Jugendliche bilden eine Freundschaftskette auf der Karl-Marx-Allee anlässlich der 10. Weltfestspiele in Berlin 1973
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Das "rote Woodstock" Ein Hauch von Freiheit während der X. Weltfestspiele in der DDR

16. November 2021, 10:07 Uhr

Im Sommer 1973 kamen acht Millionen Jugendliche aus aller Welt zum Feiern in Ost-Berlin zusammen - zu den X. Weltfestspielen der Jugend & Studenten. Es wurde ein Sommer der Liebe, das "rote Woodstock" im grauen Sozialismus, obwohl die Staatssicherheit immer dabei war.

Die 1970er-Jahre gehörten zu den "guten Jahren" der DDR. Plötzlich schien wieder möglich, was nach Volksaufstand und Mauerbau in Vergessenheit geriet: Leben in einer gerechteren, friedlichen, auch offeneren Gesellschaft. Das mag den Weg geebnet haben für die Weltfestspiele von 1973, die als "das rote Woodstock" in Erinnerung blieben. Zeitzeugen berichten noch heute begeistert von einer "hormongeschwängerten" Atmosphäre. Toleranz und Weltoffenheit? Unzensierte Diskussionen mit dem Klassenfeind? Alles schien möglich! Zumindest hinter den Kulissen: Hier wurde nicht nur die Propaganda im wahrsten Sinne des Wortes von Mund zu Mund weitergegeben.

Die Jugend der Welt trifft sich

1947 veranstaltete der zwei Jahre zuvor gegründete Weltbund der demokratischen Jugend die ersten Weltfestspiele in Prag. Eine deutsche Delegation war aber erst beim nächsten Mal dabei – 1949 in Budapest. 1951 wurde Ost-Berlin zum ersten Mal Ausrichter des Jugendfestivals. Mit dem Leitspruch "Für Frieden und Freundschaft – gegen Atomwaffen" trafen sich Jugendliche der DDR mit 26.000 ausländischen Jugendlichen aus 104 Ländern und 35.000 Jugendlichen aus der Bundesrepublik, um zu feiern und zu diskutieren.

Zwei FDJler küssen sich
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Vor allem an Jugendliche linker und sozialistischer Organisationen gerichtet, waren die Weltfestspiele in der Zeit bis 1990 immer wieder Spiegelbild der angespannten weltpolitischen Situation. So wurden 1951 im Zeichen des Kalten Krieges viele bundesdeutsche Jugendliche seitens der DDR daran gehindert, nach Ost-Berlin zu fahren. In den folgenden Jahren fand das Festival erstmals in den Hauptstädten blockfreier Staaten statt: 1959 in Wien und 1961 in Helsinki. 1973 kehrten die Weltfestspiele noch einmal zurück nach Ost-Berlin.

Das Woodstock des Ostens

Im Sommer 1973 standen die Zeichen günstig für ein ausgelassenes Fest. Die Amerikaner hatten ihre letzten Soldaten aus Vietnam abgezogen und in Europa traf man sich erstmals für mehr Sicherheit und Zusammenarbeit. In der Bundesrepublik bemühte sich Kanzler Willy Brandt um eine deutsch-deutsche Annäherung. Und in der DDR war seit zwei Jahren Erich Honecker an der Staatspitze – ein Generationenwechsel, den viele mit der Hoffnung auf offenere Zeiten verbanden.

Vor dieser Kulisse sollten also die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin stattfinden. 1,7 Millionen FDJler hatten sie seit März vorbereitet. 25.600 Teilnehmer aus 140 Staaten und acht Millionen Besucher gaben der Stadt ein Antlitz der Weltoffenheit und Toleranz. Unter den 800 bundesdeutschen Teilnehmern waren Mitglieder der Pfadfinder, der Beamten-Jugend, der Schreberjugend, der Esperanto-Jugend. Ab dem 28. Juli spielten neun Tage lang auf 95 Bühnen dutzende Singeclubs, Rock- und Beatgruppen auf. Im prämierten Festivallied hieß es: "Die junge Welt ist in Berlin zu Gast, und sie schert sich nicht drum, ob es dem Feinde passt." Das gute Wetter tat an den neun Festivaltagen sein Übriges: Rund um den Alex begegneten sich Ost und West auf die eine und andere Weise.

Es war irgendwie alles hormongeschwängert, Testosteron bis an die Schädeldecke. Die Mädels waren toll, die Röcke kurz, das Wetter war schön, die Stimmung aufgeheizt.

Jürgen Karney, Festivalteilnehmer und späterer Radiomoderator

Überwacht mit "Aktion Banner"

Die Staatsführung wollte zwar gerade den Besuchern aus dem Westen ihre Offenheit demonstrieren, dem eigenen Volk traute sie aber nicht. Mehr als 2.000 potentielle Störer wurden "vorsorglich" verhaftet. Weitere 2.500 hielt man mit Urlaubssperren, Reiseverbot oder gar Einweisung in die Psychatrie fern von Ost-Berlin.

Es war kein Problem, auf dem Alex mit einer Parole eine Diskussion zu entfachen. Und dann waren plötzlich drei FDJler da, die sehr gut geschult waren und die Diskussion sofort gelenkt und gesteuert haben.

Jürgen Karney

An den Festivaltagen selbst waren in der "Aktion Banner" mehr als 4.000 hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit unterwegs. Sie mischten sich, nicht selten im blauen FDJ-Hemd, unter die Jugendlichen, um zu beobachten und zu dokumentieren. Gut geschulte FDJler sollten indes die politischen Diskussionen, die an allen Orten der Stadt entbrannten, in die "richtige" Richtung lenken. Trotzdem gab es jede Menge persönliche Begegnungen zwischen den Besuchern.

Kuriosum am Rande

Am 1. August, inmitten des Festivals, starb Honeckers Vorgänger Walter Ulbricht im Alter von 80 Jahren in seinem Sommerhäuschen. Das Gedenken an seine Amtszeit hielt sich schon zu dieser Zeit in Grenzen, mit Honecker sollte alles jünger, frischer, offener werden. Den Hauptveranstaltungsort der Weltfestspiele hatte man noch kurz vor dem Festivalstart von "Walter-Ulbricht-Stadion" in "Stadion der Weltjugend" umbenannt. Und so gingen auch die Feierlichkeiten in Ost-Berlin ungetrübt weiter. Ulbricht, so hieß es, habe es noch auf dem Totenbett so gewollt.

Was übrig bleibt

Noch einmal nach 1973 kamen so viele Menschen auf dem Alexanderplatz zusammen: 1989 zum Fall der Mauer. Damit nahmen Jahrzehnte des Ost-West-Konflikts ein Ende und die Weltfestspiele der Jugend und Studenten, immer auch genährt von der Mischung aus Propaganda und Party, haben ihre Bedeutung für die westliche Welt weitestgehend verloren. 1997 gab es ein Revival im kubanischen Havanna. 2010 feierte man in Südafrika. Aber Geheimdienstakten, Liedzeilen und Teenie-Tagebücher füllen die Ereignisse wohl nicht mehr wie in den Zeiten des Kalten Krieges.

Zwischen den Menschen hat es funktioniert. Weil man kann nicht in die Köpfe und in die Herzen hinein Propaganda so tief setzen, dass man dann, wenn man sich begegnet und sich in die Augen schaut, so funktioniert wie das System es erwartet.

Jürgen Karney

Ihre Erlebnisse von 1973 bewahren viele Teilnehmer und Besucher der Ost-Berliner Weltfestspiele aller Propaganda und Umbrüche zum Trotz bis heute als eine der Perlen ihrer DDR-Erinnerung. Auch Moderator Jürgen Karney, damals 19 Jahre alt, war auf dem Festival dabei. Noch heute denkt er gerne an jene Zeit zurück, die durch Berlin ein Hauch von Weltoffenheit streichen ließ.

zuerst veröffentlicht am 03.09.2015

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR ZEITREISE - Das Geschichtsmagazin mit Mirko Drotschmann | 26.07.2016 | 21:15 Uhr