Jagd auf Verkehrssünder Im Westen Punkte, im Osten Stempelkarte

Am 2. Januar 1958 wurden in der sogenannten Flensburger Verkehrssünderkartei die ersten Strafpunkte westdeutscher Autofahrer eingetragen. Das Verkehrszentralregister war ein halbes Jahr zuvor gegründet worden. Anfangs wurde dort nur die Art der Verkehrsverstöße eines Fahrers verzeichnet, später wurde daraus das heute noch bekannte Punkte-System. Die DDR hatte etwas Vergleichbares – auch wenn das System im Osten zu 100 Prozent analog mit Papier und Tinte funktionierte.

Die Strafpunkte wurden nicht wie in Westdeutschland virtuell in einem Rechenzentrum registriert, sondern auf ein Kärtchen im Führerschein gestempelt. Dieses Kärtchen hieß im Volksmund "Stempelschein" und offiziell "Berechtigungsschein". Je nach Schwere des Verkehrsdelikts konnte die Volkspolizei bis zu vier Stempel eintragen. Wer innerhalb der Ablauffrist insgesamt fünf Stempel "erntete", wurde mit einem Fahrverbot bestraft.

Jeder neue Stempel verlängerte die Gültigkeit der alten Einträge. Erst zwei Jahre nach dem letzten Stempel konnte man sich eine neue Stempelkarte besorgen und hatte damit ein sauberes Konto – nicht in Flensburg, sondern in der eigenen Brieftasche. Und noch einen Unterschied gab es: In der DDR konnten die Verkehrspolizisten nach Bauchgefühl entscheiden, wie schwer der Verkehrsverstoß ist – heute entscheiden sie strikt nach Bußgeldkatalog.

Niedrige Tempolimits

Anders waren in der DDR auch diverse Verkehrsregeln. Die Tempolimits etwa waren deutlich niedriger als im Westen: 80 Stundenkilometer auf Landstraßen und nur 100 Stundenkilometer auf Autobahnen. Während Trabant-Fahrer kaum in der Lage waren, die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten, konnten stolze Besitzer eines Lada, Moskwitsch oder Skoda schon mal in Versuchung geraten. Fairnesshalber muss man aber anmerken, dass die DDR-Autobahnen keine Leitplanken und oft auch keinen grünen Streifen hatten, was das niedrige Tempolimit durchaus sinnvoll machte.

Weitere Unterschiede waren die strikte Null-Promille-Grenze beim Alkohol am Steuer und der berühmte grüne Pfeil, der bedingt zum Rechtsabbiegen bei Rot berechtigte und eine der wenigen Ost-Erfindungen wurde, die nach der Wiedervereinigung in die bundesdeutsche Straßenverkehrsordnung Eingang fand.

Narrenfreiheit nach der Wende

Verkehrskontrolle in der DDR durch die Volkspolizei. Ein Mann und eine Volkspolizistin.
Verkehrspolizisten in der DDR konnten vieles nach Bauchgefühl entscheiden. Bildrechte: imago/Bernd Friedel

Doch zunächst brachte die Wiedervereinigung auf den Straßen vor allem eines – absolutes Chaos. Auf ostdeutschen Straßen herrschte Narrenfreiheit. Die Autorität der Volkspolizei war mehr als angeschlagen, die frisch gebackenen Westwagen-Besitzer, zum ersten Mal in ihrem Leben mit satten Pferdestärken ausgestattet, drückten aufs Gaspedal, was die Fabrik hergab. Der freie Bürger nahm sich sein vermeintliches Recht. Kein Wunder, dass sich die Zahl der Verkehrstoten in Ostdeutschland 1990 fast verdoppelte. Da half es wenig, dass die Politik Übergangsfristen geschaffen hatte, in denen noch einige der strengeren DDR-Verkehrsregeln weiter galten – etwa die niedrigen Tempolimits und die Null-Promille-Grenze beim Alkoholkonsum.

Neustart mit leerem Punktekonto

Eine Umwandlung der ostdeutschen Strafstempel in westdeutsche Flensburg-Punkte war hingegen nicht vorgesehen. Die DDR-Bürger starteten ins neue System mit einem sauberen Konto. Die Stempelkarten wurden am 3. Oktober 1990 Makulatur oder bestenfalls Sammelobjekt.

Heute lassen sich in Sachen Verkehrssünden keine großen Unterschiede mehr zwischen Ost und West feststellen. Mehr als zehn Millionen Verkehrssünder sind derzeit in Flensburg eingetragen. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich Strafen und Punkteberechnung mehrmals geändert – zuletzt vor drei Jahren. Seitdem darf man sich statt 18 nur noch acht Punkte leisten. Der Grundgedanke ist aber in all den Jahren gleich geblieben: der erzieherische Wert des Punktesystems.

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | 11.07.2017 | 21:15 Uhr