Ein Häftlingstransport aus Ungarn trifft im Lager Auschwitz ein
Ein Häftlingstransport aus Ungarn trifft im Lager Auschwitz ein (Aufgenommen am 30.11.1944) Bildrechte: picture alliance / dpa

Diskussion um Ungarns Rolle in der Geschichte Die Politik und der Holocaust

18. Januar 2019, 15:17 Uhr

Die Geschichte spielt für Viktor Orbán eine große Rolle: Sei es der Aufstand von 1956, an den am heutigen 23. Oktober erinnert wird, seien es die Gebietsverluste durch den Vertrag von Trianon, oder die Zwischenkriegsjahre unter dem autoritären Reichsverweser Miklós Horthy – Orbán versteht es sehr gut, mit diversen Verweisen auf die Geschichte die Seele der Ungarn zu streicheln.

"Man sieht wirklich sehr deutlich, wie die Bedeutung der Geschichtspolitik in den letzten Jahren in Ungarn zugenommen hat. Es ist sehr interessant, wie sehr hier von politischer Seite auf Geschichte gesetzt wird um politisch zu mobilisieren", sagt die österreichische Historikerin Regina Fritz, die zur Geschichtspolitik in Ungarn forscht. 

Ungarische Verantwortung für den Holocaust

Ein Thema, das in Ungarn aber besonders kontrovers diskutiert wird, ist die Frage nach der ungarischen Verantwortung für den Holocaust. Die Deportationen begannen erst nach der Besetzung Ungarns durch die Deutschen. Zuvor gab es auch in Ungarn eine antisemitische Gesetzgebung, doch eine Auslieferung der ungarischen Juden an die Deutschen hatte Machthaber Horthy immer abgelehnt, weswegen die ungarischen Juden lange vor Ermordung sicher waren, und das Land zum Ziel für aus Polen flüchtende Juden wurde. Das dient vielen Ungarn als Beleg dafür, dass der Holocaust ein deutsches Projekt war, in dem die Ungarn allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben.

Fakt ist aber auch, dass es in Ungarn bereits 1920 die ersten antisemitischen Gesetze gab, noch bevor dies in Europa üblich wurde, 1938, 1939 und 1941 wurden Gesetze verabschiedet, die an die Nürnberger Rassegesetze angelehnt waren. Der Antisemitismus war also auch in Ungarn Bestandteil der Politik. Das Kommando unter Adolf Eichmann, das die Deportation und Ermordung der ungarischen Juden organisierte, bestand zudem nur aus rund 60 Personen. Der Hauptteil der Arbeit wurde von Ungarn erledigt – und sie waren willige Helfer, wie Götz Aly bemerkt: "Tatsächlich war es für Veesenmayer und Eichmann ein leichtes, die Radikalisierung der antijüdischen Politik mit einigen zielgerichteten Anregungen, Maßnahmen und personellen Umbesetzungen einzuleiten oder zu fördern." Und weiter: "Aus der Perspektive der Opfer traten habsüchtige magyarische Beamte, Nachbarn oder Mitbürger auf den Plan, die ihnen die letzten Habseligkeiten vom Leib rissen, sie körperlich durchsuchten, und sich für die überlebenden Rückkehrer so sichtbar an ihrem mobilen und immobilen Eigentum bereichert hatten." Zwischen Mai und Juli 1944 wurden binnen weniger Wochen 438.000 ungarische Juden deportiert und ermordet. Insgesamt kamen etwa 565.000 Juden aus Ungarn im Holocaust ums Leben.

Adolf Eichmann bei Prozesseröffnung in Jerusalem, 1961
Adolf Eichmann organisierte die Deportation der ungarischen Juden. (Im Bild: Eichmann im Prozess gegen ihn in Jerusalem 1961.) Bildrechte: imago/ZUMA/Keystone

Außerdem kam es auch schon vor der deutschen Besatzung immer wieder vereinzelt zu Massakern an Juden, etwa 1942 in Novi Sad, wo ungarische Gendarmen zahlreiche – die Angaben schwanken zwischen 1.200 und 4.000 – Menschen töteten. Die Opfer waren vornehmlich Serben und Juden. Bereits im Juli 1941 hatte Ungarn in Kameniec-Podolsk rund 20.000 staatenlose Juden an die Nazis ausgeliefert, die diese anschließend ermordeten.  

Widersprüchliche Geschichtsschreibung

"Diese Komplexität der historischen Ereignisse und das widersprüchliche Verhalten des Horthy-Regimes hat dazu geführt, dass eine widersprüchliche Geschichtsschreibung in Ungarn entstanden ist. Je nachdem, welchem politischem Lager man angehört, bedient man sich mal der einen, mal der anderen Version. Und das führt zur widersprüchlichen Bewertung der ungarischen Verantwortung und zu lebhaften Debatten darüber", sagt Fritz.

Der ungarische Historiker Ferenc Laczó weist zudem darauf hin, dass der Holocaust während der kommunistischen Ära als integraler Bestandteil und notwendige Folge des Faschismus gesehen wurde. Die Opfer wurden in eine Reihe mit den nicht-jüdischen Opfern gestellt. Dieser vom Regime oktroyierte Anti-Faschismus ignorierte allerdings, dass die Verfolgung der Juden und auch die Deportationen bereits unter Horthy begannen, dessen Regime zwar autoritär, aber eben nicht faschistisch war. Auch von diesem aufoktroyierten Interpretation musste sich die ungarische Geschichtsforschung erst befreien.  

Ungarn waren auch Täter

Inzwischen zeichnen sich die Positionen der politischen Lager ab: Unter den Ministerpräsidenten des linken Lagers rückte die Verantwortung und Täterschaft auch der ungarischen Bevölkerung in den Fokus. So sagte etwa der damalige Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány in einer Rede vor dem Parlament am 27.1.2006:  "Es gab kein anderes Land in Europa, welches innerhalb von einem Jahr so viele seiner Menschen ausgeliefert hätte und daran mitgewirkt hätte, dass das Leben von Kindern, Frauen, Männern, Großeltern im sinnlosen Tod endete. Sie brachten den Befehl, lenkten die Waggons oder Standen einfach auf der Straße. (….) Opfer und Täter, Opfer und Helfershelfer waren beide Ungarn. Ihr geteiltes Ungarntum bewahrte sie nicht vor der Schuld und behütete sie nicht vor dem gemeinsamen Tod."

"Ausnahmestaatsmann"

Demgegenüber betont die nationalkonservative Seite die federführende Rolle der deutschen Besatzer und der faschistischen Pfeilkreuzler, die nach der Absetzung Horthys im Oktober 1944 die Macht übernahmen und spielt eine Beteiligung des Horthy-Regimes und der ungarischen Bevölkerung selbst herunter. Viktor Orbán benutzt die Horthy-Ära zudem oft als positiven Bezugspunkt in der ungarischen Geschichte. Trotz des "Schocks von Trianon" habe man "vom Boden aufstehen und ein erfolgreiches Land aufbauen können", sagte der Ministerpräsident in einer Rede und nannte den Reichsverweser selbst einen "Ausnahmestaatsmann". Da passt die Mitverantwortung für den Tod hunderttausender Juden nur schlecht ins Bild.

Von dieser Geschichtsauffassung zeugt etwa das von der ersten Orbán-Regierung finanzierte und 2002 eröffnete Haus des Terrors. "Nachdem Ungarn zwei Terrorregime überlebt hat, war Zeit gekommen, den Opfern ein angemessenes Denkmal zur errichten und gleichzeitig abzubilden, wie das Leben der Ungarn in diesen Zeiten aussah", heißt es über das Selbstverständnis des Museums auf seiner Website. Im Eingangsbereich erinnern zwei Gedenksteine an die Opfer des kommunistischen Terrors und des Holocausts.

"Haus des "Terrors"

Betritt man aber die Ausstellung selbst, ist vom hunderttausendfachen Mord an den Juden recht wenig zu sehen. In einem Raum finden sich lediglich Hinweise auf die Massenerschießungen durch die Pfeilkreuzler, doch nichts über die Deportationen unter Horthy. Der überwiegende Teil des Museums ist dem Kommunismus gewidmet. „Da sieht man auch schon, worum es in den 90er Jahren zentral gegangen ist, nämlich den Holocaust dazu zu nutzen, um auch die Verfolgung und das Schicksal der kommunistischen Opfer zu beschreiben, um zwei Terror-Regime gleichzusetzen“, sagt Regina Fritz.

Die offizielle Lesart der Orbán Regierung ist seit dem 1. Januar 2012 sogar in der ungarischen Verfassung festgehalten. In der Präambel ist von der "am neunzehnten März 1944 verloren gegangenen staatlichen Selbstbestimmung unserer Heimat" die Rede, eine Formulierung, die die Verantwortung Ungarns und der ungarischen Bevölkerung für alles nach diesem Datum bis 1990 implizit ablehnt. Die Entscheidung Orbáns, seine Geschichtsinterpretation in Verfassungsrang zu heben, stieß in Ungarn auf einige Kritik: "Ich halte es für sehr schädlich, dass sie (die Regierung – d. Red.) geschichtswissenschaftliche Kontroversen mit machtpolitischen Mitteln lösen wollen", kommentierte etwa der prominente ungarische Historiker Krisztián Ungváry.

"Nationale Tragödie für Ungarn"

Doch die Position der Regierung Orbán ist nicht immer ganz eindeutig. Das zeigte sich bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag im Jahr 2014. In einer Rede in Auschwitz  erkannte Orbán die ungarische Verantwortung für den Holocaust auf internationale Bühne an, wie Spiegel Online dokumentiert hat: "Wir waren ohne Liebe und unentschlossen, als wir hätten helfen sollen", sagte Orbán. Sehr viele Ungarn hätten sich zum schlechten Handeln entschlossen statt zum guten, "zu beschämenden Aktionen statt zu ehrenwerten", sagte er und nannte den Holocaust eine "nationale Tragödie für Ungarn".  Staatspräsident János Áder hielt zum Tag der Befreiung in Auschwitz eine ähnliche Rede. "Aber es gibt oft einen Unterschied zwischen dem, was nach außen hin kommuniziert wird, dort wo das Ausland hinschaut, und was nach innen an die eigenen Staatsbürger weitergegeben wird", hat Regina Fitz beobachtet.

Und tatsächlich endeten zu Hause die Gedenkfeiern im Streit: Ein geplantes Museum für die Opfer des Holocausts unter Federführung der Direktorin des Terror-Hauses, Mária Schmidt, scheiterte letztlich am Widerstand vieler jüdischer Organisationen. Die lehnten das Konzept ab und hielten überdies Schmidt für ungeeignet. Einer eigens von der Regierung eingerichteten Stiftung zur Förderung von Projekten zu den Gedenkfeierlichkeiten wurde vorgeworfen, sie versuche, durch ihre Förderpolitik die Geschichte zu verzerren, etwa, in dem sie etwa überproportional viele Projekte zu ungarischen Rettern finanzierte.

Denkmal für die deutsche Besatzung

Doch die größte Kontroverse verursachte das Denkmal für die deutsche Besatzung, das die Regierung im August 2014 in der Budapester Innenstadt errichten ließ. Es zeigt einen Adler, der auf den Erzengel Gabriel herabstößt, ein Sinnbild für Deutschland, das das wehrlose Ungarn attackiert. Das Denkmal rief zahlreiche Kritiker auf den Plan, die darin eine Verzerrung der Geschichte und einen weiteren Versuch sahen, Ungarn von der Verantwortung für den Holocaust reinzuwaschen. Aus Protest legten Menschen vor dem Denkmal persönliche Gegenstände und Fotos von Opfern des Holocaust vor dem Denkmal ab und trafen sich regelmäßig zu Diskussionen. So entstand ein lebendiges Mahnmal, das bis heute besteht.

Tiefe Gräben

Der ungarische Historiker Ferenc Laczó bewertet die Feierlichkeiten daher kritisch: Die Regierung habe versucht, "die jüngste Vergangenheit weiterhin als nationalistische Erzählung zu formulieren, und gleichzeitig ihren beschädigten Ruf aufzubessern, indem sie wenigstens ein paar der Erwartungen an eine selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte erfüllt". Deshalb habe man versucht, der Opfer zu gedenken, ohne die eigene Verantwortung in den Vordergrund zu stellen. Doch "das Endergebnis des Jahres des Holocaustgedenkens (war) eine weitere Polarisierung der ungarischen öffentlichen Meinung. Der 70. Jahrestag des Holocaust hat die tiefen Gräben, die er eigentlich überwinden wollte, nur vertieft."

Doch während die Regierung ihre Geschichtsauffassung weiter befördert, kommen von den  Kulturschaffenden ganz andere Töne. So hat etwa der Film "1945" des ungarischen Regisseurs Ferenc Török auf internationalen Festivals für einiges Aufsehen gesorgt, der sich mit der Schuld der Ungarn auseinandersetzt. Es bleibt also widersprüchlich.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Brisant | 28.01.2017 | 17:10 Uhr

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