Mörder im Arztkittel Todesfabrik Bernburg – Tausende Menschen vergast

09. Dezember 2022, 12:35 Uhr

Am 9. Dezember 1946 begann der Nürnberger Ärzteprozess. Prominente Nazi-Ärzte wurden wegen ihrer Verbrechen angeklagt, unter ihnen auch die führenden Köpfe der sogenannten Euthanasie, bei der mehr als 70.000 psychisch kranke und behinderte Menschen vergast wurden. Eines der sechs Mordzentren befand sich in Bernburg im heutigen Sachsen-Anhalt.

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Bei ihrer Geburt 1914 steht Jutta von Gustedt auf der Sonnenseite des Lebens. Ihr Elternhaus ist ein stattliches Herrenhaus im Vorharz. Die Lebensbahnen der adligen jungen Frau und ihrer Geschwister scheinen vorgezeichnet: Die Jungen werden Beamte oder Offiziere, die Mädchen Ehefrauen. Doch für Jutta kommt alles anders. Ihr Leben endet vorzeitig in der Gaskammer in Bernburg. Bernburg ist eines der sechs Mordzentren im damaligen "Großdeutschen Reich", in denen Menschen mit psychischen Erkrankungen oder einer Behinderung getötet werden – neben Pirna, Brandenburg, Grafeneck, Hartheim und Hadamar. Der Massenmord geht unter dem Namen "Aktion T4" oder NS-Euthanasie in die Geschichtsbücher ein.

Jutta von Gustedt, Opfer der NS-Euthanasie, vergast in Bernburg
Jutta von Gustedt, Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie", wurde in Bernburg vergast. Bildrechte: Familienarchiv von Gustedt

Die Krankheit von Jutta von Gustedt macht sich um 1930 zum ersten Mal bemerkbar – kurz nachdem Juttas Vater die Familie für eine jüngere Frau verlassen hatte. 1934 stellen die Ärzte die Diagnose Schizophrenie und stecken Jutta für immer in die Psychiatrie. Es wird ihr Todesurteil sein, wie es sich einige Jahre später herausstellt – denn in Deutschland weht seit kurzem ein neuer Wind und viele Ärzte sind glühende Anhänger des nationalsozialistischen Regimes, das psychisch Kranke als unnötige Belastung und "lebensunwertes Leben" stigmatisiert.

Stimmungsmache gegen "unnütze Brotfresser"

Noch im Jahr ihrer Machtübernahme, 1933, beschließen die Nazis, dass Menschen wie Jutta von Gustedt zwangssterilisiert werden sollen. Geisteskranke, Taubstumme und Epileptiker gelten als "unnütze Brotfresser", die der "Volksgemeinschaft" zur Last fallen. In Propagandafilmen und auf Plakaten wird unverhohlen Stimmung gegen sie gemacht. Während die Kranken angeblich in Palästen wohnen, müssten gesunde Arbeiterfamilien mit dreckigen Hinterhöfen Vorlieb nehmen, lautet die Botschaft. Im Mathematik-Unterricht müssen Schüler ausrechnen, wie viel Geld ihr Unterhalt kostet und was sich "gesunde" Familien mit diesen Summen alles leisten könnten. So wird der Boden für die Ermordung von insgesamt mehr als 70.000 Menschen bereitet – auch für den gewaltsamen Tod der Jutta von Gustedt.

Euthanasie: Wie viel Butter kostet ein Menschenleben?

Fünf Jahre später, kurz nach Kriegsbeginn, werden mit einem formlosen Schreiben Hitlers die Weichen für den gewaltsamen Tod von Menschen wie Jutta gestellt. Es ist ein unscheinbares Schriftstück, das aus wenigen Sätzen besteht, auf den privaten Briefbogen des "Führers" getippt. Danach sollen die Befugnisse bestimmter Ärzte so erweitert werden, "dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann". Einige Zeilen gestelztes Beamtendeutsch, die für Tausende das Todesurteil bedeuten.

Doch mit einem "Gnadentod" oder Euthanasie hat das Ganze nichts zu tun. Die Nazis wollen Krankenhausbetten für verwundete Soldaten freimachen und außerdem Geld und Ressourcen sparen. In einer geheimen Statistik wird der tausendfache Mord in Lebensmittel umgerechnet, erzählt Dr. Ute Hoffmann, die heute eine Gedenkstätte an Juttas Sterbeort in Bernburg leitet.

In dieser Statistik ist aufgelistet, welche Einsparungen der Tod eines Menschen bringt – also ganz genau die Einsparung von Butter, Milch, Eiern und Zucker.

Dr. Ute Hoffmann, Leiterin der Gedenkstätte Bernburg

Aktion T4: Verbrecher in weißen Arztkitteln

Die Mordaktion unter dem Decknamen "Aktion T4" wird gründlich vorbereitet. In allen Psychiatrie-Anstalten Deutschlands müssen Ärzte spezielle Fragebögen für jeden Insassen ausfüllen. Anhand dieser Formulare fällen jeweils drei Gutachterärzte das Urteil: Ein rotes Kreuz steht für den Tod, ein blaues Minus für Weiterleben. "Die Auswahl fiel nach ganz pragmatischen Leistungskriterien", erklärt Hoffmann.

Wer länger als fünf Jahre in einer psychiatrischen Einrichtung war, galt als Dauerpatient und damit als Dauer-Kostenfaktor. Ebenso wer nicht arbeiten konnte oder wollte. Die größten Überlebenschancen hatten Patienten, die in der Lage waren, außerhalb des Krankenhauses zu arbeiten, zum Beispiel in einer Gärtnerei.

Dr. Ute Hoffmann, Leiterin der Gedenkstätte Bernburg

Doch anfangs ahnen die Ärzte nicht den wahren Zweck der Fragebögen und stellen die Fälle absichtlich schlechter dar, um ihre besten Arbeitskräfte nicht zu verlieren – ein tödlicher Irrtum.

Todesfabrik in Bernburg – mit Gaskammer und Krematorium

Denkmal der Grauen Busse in Erinnerung an die Opfer der Euthanasie Morde während des Nationalsozialismus in Berlin
Mobiles Denkmal für Opfer der Euthanasie-Morde im Nationalsozialismus: Es ist den grauen Bussen nachempfunden, mit denen die Opfer nach Bernburg und in die anderen fünf Mordzentren gebracht wurden. Bildrechte: imago/PEMAX

Jutta von Gustedt fällt bei der Prüfung durch. Im März 1941 wird sie in einem unscheinbaren Bus der Reichspost nach Bernburg gebracht. Die grauen Fahrzeuge werden später zu einem Symbol der Mordaktion. Drei Busse mit insgesamt 75 Menschen an Bord reichen, um die 14 Quadratmeter große Gaskammer von Bernburg zu füllen. Die Todesfabrik beginnt sofort nach der Ankunft der Opfer mit der "Arbeit". Ein Arzt öffnet den Gashahn und lässt etwa 20 Minuten lang Kohlenmonoxid in die Gaskammer einströmen. Durch ein Guckloch kann er den Todeskampf der Euthanasie-Opfer beobachten. Die Leichen werden im angrenzenden Krematorium verbrannt.

Euthanasie-Morde werden in Rechnung gestellt

Eine Bürokraft checkt nach der Ankunft die Identität der Opfer, um Verwechslungen zu vermeiden. Danach werden sie kurz von einem Arzt in Augenschein genommen, um eine plausible Todesursache für den gefälschten Totenschein zu finden. Teenager lässt man vorgeblich an Diphterie sterben, einer damals weit verbreiteten Kinder- und Jugendkrankheit. Die Alten "sterben" an Herzschwäche oder Kräfteverfall.

Die Opfer, die hier ankamen, hatten weder eine Übernachtung, noch eine Verpflegung, noch irgendeine Art von Versorgung. Sie wurden hierher gebracht, um sofort getötet zu werden.

Dr. Ute Hoffmann, Leiterin der Gedenkstätte Bernburg

Um die Morde zu verschleiern, werden auch weitere Angaben, etwa der Sterbeort, gefälscht. Das Sterbedatum der Jutta von Gustedt wird um zwei Wochen nach hinten verlegt. Dahinter steckt System: Die Tötungsmaschinerie finanziert sich auf diese Weise komplett von selbst, denn den Krankenkassen werden die Verpflegungsätze für die ermordeten Patienten munter weiter in Rechnung gestellt – ein groß angelegter Betrug, der selbst nach den Gesetzen des Dritten Reiches strafbar ist.

Der Euthanasie-Schwindel fliegt auf

Ein eigenes Standesamt erledigt die schmutzige Arbeit der Urkundenfälschung. Wenn die Nummerierung in den Sterbebüchern den Beamten verräterisch hoch erscheint, starten sie die Zählung wieder bei eins. Auch ist man beim Versand der Todesnachrichten sehr darauf bedacht, nicht zu viele Sterbeurkunden von Mordopfern aus derselben Gegend auf einmal zu verschicken, um verdächtige Häufungen zu vermeiden, die Hinterbliebenen auffallen könnten. Ähnlich verfährt man in den übrigen fünf Mordzentren im "Großdeutschen Reich".

Trotzdem gelingt es nicht, die Euthanasie-Morde im Rahmen der "Aktion T4" geheim zu halten. Nachrichten sickern durch, Gerüchte mache die Runde. Allmählich regt sich Protest von den Angehörigen, die trotz aller Verschleierungsversuche recht bald Zweifel bekommen. Auch Vertreter der katholischen Kirche prangern den Massenmord in Predigten an. Die nationalsozialistische Euthanasie wird gestoppt. Trotz aller Propaganda in den Vorkriegsjahren ist das deutsche Volk nicht bereit, eine solche "Wohltat" zu akzeptieren.

Die Mörder: Menschen "wie du und ich"

Am 24. August 1941 ergeht die Order, Vergasungen von psychisch kranken und behinderten Menschen in allen sechs Mordzentren einzustellen – die letzte Vergasung in Bernburg hatte am 15. August 1941 stattgefunden. Für Jutta von Gustedt und viele andere Patienten kommt dieser Tag jedoch zu spät. Allein in der Gaskammer von Bernburg sterben zwischen Herbst 1940 und Sommer 1941 mehr als 9.000 Menschen. Ihnen gegenüber stehen rund 140 Mitarbeiter, die die Todesfabrik in den zwei Jahren am Laufen halten: Ärzte, Pfleger, Schwestern, Busfahrer und Heizer. Alles keine geborenen Mörder und keine verrohten SS-Leute, erzählt Gedenkstättenleiterin Hoffmann.

Wir haben eine Untersuchung über das hier beschäftigte Personal gemacht und das Ergebnis ist wenig ermutigend, weil es sich nicht um ausgesprochene Sadisten oder besondere Parteigänger des Regimes handelt, sondern en gros um ganz normale Menschen, die aufgrund einer Kriegsdienstverpflichtung, einer Versetzung oder einer freiwilligen Bewerbung hierher kamen. Viele von ihnen haben erst vor Ort gesehen, um was es sich dabei handelt, aber nur zwei hatten den Mut zu sagen: "Das mache ich nicht!" Und den Beiden ist nichts passiert!

Dr. Ute Hoffmann, Leiterin der Gedenkstätte Bernburg

Gerechtigkeit für Opfer der NS-Euthanasie?

Die führenden Kopfe der nationalsozialistischen Euthanasie müssen sich nach dem Krieg vor Gericht verantworten. Viktor Brack und Karl Brandt werden beim Nürnberger Ärzteprozess im August 1947 zum Tode verurteilt und ein knappes Jahr später hingerichtet. Die meisten der Beteiligten, insbesondere das Hilfspersonal, entgehen aber einer Strafe – auch in Bernburg, obwohl sie die DDR die Entnazifizierung eigentlich auf die Fahnen geschrieben hatte.

Zwei Mädchen im Holocaust-Mahnmal in Berlin. 41 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der Nürnberger Ärzteprozess

Der Nürnberger Ärzteprozess fand vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 vor einem amerikanischen Militärgericht im Nürnberger Justizpalast statt. Auf der Anklagebank saßen 20 Nazi-Ärzte, außerdem zwei Verwaltungsangestellte und ein Jurist. Sie mussten sich wegen Medizinverbrechen während des Zweiten Weltkrieges verantworten. Im Fokus standen dabei die Krankenmorde der so genannten Euthanasie ("Aktion T4"), tödliche Menschenversuche an KZ-Häftlingen und die Tötung von KZ-Häftlingen für eine Skelettsammlung.

Nach 139 Verhandlungstagen ergingen sieben Todesurteile, fünf lebenslange Haftstrafen (später zu langjährigen Haftstrafen abgemildert, wobei alle Verurteilten vorzeitig entlassen wurden), vier Haftstrafen zwischen zehn und 20 Jahren (später ebenfalls reduziert) sowie sieben Freisprüche aus Mangel an Beweisen. Unter den Hingerichteten befanden sich zwei führende Köpfe der Euthanasie-Morde: Viktor Brack und Karl Brandt.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 09. November 2020 | 19:30 Uhr

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