Krieg in der Ukraine Friedensforscher warnen vor Atomkrieg

22. Juni 2022, 10:12 Uhr

Der Slogan "Frieden schaffen ohne Waffen" scheint angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine überholt zu sein: Die führenden Friedensforschungsinstitute begrüßen die Waffenlieferungen an die Ukraine. Allerdings warnen sie davor, dass die Ukraine zu einem internationalen Drehkreuz des Waffenhandels werden könnte. Und sie sorgen sich vor einem Atomkrieg.

In der in Deutschland intensiv geführten Debatte um die Lieferung schwerer Waffensysteme an die Ukraine stellen sich die wichtigsten Friedensforschungsinstitute auf die Seite der Befürworter – allerdings mit einer Einschränkung. "Wir begrüßen die Waffenlieferungen", erklärte Professor Tobias Debiel von der Universität Duisburg Essen bei der Vorstellung des Friedensgutachtens 2022. Denn: Neben den verhängten Sanktionen würden Waffen für die Ukraine den Druck auf Russlands Präsident Wladimir Putin erhöhen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen.

Zugleich warnten die Forscherinnen und Forscher vor einer nuklearen Eskalation. Der Ukraine-Krieg erhöhe das Risiko einer nuklearen Eskalation massiv – und das in einer Zeit, in der internationale Verträge zu nuklearen Rüstungskontrolle auslaufen, betonten die Autorinnen und Autoren des Gutachtens.

Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.

Friedensgutachten 2022

Schritt für Schritt gelte es daher zu prüfen, welche Wirkung die Lieferung bestimmter Waffensysteme hätte. Grundsätzlich bescheinigen die Wissenschaftler der Bundesregierung, hier auf einem relativ guten Weg zu sein – die Doppelstrategie aus dem Entsenden von Waffen und dem Signalisieren von Dialogbereitschaft sei richtig. An der Kommunikation jedoch hapere es.

Gefahr eines Atomkriegs wächst

Die Friedensforscher warnen davor, dass derzeit alle Staaten neue Trägersysteme für nukleare Waffen entwickelten und die Arsenale wüchsen. Die Nato solle deshalb den Verzicht auf einen atomaren Erstschlag offiziell erklären, sagte Debiel. Eine derartige Erklärung könnte das Vertrauen in das westliche Bündnis und gleichzeitig den Druck auf Russland erhöhen.

Langfristig dürfe das Ziel einer europäischen Friedensordnung nicht aus dem Blick verloren werden, sagte Ursula Schröder vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Sie wies darauf hin, dass reine Sicherheitsordnungen, die auf Abschreckung basierten, nicht so stabil seien wie Friedensordnungen.

Friedensgutachten Das Friedensgutachten ist eine jährliche Publikation des Bonn International Centre for Conflict Studies, des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und des Instituts für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen.

Sie hob hervor, dass Kriegsverläufe bereits "Teil von Verhandlungsprozessen" seien. Friedensverhandlungen oder Verhandlungen um Koexistenz seien eher möglich, wenn es eine militärische Pattsituation gebe, in der alle Kriegsparteien davon ausgehen müssten, dass ihre Ziele nicht mehr militärisch erreichbar seien. In diesem sogenannten reifen Moment könne es die Möglichkeit geben, Verhandlungen auf den Weg zu bringen.

Ukraine könnte Waffen-Drehkreuz werden

Das Gutachten geht davon aus, dass sich die Ukraine mit längerer Dauer des Krieges "zu einem Drehkreuz des internationalen Waffenhandels entwickeln" wird. In Konfliktregionen wie Berg-Karabach, Syrien, Irak, Afghanistan, aber auch Tigray und Südsudan "werden Waffen aus dem Ukraine-Konflikt in den kommenden Jahren vermehrt auftauchen".

Auch vor Ernährungskrisen wird gewarnt. Gerade südliche Mittelmeeranrainer wie Ägypten, Libanon und Tunesien sowie Staaten in Ostafrika wie Sudan, Kenia und Äthiopien seien von Getreidelieferungen aus der Ukraine und Russland abhängig. Es handele sich um Länder, die politisch instabil seien und wo es in der Vergangenheit wegen steigender Preise immer wieder "Brotaufstände" und Gewalt gegeben habe.

Strategien für Zeit nach Krieg entwickeln

Die Friedensforscher sprechen sich zudem dafür aus, schon jetzt die Zeit nach dem Krieg zu planen und Strategien für eine neue europäische Friedensordnung zu entwickeln. Die Europäische Union müsse in der Außen- und Sicherheitspolitik handlungsfähiger werden und ihre Entscheidungsverfahren beschleunigen.

Gleichzeitig wird in dem Gutachten betont, dass eine feministische Außenpolitik "notwendiger denn je" sei. Sie zeige neue Lösungsperspektiven, weil sie den Blick auf gesellschaftliche und internationale Machtungleichgewichte richte, die vielen Konflikten zu Grunde liegen. Zudem lege die feministische Außenpolitik den Fokus auf Gewaltprävention.

MDR AKTUELL/Kai Küstner/dpa/epd/KNA (asü)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 21. Juni 2022 | 13:06 Uhr

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