Auf dem Weg in den Westen Lettland: Zuversicht statt Sorge

23. August 2019, 11:34 Uhr

Lettlands Weg führt in Richtung Westen: 2004 erfolgte neben dem EU-Beitritt auch die Aufnahme in die NATO. Doch für "wirbelnde Luftstöße" sorgt der "Gegenwind aus Osten" vom Nachbarn Russland.

Ähnlich wie in den beiden anderen baltischen Ländern sind die Beziehungen zu Russland angespannt. Es geht einerseits um die unterschiedliche Deutung der Vergangenheit, andererseits um die russische Minderheit in der mittleren baltischen Republik. Im Geschichtsstreit bestehen die Letten auf Anerkennung der Stalin-Okkupation der  baltischen Staaten seit 1940 durch die heutige russische Führung. Doch Moskau sieht die unter Historikern weitgehend unumstrittene sowjetische Annektierung der schon im Zarenreich als "Ostsee-Provinzen" genannten Staaten als einen "freiwilligen Beitritt" zur UdSSR an.

Jeder vierte Lette ist Russe

In der sowjetischen Zeit erlebte Lettland eine völlige Durchmischung seiner Bevölkerung: Während lettische Bürger in mehreren Deportationswellen im Stalinismus nach Sibirien verschleppt wurden, kamen Hunderttausende Russen, Ukrainer und Weißrussen an die Düna. Als Arbeitskräfte wurden sie in der Industrie gebraucht, zudem sollten sie den Kommunismus in der Rigaer Bucht etablieren. Im gleichen Maße wie die Einwanderung von Russen gefördert wurde, unterdrückte man die lettische Sprache. Der Russifizierungsprozess schritt bis zur Unabhängigkeit weit voran: Statistiken zufolge waren 1989 nur 52 Prozent der Bevölkerung der baltischen Sowjetrepublik Letten und 34 Prozent Russen. Zwar setzte in den 1990er-Jahren eine Auswanderung der russischen Bevölkerung ein, doch noch heute ist jeder vierte Bewohner Lettlands Russe oder russischstämmig, zur lettischen "Titularnation" bekennen sich 62 Prozent.

Umstritten war in Lettland seit der Unabhängigkeit die Lösung des Minderheitenproblems. Die Staatsangehörigkeit wurde allen verliehen, die hier wohnten - darunter auch einem großen Teil der Russen. Die "Naturalisierung", wie an der Düna das Einbürgerungsverfahren genannt wird, bilden Sprach- und Landeskundetests. Doch rund 300.000 - vor allem Russen - haben sich dem Verfahren nicht unterzogen. Oft, weil die Sprachtests für sie zu schwierig waren, oder die für Russischstämmige gewährte visafreie Einreise nach Russland wichtiger erscheint. Eine Reihe von Rechten wird den 300.000 "Nichtbürgern" verwehrt, sie sind vom politischen Leben ausgeschlossen und können keine Staatsbediensteten werden. Obgleich Russischstämmige durchaus auch in der Politik Lettlands Karriere machen können: So ist Nils Usakovs als ethnischer Russe Bürgermeister der Hauptstadt Riga.

Riga Unabhängigkeitserklärung 1 min
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Abhängig von Russland

Auch die Energiepolitik ist ein Zankapfel zwischen den beiden ungleichen Staaten, Russland und Lettland. Die baltische Republik ist gänzlich auf russisches Gas angewiesen. Nur ein Drittel des Stroms kommt aus der Wasserkraft. Entlang der Düna erzeugen drei Kraftwerke Energie. Andere alternative Energien stecken noch in den Kinderschuhen – und das, obwohl Lettland zu den am dünnsten besiedelten Ländern in Europa zählt und sich für Windkraftanlagen besonders eignen würde. Ohnehin verfügt das Land über einen 500 Kilometer langen Küstenabschnitt.

Der Strand in dem Badeort Jurmala, unweit der Hauptstadt Riga, ist besonders bei Russen beliebt. Hier stehen zahlreiche Villen, die russischen Milliardären gehören. Die meisten Russen in Lettland leben jedoch im Südosten um die Stadt Daugavpils, ehemals Dünaburg: Nur jeder zehnte Einwohner hier ist Lette. Dass sich gerade dieser Teil von Lettland lossagen könnte, bezweifelt man auf höchster Ebene in Riga, angesichts der EU- und NATO-Mitgliedschaft des Landes. Dennoch kündigte Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma dieser Tage an, sie wolle die Integration der Russischstämmigen voranbringen. Bis zur Wirtschaftskrise 2009 existierte in Riga dafür ein eigenes Ministerium.

Über Markus Nowak Jahrgang 1982, Studium der Neueren/Neusten Geschichte in Berlin, Warschau und Mailand, Redakteursausbildung am Institut zur Förderung des publizistischen Nachwuchses (München) und in der Katholischen Nachrichten-Agentur (Bonn), Autor für Osteuropa, lebt in Berlin

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 23. August 2019 | 19:30 Uhr

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