verlag, Berlin) heraus.

Prof. Dr. Rainer Gries, geboren 1958 in Heidelberg, studierte von 1977 bis 1984 Deutsch und Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit Januar 2008 ist Rainer Gries Gastwissenschaftler am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
2002 gab er gemeinsam mit Silke Satjukow das Buch "Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR" (Christoph Links Verlag, Berlin) heraus.
Seit Oktober 2013 Leitung des Forschungsverbundes "Po­litCIGs - Die Kulturen der Zigarette und die Kulturen des Politischen. Zur Sprache der Produkte im 20. und 21. Jahrhundert".