MDR KULTUR-Spezial Martin Luther - Ein schwieriger Held

29. März 2019, 11:16 Uhr

Martin Luther war ein starker Charakter - mit höchst widersprüchlichen Zügen. In seinen Schriften zeigte sich der Reformator einerseits einfühlsam und verständnisvoll. Aber er konnte auch höhnisch schreiben, aggressiv und verletzend. Die Ambivalenzen in der Persönlichkeit Martin Luthers sind bis heute erklärungsbedürftig. Und gerade im Jahr des Reformationsjubiläums rufen sie auch Widerspruch hervor - bei Schriftstellern, Philosophen und Intellektuellen.

Seine Ausfälle sind bekannt: die Tiraden, mit denen er den Papst und seine Kirche überzog. Die Hetzreden, mit denen er zum Hass gegen die aufständischen Bauern aufstachelte. Und, nicht zuletzt, die Polemik, mit der er gegen Ende seines Lebens die Juden verunglimpfte - und die in den folgenden Jahrhunderten ihre fatale Wirkung erst recht entfalten sollte.

Martin Luther, der große Reformator, war auch ein ungestümer Agitator. Einen Überzeugungstäter nennt ihn der Philosoph Christoph Türcke in seinem gleichnamigen Buch. ("Martin Luther - Steckbrief eines Überzeugungstäters", Zu Klampen-Verlag). Türcke, der bis zu seiner Emeritierung an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst lehrte, legt den Reformator auf die Couch. Bei Luther diagnostiziert er ein Burn-Out. Um dessen wechselhaften Stimmungen zu fassen, fallen ganz moderne Begriffe wie "bipolare Störung" und "manisch-depressiv".

Ich pathologisiere Luther nicht. Sondern versuche klar zu machen, wie es denn zu diesem Umschwung aus tiefer Depression in ein Glaubenshochgefühl gekommen ist. Und dieses Glaubenshochgefühl konnte er sich nur erhalten, indem er ständig Widerstände bekämpfte und überwand.

Christoph Türcke

Der Teufel sei Luthers ständiger Gegner gewesen, aber auch sein mentales Opiat, wie Türcke schreibt. Das, so Türcke, ließ Luther zum Überzeugungstäter werden.

Wichtiges Versäumnis

Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius erkennt bei dem Reformator einen weiteren Fehler: Martin Luther habe es versäumt, die kirchliche Lehre der Erbsünde abzuschaffen. In seiner kleinen Streitschrift ("Warum Luther die Reformation versemmelte", rororo). wirft der Schriftsteller, der nach eigenen Worten "die himmlischen Freuden des Nichtglaubens den seelenquälerischen Irrgärten des Glaubens" vorzieht, Martin Luther vor, er habe …

… sich gern in Sündengefühlen und Sündenbegriffen gesuhlt, genüsslich die Abscheu vor Teufel und Hölle ausgemalt. Jedes menschliche Handeln war und ist auch für Sie mit Sünden behaftet, und Sie haben diese Theorie noch verschärft, weil sie Ihnen offenbar unverzichtbar war; weil sie gebraucht wurde als Baustein für Ihre Rechtfertigungs- und Gnadentheorie.

F.C. Delius

Martin Luther, so Delius, sei auf halbem Weg des Reformierens stehengeblieben. Und der Schriftsteller wünscht sich, dass die evangelische Kirche diese Reform - die Abschaffung der Sündenlehre - wenigstens im Jahr des Reformationsjubiläums vollende.

Bauchentscheidungen

Doch wie lässt sich umgehen mit dem "schwierigen Helden" Martin Luther? Der Lyriker und evangelische Theologe Christian Lehnert sieht die Widersprüchlichkeit Luthers zum einen in seinem "überschießenden Charakter" begründet. Der Reformator sei ein Bauchmensch gewesen, kein abwägender Intellektueller.

Martin Luther ist als Theologe, Politiker, Mensch in jeder Richtung immer wieder übers Ziel hinausgeschossen. Er war ein feinsinniger Mystiker, ein sprachsensibler Poet und gleichzeitig wusste er die Leute zu begeistern. Metaphern setzte er in seinem Sinn ein - auch mit Gewalt und Aggressivität.

Christian Lehnert

So war Luther eben nicht nur ein gewaltiger Sprachschöpfer, dem die deutsche Sprache unendlich viel verdankt. Er schuf auch eine Sprache der Gewalt. Lehnert, der kürzlich ein Buch über religiöses Sprechen veröffentlicht hat ("Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet", Suhrkamp), weist darauf hin, dass in jeder Religion der Keim des Fundamentalismus stecke. Luthers Hetzreden nicht zu verschweigen, sie in ihrem historischen Zusammenhang zu lesen und kritisch nach ihrer Wirkungsgeschichte zu fragen, sei deshalb die Aufgabe für dieses Reformationsjubiläum.

Über dieses Thema berichtet MDR KULTUR auch: im Radio | MDR KULTUR-Spezial | 01.03.2017 | 18:05-19:00 Uhr