Reportage Land ohne Glauben?

22. Juli 2023, 15:18 Uhr

Heute ist im Osten Deutschlands nur noch jeder Fünfte Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche. Die Austrittszahlen bleiben beständig hoch. Doch hat das auch Einfluss auf das soziale Verhalten und die gelebten Werte? Welche Folgen hat die verbreitete Konfessionslosigkeit für die Lebensentwürfe und Wertemuster der Menschen im Osten Deutschlands, insbesondere der Jugendlichen?

Konfessionslos zu sein ist im Osten Deutschlands völlig normal, das trennt ihn vom Westen Deutschlands, in dem trotz der Kirchenaustrittszahlen immer noch eine Kultur der Konfessionalität herrscht. Was dort noch immer einigermaßen selbstverständlich ist, Kinder taufen zu lassen, sie zum Konfirmandenunterricht oder zur Firmung zu schicken, das ist im Osten zur Ausnahme geworden.

Religionssoziologen sprechen gar von einer der "gottlosesten Regionen der Welt". Durchschnittlich gehören 80 Prozent der Ostdeutschen keiner Kirche an: In Sachsen-Anhalt sind es 83 Prozent, in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern jeweils knapp 80 Prozent, in Sachsen 75 Prozent. Im Westen sind es gerade mal 25 Prozent.

Staat ohne Kirche?

Journalistin Anja Köhler
Anja Köhler, Journalistin Bildrechte: MDR/Hoferichter&Jacobs

Begonnen hat alles 1949 mit der Gründung zweier deutscher Staaten. Anfangs sind 95 Prozent aller Deutschen konfessionell gebunden, und nur 5 Prozent sind konfessionslos. Dann beginnt in der DDR ein ideologischer Kampf gegen die Institution Kirche. Der Staat schafft eigene Regeln, Normen, Rituale. Für alles gibt es Medaillen, Urkunden, Prämien. Die Erziehung des "sozialistischen Menschen" beginnt schon im Kindergarten. Innerhalb kürzester Zeit verzehnfacht sich der Anteil der Konfessionslosen: Aus fünf Prozent werden 50 Prozent. 1989 sind es schließlich 70 Prozent. Religion und Kirche spielen keine Rolle mehr im Leben, man wächst nicht damit auf und vermisst auch nichts. So wuchs auch die Chemnitzerin Anja Köhler auf.

Wir sind vollkommen gottlos aufgewachsen. Wir wussten natürlich, es gibt eine Kirche, und es gibt Religion. Aber wir haben das nie thematisiert. Wir hatten andere Familienrituale: gemeinsames Abendessen, Ausflüge, gemeinsames Reden... Aber Kirche hat nie eine Rolle gespielt.

Anja Köhler, Journalistin

Unumkehrbarer Traditionsabbruch?

Und so sind die Kinder der DDR und der Nachwendezeit überwiegend konfessionslos. In den meisten Familien wird Religion nicht mehr gelebt, wachsen die Kinder schon in der dritten Generation ohne Kontakt mit religiösem Wissen und ohne Erfahrungen mit religiöser Praxis auf. Wissenschaftler sprechen vom "Traditionsabbruch", und der scheint unumkehrbar.

Land ohne Glauben
Sylvia Ernst diskutiert mit Schülern über ethische Fragen. Bildrechte: MDR/Hoferichter&Jacobs

Das merken auch Schulen in kirchlicher Trägerschaft wie das Norbertus-Gymnasium in Magdeburg. Die Schule ist beliebt, aber 40 Prozent der Schüler sind nicht getauft. Der Religionsunterricht ist hier freiwillig. Auch längst nicht alle Lehrer sind konfessionell gebunden. Konfessionslosigkeit ist hier normal. Und so bietet die Schule konfessionslosen Jugendlichen die Möglichkeit der Lebenswendefeier - jenseits von Konfirmation oder Jugendweihe.

Manche Familien wollen die Jugendweihe nicht mehr machen. Sie wollen ihre Kinder anders ins Erwachsenenleben entlassen, mit einem Alternativprogramm.

Sylvia Ernst, Lehrerin am Norbertus-Gymnasium Magdeburg

Die Schüler bereiten sich in Gesprächsrunden rund ums Erwachsenwerden intensiv auf das Fest vor. Dabei zeigt sich, dass den Jugendlichen hier dieselben Werte wichtig sind wie den Jugendlichen im Westen. Dass zum Beispiel Menschen gerecht behandelt werden müssen, sagen 96 Prozent der westdeutschen Jugendlichen und 95 Prozent der ostdeutschen. Auch Hilfsbereitschaft schätzen Jugendliche in Ost und West gleichermaßen wert. Der Ort, an dem Werte vermittelt werden, ist hier wie dort vor allem die Familie.

Die Kirche im Dorf lassen?

Die Horburger Kirche
Die Horburger Kirche Bildrechte: MDR/Hoferichter&Jacobs

Doch was passiert mit den Kirchen, wenn die Institution Kirche immer mehr ihre Rolle als Vermittler und Garanten von Werten verlieren? Die Kirche soll im Dorf bleiben, soll erhalten bleiben als Treffpunkt und Kulturstätte. So wird es auch schon vielerorts gehandhabt. Zum Beispiel in Horburg, einem Ortsteil von Leuna. Hier gründeten Konfessionslose und Kirchenmitglieder eigens einen Verein, um die Kirche zu erhalten und mit Leben zu füllen.

Ich bin der Meinung, dass die Konstellation innerhalb unseres Vereins, also zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, die einzige Chance ist, das solche Sachen wie die Horburger Kirche mit ihrer Geschichte überleben. Ich bin der festen Überzeugung, dass es genauso viele Menschen gibt, die keinem Glauben angehören, aber die jeden Morgen aufstehen und sich fragen: Was kann ich heute Gutes tun am Nächsten? Das ist ein zutiefst religiöses Prinzip - Nächstenliebe.

Michael Seifert, Freundeskreis Horburger Madonna

Die Dokumentation von Kai Voigtländer macht sich auf die Reise in das "Land ohne Glauben". Sie zeigt, wie die Kirchen mit dem Traditionsabbruch umgehen. Und sie fragt, ob es Folgen für das Zusammenleben hat, wenn die Kirchen als Vermittler von Werten praktisch ausfallen.

Dieses Thema im Programm: Nah dran | 26. Oktober 2017 | 22:35 Uhr