Stasi-Fall bei der Volkssolidarität Pößneck Der heimliche Bürgermeister, der "Heinz Fritzsche" war

18. November 2014, 18:00 Uhr

Der langjährige Geschäftsführer des Volkssolidarität-Kreisverbandes Pößneck hat umfangreich für die DDR-Staatssicherheit gespitzelt. Wie aus Akten hervorgeht, die MDR THÜRINGEN vorliegen, wurde Helmut Weißbrich Ende der 1960er-Jahre geworben, um die Jugendszene in Pößneck zu überwachen. Weißbrich steht seit 27 Jahren an der Spitze des Volkssolidarität-Kreisverbandes. Dem MDR sagte er, er habe aus Überzeugung mit der Stasi zusammengearbeitet und niemandem geschadet. Einen Grund für Konsequenzen sehe er nicht.

Helmut Weißbrich gibt sich gern als der Samariter aus dem Orlatal: Als Geschäftsführer der örtlichen Volkssolidarität errichtete er in den vergangenen 20 Jahren ein Wohlfahrtsimperium: Kindereinrichtungen und Altenheime, betreutes Wohnen und Lehrlingswohnheim. Mehr als 100 Millionen Euro investierte der in den östlichen Bundesländern größte Wohlfahrtsverband nach eigenen Angaben im ehemaligen Kreis Pößneck. Mit 450 Mitarbeitern gehört die Volkssolidarität zu den großen Arbeitsgebern in der Region. Mehr als 4.000 Mitglieder sind in mehr als 80 Ortsgruppen organisiert. Weißbrich ist ein Netzwerker, er ist leutselig und hat über Jahrzehnte gewachsene Verbindungen. Er hat Macht und Einfluss. Manche nennen ihn deshalb sogar den heimlichen Bürgermeister von Pößneck oder auch den heimlichen Landrat. An ihm kommt in der Region keiner vorbei. Wenn Weißbrich zum Jahresende die Geschäftsleitung bei der Volkssolidarität abgibt, sieht die Bilanz hervorragend aus. Eigentlich wäre der Geschäftsführer ein Kandidat für das Bundesverdienstkreuz. Doch Joachim Gauck wird ihm wohl keinen Orden ans Revers heften.

MDR THÜRINGEN liegt die Stasi-Akte des Inoffiziellen Mitarbeiters "Heinz Fritzsche" vor. Registernummer X/330/68. Rund 350 Blatt verwahrt die Stasi-Unterlagenbehörde: Verpflichtungserklärungen, Aufträge, Treffberichte, Quittungen und Einschätzungen. Die Aktenlage ist eindeutig. Der Vorgang beginnt im Sommer 1968. Helmut Weißbrich, damals noch Ziegengeist, gerät zufällig ins Visier der Staatssicherheit. Die ist auf der Suche nach einem Informanten im Kreisbetrieb für Landtechnik Krölpa, um die mehr als 40 Jugendlichen in der Firma "abzusichern". Weißbrich, selbst erst 19 Jahre, ist der ideale Kandidat: Er ist nicht nur jung, sondern auch in der FDJ aktiv. Unteroffizier Schyschka spricht den Jungfacharbeiter an. Und Weißbrich plaudert. Bereits zwei Wochen später gibt es ein weiteres Kontaktgespräch. Führungsoffizier und Kandidat treffen sich immer wieder konspirativ, zunächst im Betrieb, dann auch im Jugendclub "Rosengarten", wo Weißbrich aktiv ist. Jugendfreund Weißbrich beklagt sich darüber, dass im Kreis Pößneck Tanzkapellen Auftrittsverbote hätten, in anderen Kreisen aber spielen dürften. Er habe deshalb schon eine Eingabe geschrieben. Die Staatssicherheit ist von Weißbrich angetan. Er soll Geheimer Informator, was dem späteren Inoffiziellen Mitarbeiter (IMS) entspricht, werden. In dem Vorschlag zur Anwerbung heißt es: "Durch seine gute Anpassungsfähigkeit ist der Kand. in der Lage, Kontakt zu uns interessierende Personenkreise herzustellen und kann auf Grund seiner bisherigen gesellschaftlichen Tätigkeit ebenfalls politische Informationen geben." Und: "Weiterhin haben die Gespräche mit dem Kand. gezeigt, dass er mit Legenden zu arbeiten versteht, da er die ihm mitgegebenen Verhaltensweisen strikt eingehalten hat." Bereits am 11. Juli 1968 unterschreibt Weißbrich in einem Zimmer des Hotels "Zapfe" in Saalfeld die handschriftliche Verpflichtungserklärung. "Der K[andidat]", so Führungsoffizier Schyschka, "willigte ohne Zögern ein und erklärte sich bereit, das MfS in der Arbeit zu unterstützen." Seinen Decknamen wählt sich Weißbrich selbst: "Heinz Fritzsche" Ein Losungswort wird vereinbart. Führungsoffizier Schyschka rechnet zufrieden 14,37 Mark für Speisen und Getränke sowie 6,50 Mark für die Zimmermiete ab.

"Heinz Fritzsche" notiert westliche Autokennzeichen

Bereits bei diesem Treffen schwärzt Weißbrich zwei Jugendliche an. Die beiden wären oftmals bei Tanzveranstaltungen im "Rosengarten" und würden dort "schlechtes Verhalten" zeigen. Gleichzeitig erhält der Nachwuchsspitzel seine ersten Aufträge: Er soll zwei Jugendliche charakterisieren und deren Verbindungen und Freunde einschätzen. In den folgenden Monaten liefert Weißbrich Berichte über Jugendliche, Kellner und Mitarbeiter des Rates des Kreises. Außerdem versorgt "Heinz Fritzsche" die Staatssicherheit mit Stimmungsberichten aus der Bevölkerung, so beispielsweise nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag 1968 oder den deutsch-deutschen Annäherungen Anfang 1970. Auch nach der Pößnecker Haarschneideaktion, als im Herbst 1969 Langhaarige zwangsweise zum Friseur geschafft wurden, berichtet Weißbrich über die Stimmung unter der Jugend und über Mängel in der Jugendarbeit. 1976, als Wolf Biermann zwangsweise ausgebürgert wird, liefert Weißbrich Stimmungsberichte aus Jena, Weida und Pößneck. Und der Spitzel wird auch für Überwachungsaufgaben eingesetzt. Mehrmals muss Weißbrich an der Autobahnabfahrt in Triptis stehen und die Kennzeichen, Zahl der Insassen und Fahrtrichtung westlicher Pkw notieren. Regelmäßig trifft sich Weißbrich mit seinem Führungsoffizier, mal an der Straße zwischen Ludwigshof und Wernburg, mal im Wald zwischen Wernburg und Ranis, im Hotel "Schwan" in Neustadt an der Orla oder auch in verschiedenen konspirativen Wohnungen mit den Decknamen "Brauner" oder "Berghaus".

Die Staatssicherheit ist mit der Arbeit ihres neuen Spitzels zufrieden. In einer Einschätzung vom Frühjahr 1969 heißt es: "Besonders hervorzuheben wäre, dass der IM viel Eigeninitiative zur Lösung der Aufgaben an den Tag legt." Mit Weißbrich, der inzwischen SED-Mitglied ist und eine Stelle beim Rat des Kreises angenommen hat, hat die Staatssicherheit Pläne. Der IMS "Heinz Fritzsche" soll "künftig speziell zur Kontaktierung westd. Besucher in Pößneck" eingesetzt werden. Die Staatssicherheit zeigt sich für Weißbrichs Aktivitäten erkenntlich. Immer wieder überreicht sie ihm kleinere Aufmerksamkeiten. Mal sind es 100 Mark, weil Weißbrich "wertvolle Informationen" im Zusammenhang mit einer Republikflucht geliefert hat. Dann gibt es auch mal 50 Mark zum Jahreswechsel oder ein Schreibset zum 27. Geburtstag. Die Observation des Pößnecker Stadtzentrums durch Weißbrich nach einer Flugblattaktion im Frühjahr 1970 ist der Staatssicherheit 20 Mark wert. Für die "Durchführung einer wichtigen Maßnahme im Zusammenhang mit einer Person aus der BRD" werden Kosten für Speisen und Getränke sowie die Fahrtkosten erstattet. Ebenso werden die "Kosten bei der Kontaktierung einer BRD-Person" von MfS übernommen.

Der Spion, der aus Pößneck kam

Anfang der 1970er-Jahre wird Weißbrich als Reiseleiter bei Auslandreisen in die Sowjetunion und Bulgarien eingesetzt. Er soll seine Reisegruppen überwachen. Mit "sehr viel Umsicht, Eigeninitiative und Einsatzbereitschaft" erledigt er diese Aufgaben. Auch bei den Weltfestspielen der Jugend in Berlin 1973 ist Weißbrich als Aufpasser mit dabei. Vor allem Gruppenleiter aus Triptis, Auma und Neustadt an der Orla soll er im Auge behalten. Die Arbeit mit internationalen Kontakten scheint dem Spitzel Spaß zu machen. Weißbrich will Spion werden. Er lässt seinen Führungsoffizier wissen, dass er gern ins Ausland gehen möchte, das Land wäre egal. "Ihm wäre klar, welche Konsequenzen das für ihn hätte, auch die Gefährlichkeit einer solchen Aufgabe wäre ihm bewusst", notiert sein Führungsoffizier. Weißbrich sei sich darüber im Klaren, "dass ein solcher Einsatz nur nach einer eingehenden Ausbildung (einschließlich einer sprachlichen Ausbildung) möglich sein könnte. Seinen Worten nach ist es keine Sensationslust oder Geltungsbedürfnis, die ihn einen solchen Wunsch ausdrücken lässt, sondern das Interesse an dieser Arbeit und seine innere Einstellung zu unserem Staat und zu seiner Mitarbeit für das MfS." Der Führungsoffizier ist nicht abgeneigt. Er empfiehlt intern, dass der Vorschlag Weißbrichs zu prüfen und "eventuell für eine fernere Zukunft" zu planen sei. Der IM sei ohnehin relativ jung. Im Sommer 1974 hat die Staatssicherheit ein internes Konzept für Weißbrich erarbeitet. Er soll ins "Operationsgebiet", also als Spion in die Bundesrepublik, geschickt werden. Weißbrich ist ledig. Ein Vorteil.

Um ihn als Spion aufzubauen, wird er an die Abteilung XV, die Aufklärung, abgegeben. "Bei Eignung und gründlicher Prüfung des Kandidaten wird geklärt, inwieweit er in der Perspektive für eine Einzelübersiedlung ins feindliche Operationsgebiet in Frage kommt." Für Weißbrich spreche: "Von der Person des Kandidaten ausgehend handelt es sich um einen kontaktfreudigen Menschen, der auf Grund seiner beruflichen und gesellschaftlichen Entwicklung befähigt ist, andere Personen zu überzeugen." Im Sommer 1974 unterschreibt Weißbrich eine zweite Verpflichtungserklärung: "Ich bin als Genosse unserer Partei bereit mir übertragene Aufgaben auch überterritorial zu erfüllen und jegliche notwendige Qualifizierung, welche hierzu notwendig ist, gewissenhaft durchzuführen." Jetzt ist Weißbrich Mitarbeiter der Auslandsaufklärung. Doch mit der großen Karriere im Ausland wird es nichts. Weißbrichs Führungsoffizier verlässt 1977 das MfS und die Zusammenarbeit ruht längere Zeit. 1981 übernimmt Weißbrich einen Job beim Rat des Bezirkes in Gera. Als die Staatssicherheit ihn dort kontaktiert, registriert sie "familiäre Veränderungen", die sich "negativ auf die Perspektive des IM auswirkten". Weißbrich hatte geheiratet. Das passt nicht ins Spionage-Konzept. Im Februar 1983 wird Weißbrich abgeschaltet, die Akte archiviert. Die Auslandsspionage sieht "keine operative Perspektive". Ende der 1980er-Jahre wird Weißbrich Kreissekretär der Volkssolidarität in Pößneck. Aus "Heinz Fritsche" wird der Samariter vom Orlatal.

"Ich habe keinen Personen geschadet"

Auf MDR THÜRINGEN-Anfrage sagte Helmut Weißbrich, er "versichere", dass er mit der Stasi nicht konspirativ zusammengearbeitet habe. Er sei seit Ende der 1960er-Jahre offen mit seinen Berichten umgegangen. "Im Blick zurück bin ich mir sicher, dass ich keinen Personen geschadet habe." Nach 1989 habe er den Vorstand der Volkssolidarität über sein politisches Engagement unterrichtet. Einen Grund für Konsequenzen sehe er deshalb nicht. Der Vorsitzende des Volkssolidarität-Landesverbandes Thüringen, Frank-Michael Pietzsch, sagte dem MDR, dem Verband sei die MfS-Vergangenheit Weißbrichs bisher nicht bekannt gewesen. Eine frühere Stasi-Tätigkeit sei mit einer Spitzenfunktion im Verband nicht vereinbar. Der Landesverband wolle nun die Kreisverbände für das Thema sensibilisieren.


Nach dem Stasi-Vorwurf legt Helmut Weißbrich sein Amt als Geschäftsführer der Volkssolidarität Pößneck bereits zum 1. Dezember nieder. Das teilte nach einem Bericht der "Ostthüringer Zeitung" Vorstandschef Björn Jansen mit. Weißbrich verzichtet demnach auch auf eine Kandidatur zum Vorstandsvorsitzenden des Regionalverbandes Pößneck.

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