Ein anatomisches Modell.
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MDR WISSEN Künstliche Organe – Ersatzteile für den Menschen

Neue Entwicklungen in der regenerativen Medizin

27. November 2015, 14:41 Uhr

Er sammelte Leichenteile und baute sich aus ihnen ein menschliches Wesen zusammen. Viktor Frankenstein war besessen von der Idee, einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Doch die Sache ging schief und seine Kreatur entwickelte sich zu einem Monster. Die Geschichte des Doktor Frankensteins ist, zum Glück, nur erfunden. Fast 200 Jahre ist sie alt, hat aber bis heute nicht an Faszination verloren.

Noch immer wollen Wissenschaftler auf der ganzen Welt lebendige Materie künstlich im Labor erzeugen. Anders als dem fiktiven Doktor Frankenstein geht es ihnen allerdings nicht darum, neues Leben zu erschaffen, sondern defektes Gewebe zu ersetzen. Denn die Situation ist ernst: Allein in Deutschland warten nach Angaben der deutschen Transplantationsgesellschaft über 10.000 Menschen auf ein Spenderorgan. Täglich sterben drei von ihnen, weil es nicht genügend Spender gibt.

Rettung aus der Petrischale

Das Forschungsgebiet, auf dem nun alle Hoffnungen ruhen, heißt Tissue Engineering. Es beschäftigt sich mit der künstlichen Herstellung biologischen Gewebes.

Um künstliches Gewebe - und später ganze Organe - herstellen zu können, brauchen die Forscher Zellen. Das können Stammzellen aus dem Beckenkamm sein oder Zellen aus dem betroffenen Organ. Im Labor werden diese dann millionenfach vermehrt und anschließend auf tierische oder synthetische Gerüste aufgetragen, die die Umgebung des Körpers nachbilden sollen. Durch die Zugabe von Wachstumsfaktoren, spezielle Enzyme, entwickeln sich die Zellen auf dem Gerüst zu einem funktionstüchtigen Gewebe, das dem Patienten dann transplantiert werden kann.

Am Translationszentrum in Leipzig nutzen Ärzte und Biotechnologen zum Beispiel die Organe von Schweinen oder Ratten als mögliche Ersatzteile für den Menschen. Mit einer Art Waschlösung wird das Organ von den ursprünglichen Zellen befreit, zurück bleibt ein milchig weißes Organgerüst. In dieses Gerüst können dann patienteneigene Zellen eingebracht werden. Sie besiedeln das Organ neu und stellen dessen Funktionstüchtigkeit wieder her. Ob sich die Organe tatsächlich als Implantat eignen, wurde bislang nur im Großtiermodell getestet.

Den großen Vorteil sehen die Wissenschaftler am TRM darin, dass die Abstoßungsreaktion des Körpers geringer ausfiele als bei einem herkömmlichen Spenderorgan, da das transplantierte Organ eben nicht mit fremden, sondern mit körpereigenen Zellen besiedelt wurde. Der Nachteil: Es wird immer noch ein Spenderorgan benötigt.

Der gedruckte Mensch

An der Technischen Universität in Dresden löst man das Problem auf einem anderen Weg. Die Organgerüste, an denen sich die Zellen verankern sollen, erzeugen die Forscher künstlich – mit Hilfe eines 3D-Druckers. Solche Drucker sind bereits seit vielen Jahren im klinischen Einsatz. Sie liefern heute schon Ersatzteile bei Knochendefekten oder für den Zahnersatz, meist aus Kunststoff. Die Technik erlaubt dabei exakte Nachbildungen, die genau auf die Anatomie des jeweiligen Patienten angepasst sind. Dasselbe mit lebenden Zellen zu tun, um so eventuell ganze Organe am Fließband herzustellen, schien lange unmöglich. Denn Zellen sind meist sehr empfindlich.

Dem Team um Professor Doktor Michael Gelinsky aber ist es gelungen. Sie haben lebende Zellen gedruckt. Damit die Zellen den Druckvorgang unbeschadet überstehen, sind sie von einer gelartigen Masse umgeben. Aus dieser "Biotinte" baut der 3D-Drucker dann Schicht um Schicht eine dreidimensionale Struktur auf. Nach dem Druck sorgen Wachstumsfaktoren dafür, dass die Zellen zu einem funktionstüchtigen Gewebe heranwachsen.

Ein 3D-Drucker erzeugt Schicht um Schicht eine dreidimensionale Struktur.
Gewebe aus dem 3D-Drucker. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Den Wissenschaftler ist es auf diese Weise zum Beispiel gelungen, Fettgewebe herzustellen. Das künstliche geschaffene Gewebe könnte künftig helfen, Defekte nach einer Tumorentfernung zu behandeln. Noch steht die Forschung hier aber ganz am Anfang. Von dem Ziel ganze Organe wie Leber oder Niere zu drucken, sind die Wissenschaftler noch weit entfernt. Denn ein Problem konnte bislang nicht gelöst werden:

"Wollen wir größere und komplexere Organe drucken, müssen wir das Problem der Blutversorgung lösen, sonst sterben die Zellen nach kurzer Zeit ab. Bislang ist es aber noch niemanden gelungen, das feine und oftmals vielfach verzweigte Kapillarsystem, wie wir es z.B. in Leber und Niere finden, mit einem 3D-Drucker nachzubilden", so Michael Gelinsky, Leiter des Zentrums für Translationale Knochen-, Gelenk- und Weichgewebsforschung TU Dresden.

Organe sind komplex, es ist schwierig sie exakt 1:1 nachzubilden. Manche Forscher verfolgen deshalb den Ansatz, nicht das ganze Organ, sondern nur einzelne Funktionen nachzubilden.

Insulin aus einem Mini-Organ

Die Bauchspeicheldrüse, die Wissenschaftler an der Uniklinik Dresden entwickelt haben, sieht deshalb auch nicht aus wie ein menschliches Organ. Sie ähnelt eher einer kleinen Bonbondose.

„Das erstaunlichste an diesem System ist wirklich, dass in dieser Dose über ein Jahr Zellen eines anderen Organismus überleben und Insulin produzieren können“, erklärt Stefan Bornstein, Direktor des Zentrums für Innere Medizin an der Uniklinik Dresden, die Funktionsweise des Bioreaktors.

Das Implantat ist für Typ 1 Diabetiker gedacht, denen bislang nur durch die Transplantation von Inselzellen oder durch eine neue Bauchspeicheldrüse geholfen werden konnte. Um zu vermeiden, dass der Körper das fremde Spenderorgan abstößt, mussten Patienten häufig eine Vielzahl hochdosierter Medikamente einnehmen. Das ist mit der Kapsel nicht mehr nötig. Sie schützt die Zellen, sodass das körpereigene Immunsystem sie nicht zerstören kann.

Auch das Sauerstoffproblem konnten die Forscher lösen: Statt Insulin zu spritzen, muss der Patient mit einer Nadel unter die Haut in das Sauerstoffreservoir der Kapsel piksen, das sich auf diese Weise neu füllt. Klinische Tests laufen derzeit in Schweden und England. In etwa drei bis fünf Jahren, schätzt Stefan Bornstein, könnte das System marktreif sein:

"Das Schöne an so einem Bioreaktor ist ja auch, dass man es sich als ein wiederbefüllbares System vorstellen kann und damit besitzt es natürlich eine gewisse Überlegenheit gegenüber unseren eigenen alternden Zellen, die irgendwann die Funktion aufgeben."

Prinzipiell ließe sich das System auch auf andere Organe übertragen. Derzeit arbeiten die Forscher an der Uniklinik an einer künstlichen Nebenniere, die Cortisol produziert.

Der Mensch im Maßstab 1 zu 100.000

Noch einen Schritt weiter gehen die Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik. Sie haben nicht nur ein Miniorgan, sondern einen ganzen Miniorganismus erschaffen."Multiorgan-Chip" heißt dieser schlicht.

Auf dem Chip befinden sich vier Kammern, in denen winzige Zellverbände Organe wie Leber, Niere oder die Haut nachbilden. Die Zellen sind über Kanäle miteinander verbunden, durch die eine Nährlösung fließt. Auf diese Weise wird der Blutkreislauf nachgebildet und die Sauerstoffversorgung sichergestellt. Mit dem Chip sind die Forscher in der Lage, die komplexen Stoffwechselvorgänge unseres Körpers simulieren.

Über die Kammern können beispielsweise Wirkstoffe von Medikamenten oder Kosmetika eingebracht werden und so die Auswirkungen auf die Organe simuliert und potentielle Wechselwirkungen zwischen den Organen beobachtet werden. Als potentielles Ersatzteillager kommt der Miniorganismus damit also nicht infrage. Als Testsystem für die Arzneimittelforschung hat er sich aber schon bewährt:

„Es gibt Medikamente, die zwar erfolgreich den Tierversuch absolviert, im Patienten aber dennoch starke bis tödliche Nebenwirkungen hervorgerufen haben. In diesem Chip arbeiten wir aber mit menschlichen Zellen und sind damit viel näher, an dem, was wir eigentlich untersuchen wollen.“ Frank Sonntag, Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik.

Die Wissenschaftler hoffen, dass dieser Chip in Zukunft die Zahl der Tierversuche deutlich reduzieren könnte.

Noch bleibt Frankensteins Idee eines im Labor erschaffenen Menschen eine Vision. In ihrer Komplexität halten künstliche Organe längst noch nicht mit ihren natürlichen Äquivalenten mit. Doch die Forscher sind zuversichtlich, dass Entwicklungen auf den Gebieten der Zelltherapie, der Materialwissenschaft und im technischen Bereich das schon sehr bald ändern könnten.