Shoppen am "Tag des Herrn"?

05. September 2016, 13:29 Uhr

Polen ist eines der katholischsten Länder Europas: 90 Prozent beschreiben sich als gläubig. Dennoch pilgert fast jeder Zweite nach dem Kirchgang noch zum Sonntags-Shopping. - Ein Interview mit Aniela Dylus.

Die liberalen Ladenöffnungszeiten machen es den Polen aber auch leicht: Sonntags einkaufen ist bis in die späten Abendstunden möglich, wer will kann in einigen großen Supermärkten sogar rund um die Uhr shoppen. Doch da stellt man sich doch die Frage: Polen sind mehrheitlich katholisch. Warum ist das sonntägliche Einkaufen in Polen dann nicht schon längst passé? Im Interview die polnische Politologin Aniela Dylus.

In Deutschland gilt der Sonntag als Ruhetag, für viele Gläubige gar als "Tag des Herrn". Glauben und Shoppen am Sonntag  – für Polen scheint das keinen Widerspruch darzustellen, warum?

Wir haben noch keinen Sinn dafür, was uns dadurch entgeht. Die Polen lieben lange Wochenenden, sie feiern sehr intensiv Weihnachten, Ostern und andere kirchliche Feiertage, aber sie messen einer gesetzlich geregelten Sonntagsruhe keine große Bedeutung bei. Es gab schon mehrfach Anläufe, das gesetzlich zu regeln, aber alle sind gescheitert. Nur an den 13 gesetzlichen Feiertagen bleiben die Ladentüren in Polen dicht. Warum das so ist: Eine gewisse Rolle spielt möglicherweise die Tatsache, dass die Polen, aus ihrer Geschichte heraus, dem Staat und den Gesetzen misstrauen. Wir hängen der Illusion nach, dass wir keine gesetzlichen Regelungen nötig haben, um gewisse Werte zu schützen, in diesem Fall den freien Sonntag. Zum anderen bleibt die aufdringliche Propaganda mächtiger Interessengruppen, großer Handelsketten, nicht ohne Wirkung, die Schreckensszenarien wie steigende Arbeitslosigkeit und schwächelnde Konjunktur verbreiten. Außerdem arbeiten die Polen im europäischen Vergleich sehr lang, die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit von 2.000 Stunden gehört zu den höchsten innerhalb der Europäischen Union, weshalb viele erst am Sonntag dazu kommen, ihren Wocheneinkauf zu machen. Und noch eine Sache spielt eine Rolle: In den großen Shoppingmalls, wo es neben Geschäften auch Kinos, Cafés, Kinderspielecken usw. gibt, verwischt sich die Grenze zwischen Handel und Freizeit.

Die Tradition, am Sonntag einzukaufen gibt es ja in Polen erst seit den 90er Jahren. Hält man es deshalb für ein besonderes Privileg?

Dafür muss man sich an die Atmosphäre, die Anfang der 90er Jahre herrschte, erinnern: Wir waren begeistert von der Freiheit, vom freien Markt. Viele Polen sind Individualisten und denken: "Niemand kann uns vorschreiben, wie wir unseren Sonntag zu verbringen haben", oder "Ich entscheide selbst!"

Weil der Sonntag jedoch ein "heiliger Tag" ist, hat die Kirche auch versucht, diesen heiligen Charakter zu bewahren. Viele Polen haben sich von linken oder kirchenfernen Gruppen einreden lassen, dass sie sich zunächst der "roten Diktatur" unterworfen hätten, also dem Kommunismus, und sich dann von der "schwarzen Diktatur", nämlich der klerikalen, vorschreiben ließen, was sie (am Sonntag) zu tun hätten.

Außerdem holten wir gerade zu Beginn der Transformation den Konsum nach, den wir zuvor nicht hatten. Die Basare in vielen Städten, sogenannte Warenbörsen, waren ein Symbol für den im Entstehen begriffenen Kapitalismus. In Warschau am "Stadion des 10. Jahrestages" wurden gerade am Sonnabend und Sonntag attraktive, billige Produkte feilgeboten. Es wurde für viele zur Gewohnheit, diese Märkte mit der ganzen Familie zu besuchen. Später wurden diese Ausflüge dann eben in den zivilisierteren Einkaufszentren fortgeführt.

Warum ist die Kirche nicht stärker involviert, ein Ladenschlussgesetz voranzubringen? In Deutschland gibt es große kirchliche Kampagnen, in Polen bekommt man davon wenig mit.

Ich bin mit dieser These nicht einverstanden. Die Kirche war und ist nach wie vor an diesem Thema interessiert. Denken Sie doch nur an das Apostolische Schreiben Johannes Paul II "Dies Domini" von 1998. Auch die polnische Bischofskonferenz hat mehrfach Stellung dazu bezogen. Die jetzige Bürgerinitiative für einen handelsfreien Sonntag genießt volle Unterstützung der Bischöfe und der katholischen Medien. Falls bei Ihnen aber der Eindruck entstanden ist, dass die Kirche sich diesbezüglich zu stark zurückhält, finde ich das sogar gut. Denn bei dieser Bürgerinitiative geht es nicht in erster Linie darum, einen religiösen Wert zu schützen, sondern ein allgemeinmenschliches Gut, und sicher auch einen gesamteuropäischen Wert, der eine ganz wesentliche Bedeutung für unsere Identität hat. Die Sonntagsruhe ist schließlich das älteste soziale Gesetz der Welt. Freilich, der Sonntag ist auch ein religiöses Fest der Christen, aber auch ein Kulturgut. Wenn der weltanschaulich neutrale Staat den Sonntag schützt, dann tut er dies aufgrund der Menschenrechte und aufgrund des kulturellen Wertes.

Zur Person:

Aniela Dylus ist Professorin für Politikwissenschaften an der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität in Warschau. Sie ist Mitglied des Komitees, das sich für ein Ladenschlussgesetz und den handelsfreien Sonntag einsetzt.