Madonnenverehrung Grenzüberschreitend: Auf Wallfahrt im Osterzgebirge

Auf dem Erzgebirgskamm wächst Gras über die Geschichte. Im wahrsten Sinne des Wortes: Viele Dörfer wurden hier nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der Deutsch-Böhmen abgerissen – die Grenze zwischen Deutschen und Tschechen war Jahrzehnte lang abgeriegelt. Dabei verbindet die Menschen auf beiden Seiten eine Jahrhunderte alte Geschichte – so wie in Fürstenau und Vorderzinnwald im Osterzgebirge. Dort feierten Menschen erstmals seit fast 80 Jahren wieder eine Wallfahrt.

Wenn die Kirschen reif waren, haben Anni Grießbachs Eltern bei der Wallfahrt zur Madonna in ihrem Dorf Vorderzinnwald wahrscheinlich auch gesungen. Die Kapelle steht hoch oben auf dem Erzgebirgskamm. Nun singt Anni Grießbach neben ihrem Mann. Der Ort ist der gleiche, nur trägt er inzwischen den tschechischen Namen Cinovec. Und statt einer Kirche ist über ihr Himmel: "Meine Eltern haben wenig erzählt. Für sie war es schmerzvoll: Mein Vater hat von den Höhen von Fürstenau zugesehen, wie sein Haus oben abgerissen wurde. Sie haben versucht, das Leben hinter sich zu lassen – aber man spürt, was in ihnen vorgegangen sein muss."

Nun sind die Kirschen wieder reif: 77 Sommer nach den Verbrechen der Nationalsozialisten und nach der Vertreibung der Deutsch-Böhmen. Der tschechische Historiker Jan Kvapil will die alte Wallfahrt nach Vorderzinnwald wiederbeleben. Als Altar dient ein Biertisch zwischen Brennnesseln und Himbeersträuchern. Jan Kvapil hebt einen Ziegelstein auf: "Der Ziegel ist von der Kapelle. Ein alter k.-und-k.-Ziegel. Früher gab es hier ein lebendiges Dorf mit Schule, Kneipen, Feuerwehr und Kapelle."

Wallfahrten über die Grenze

Nach der Vertreibung wurde Vorderzinnwald abgerissen, wie viele deutsch-böhmische Dörfer. Jan Kvapils Großvater hasste die Deutschen. Zwei deutsche Kriege hatte er in den Knochen. Sein Enkel aber sucht nun unter dem Grün des Erzgebirgskamms nach Spuren der einstigen deutschen Bewohner. Was er gefunden hat, können Wanderer jetzt vor Ort auf ihren Handys sehen mittels alter Fotos und virtueller Realität: "So können wir uns die Kapelle von allen Seiten anschauen und sogar hineingehen."

Jan Kvapil hat auch alte Wallfahrtslieder in einem Gesangbuch der Deutsch-Böhmen gefunden. Auf den Bierbänken vor ihm singen Deutsche und Tschechen zusammen – fast so wie früher, sagt Isolde Böhm aus Fürstenau: "Sonntags sind sie rübergelaufen in die ganzen Gastwirtschaften." Solche Geschichten kennt sie von ihren Eltern. Gemeinsam mit ihrem Mann Karl-Heinz ist sie den alten Wallfahrtsweg über die Grenze gelaufen – obwohl das Paar evangelisch ist. Sie kennen auch die Legenden um die Madonna von Fürstenau.

Die Madonna: Neuer alter Treffpunkt

Die katholischen Böhmen pilgerten jedes Jahr ins evangelische Fürstenau auf sächsischer Seite. In der Kirche verehrten sie das goldene Bildnis der Mutter Jesu, ein Altar aus dem Mittelalter. Als die Vorderzinnwalder 1887 ihre eigene Kapelle bauten, holten sie ihn zu sich. Jan Kvapil erzählt die alten Legenden. In ihnen wechselt die Madonna immer auf wundersame Weise über die Grenze hin und her, ganz von selbst: "Die Madonna ist ein Symbol für diese bewegte oder bewegende Geschichte über die Menschen, die immer wieder über die Grenze gegangen sind, einmal positiv, einmal negativ. Diese Madonna könnte eine Art festen Punkt bieten, an dem wir uns versammeln."

Die Madonna von Vorderzinnwald erscheint dank virtueller Realität auf dem Smartphone heute wieder in Vorderzinnwald. Ab Herbst gibt es eine Kopie in der Fürstenauer Kirche. Ihre Grenzgänge sind also noch lange nicht zu Ende.

Mehr zu Wallfahrt und Spiritualität

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 09. Juli 2022 | 07:45 Uhr