Die liberale Flanke des Kreml Russland: Wer sind die Sisliby?

13. September 2016, 14:17 Uhr

Seit Russlands Wirtschaft in der Krise steckt, braucht das Regime die sogenannten System-Liberalen wieder. Was sind ihre Ziele und wie groß ist ihr Potential, tatsächlich Einfluss auf die kremltreue Elite zu nehmen? HEUTE IM OSTEN hat mit Michail Komin gesprochen, Politikwissenschaftler und Berater im Stadtparlament von Sankt Petersburg.

Was wollen die "System-Liberalen" und welche Rolle spielen sie in Russland?

Der Begriff "System-Liberaler" tauchte erstmals Ende der 1990er-Jahre auf. Es handelt sich um eine Klasse innerhalb der russischen Elite, die die Werte der freien Marktwirtschaft vertritt und Russland dahingehend modernisieren möchte. Damit man hier erfolgreicher und freier Business machen kann. Denn das staatskapitalistische System lähmt Russland: Privatwirtschaft wird zurückgedrängt, Diversifizierung und innovative Entwicklungen werden nicht gestärkt und genau das wäre wichtig, damit Russland nicht länger so stark vom Öl und Gas abhängig bleibt.

Ende der 1990er und Mitte der 2000er hatten die "System-Liberalen" noch eine viel stärkere Position in der Putin-Administration und einen besseren Zugang zur Macht als heute. Inzwischen sind sie weniger in der Regierung und der russischen Elite vertreten. Aber einige haben persönlichen Kontakt zu Putin und beginnen jetzt, wieder an die Macht zurückzukehren. Zum Beispiel wurde der ehemalige Finanzminister (2000-2011) Alexej Kudrin im April von Putin zum Leiter des Moskauer Thinktanks CSR ernannt. Damit wurde er zum wichtigsten Wirtschaftsberater des Kremls gemacht. Darüber hinaus wären noch Elvira Nabiullina, seit 2013 Vorsitzende der Zentralbank Russlands, oder der Finanzminister Anton Siluanow zu nennen.

Wenn die Akteure aber Teil des Systems sind, wie liberal und reformistisch können dann die Ideen der "System-Liberalen" überhaupt sein?

Als "System-Liberaler" bezeichnet zu werden, ist für diese Leute tatsächlich eher beleidigend. Denn der Begriff gibt zu verstehen, dass du kein echter Liberaler bist, sondern einer, der sich innerhalb eines autoritären Systems befindet und ihm dient und so zum Fortbestand des Systems beiträgt. Aber das ist wirklich oft nicht der Fall. Tatsächlich streben die "System-Liberalen" - also besser wäre es, sie als "Technokraten" zu bezeichnen - eine friedliche Transformation des Systems an: weg vom derzeitigen hybriden, autarken Regime, hin zum Wirtschaftskapitalismus.

Können sie das denn schaffen?

In der Tat gibt es da Akteure, die dieses Ziel erreichen könnten. Weil sie einerseits zur russischen Elite gehören und also tatsächlich Ressourcen haben, um auf sie einzuwirken. Und weil andererseits ihr Kurs in Richtung eines freien Marktes mit Kontakten und Offenheit zum Westen effektiv ist für die gesamte Russische Föderation. Im Vergleich zu allen anderen im Kreml haben die Technokraten das Ziel, das Regime so zu transformieren, dass nicht nur sie selbst davon profitieren, sondern die ganze russische Wirtschaft.

Warum sollten die russische Elite und Putin Interesse daran haben?

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Junge Petersburger kochen auf eigene Initiative und Kosten Essen und warme Getränke für die wachsende Zahl armer Menschen in der Metropole an der Newa. Viele alte Menschen nehmen diese Hilfe in Anspruch. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Schauen Sie, im Moment hat die Elite Angst vor sozialen Protesten. Davor fürchten sich sowohl die hohen Eliten des Kremls als auch Oligarchen und andere Machtstrukturen. Sie haben Angst davor, dass es gewaltsame soziale Unruhen geben könnte, weil die Bevölkerung immer ärmer wird und seit zwei Jahren der Lebensstandard sinkt. Wenn das so bleibt, wenn es keine sichtbaren positiven Entwicklungen in der Wirtschaft gibt, die man ohne strukturelle Reformen nicht erreichen kann, dann werden soziale Proteste immer wahrscheinlicher und die Gefahr für die Elite, Macht und Kapital zu verlieren, immer größer.

Putin und die russische Elite können kein Interesse an einer Wiederholung des arabischen Frühlings oder des ukrainischen Maidans haben. Die Angst davor treibt die Elite zu Veränderungen an. Und angesichts der Tatsache, dass die demokratische Opposition zerstritten ist und kaum Rückhalt in der Bevölkerung hat, haben gerade die Technokraten oder, wie wir sie nennen, die "System-Liberalen", eine gute Möglichkeit für eine unblutige Transformation. Und sie geben der derzeitigen Kreml-Nomenklatura genügend Verhandlungsspielraum, sich auf Reformen einzulassen, ohne das Gesicht zu verlieren. Ob es funktionieren wird, das ist eine große Frage. Alles hängt davon ab, mit welchem Programm und welchen Zielen Wladimir Putin zur nächsten Präsidentschaftswahl antreten wird.

Wie ist Ihre persönliche Meinung über die Sisliby?

Ich unterstütze die Werte dieser Technokraten. Sie sind mir sehr nah.

Sisliby Die sogenannten "System-Liberalen", kurz auch Sisliby genannt, sind eine Gruppe von wirtschaftsliberal ausgerichteten Ökonomen in Russland, die Zugang zu Präsident Putin haben, sich für Reformen einsetzen, aber Putin und sein System nicht in Frage stellen. Sie sind überzeugt, Russland muss sich verändern und kritisieren die Regierung mitunter scharf - jedoch ohne Putins Macht anzutasten.