21. April bis 29. Juni 1950 Die Waldheimer Prozesse: Gegen jede Rechtsstaatlichkeit

21. April 2021, 09:03 Uhr

Im berüchtigten Zuchthaus von Waldheim kam es im April 1950 zum ersten großen politischen Prozess der DDR. Vor Gericht standen 3.432 ehemalige Insassen sowjetischer Speziallager, die in Schnellverfahren abgeurteilt wurden. Sogenannte Volksrichter urteilten über NS-Täter, aber auch über viele Unschuldige. Die Urteile standen vorher fest. Wie kam es dazu, welche Funktion hatten die Waldheimer Prozesse?

Im Zuchthaus der sächsischen Kleinstadt Waldheim begannen im April 1950 die Verfahren gegen 3.432 ehemalige Insassen sowjetischer Speziallager. Damit rückte das idyllische Örtchen am Nordrand des Erzgebirges ins Zentrum der Berichterstattung - auch über die Grenzen der DDR hinaus.

Im Schnellverfahren: Ohne Zeugen, fast immer ohne Verteidiger

Die Angeklagten hatten in den Jahren seit Kriegsende und bis zum Prozess in Internierungslagern des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in Bautzen, Sachsenhausen oder Buchenwald eingesessen. Die ehemaligen KZ waren dafür umfunktioniert wurden. Den Angeklagten wurden "Kriegs-", beziehungsweise "nationalsozialistische Verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vorgeworfen.

... hat es einen Sinn, sie (die Gefangenen) ganz im wildesten Stil des Nazismus und seiner Volksgerichte, ganz im Stil jenes zur Hölle gefahrenen Roland Freisler, der genau so seine Zuchthaus- und Todessprüche verhängte, aburteilen zu lassen und damit der nichtkommunistischen Welt ein Blutschauspiel zu geben, das ein Ansporn ist zu allem Hass?

Thomas Mann in einem Brief an Walter Ulbricht

Zu Gericht saßen über sie sogenannte Volksrichter, die eine Kommission berufen hatte, zu der auch Hilde Benjamin, damals Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, gehörte. Die Urteile wurden vor den Verfahren von der Partei festgelegt, auch wenn die Verfassung der DDR eine Unabhängigkeit der Richter vorsah. Strafen unter zehn Jahren sollte es nach einer Weisung von Partei- und Staatschef Walter Ulbricht nicht geben, jedenfalls nicht ohne Rücksprache mit einer Kommission, zu der Vertreter des Zentralkomitees, des Justizministeriums und der Volkspolizei gehörten.

In Waldheim vor Gericht Vor Gericht standen Falco Werkentin zufolge 60 Jugendliche, die 1945 ca. 16 Jahre alt waren oder auch 160 Personen, die wegen Vergehen nach der NS-Zeit verurteilt wurden. Etwa 50 Häftlingen wurde "die Mitgliedschaft in der NSDAP und ihre Lehrertätigkeit und damit die Erziehung im Geiste des Nationalsozialismus" zum Vorwurf gemacht.

Unter den 400 Gefangenen, die als Angehörige der Gestapo und des Sicherheitsdienstes einem erheblichen Anfangsverdacht unterlagen, befanden sich laut Werkentin aber auch Köche und Schreibkräfte. Außerdem waren ca. 130 Richter und Staatsanwälte inhaftiert. Falco Werkentin in einem Protokoll zu "Die Waldheimer Prozesse" - Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im November 2010

Halbstündige Schnellverfahren

Die Volksrichter und Staatsanwälte waren so nur noch Vollstrecker in meist geheimen Schnellverfahren. Bis auf zehn Schauprozesse, deren Ablauf vorher genau geprobt wurde, fanden sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne kritische Würdigung des von den sowjetischen Untersuchungsorganen vorgelegten Belastungsmaterials statt. Eigenständige Ermittlungen oder Zeugenbefragungen gab es nicht. Die Verhandlungen dauerten im Schnitt nur 20 bis 30 Minuten.

Der Soziologe und Historiker Falco Werkentin, der sich lange mit der Rechts- und Herrschaftsgeschichte der DDR und insbesondere den Waldheimer Prozessen beschäftigt hat, weist daraufhin, dass es "außer einem Volksrichter, der zumeist im Zusammenhang mit Todesurteilen als Anwalt auftrat, keine Verteidiger" für die Angeklagten gab. Werkentin zufolge kam damals Ulbricht die "Rolle des heimlichen obersten Gerichtsherren" zu, der wiederum auch der "sowjetischen Besatzungsmacht unterstellt" war.

Mann mit Brille | Falco Werkentin
Der Soziologe und Historiker Falco Werkentin forscht seit 1991 zur Justiz- und Herrschaftsgeschichte der DDR und beschäftigte sich insbesondere mit den Waldheimer Prozessen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Vor den Waldheimer Prozessen: Ein Brief als Befehl In einem Brief kündigte die Sowjetische Kontrollkomission an, dass sie die verbliebenen drei NKWD-Speziallager in Buchenwald, Sachsenhausen und Bautzen im Laufe des Jahres auflösen werde. Deren Vorsitzender, Armeegeneral W. I. Tschuikow legte das weitere Verfahren dazu fest: Rund 15.000 Personen sollten entlassen, etwa 10.500 bereits verurteilte Personen an DDR-Gefängnisse übergeben und 3.432 Personen zur Verurteilung an die DDR-Justiz überstellt werden. Einige hundert besonders belastete Personen sollten demnach in sowjetischer Hand bleiben.

Vom NS-Täter bis zum Regierungskritiker

Unter den Angeklagten waren tatsächlich Belastete. Doch für eine Internierung im NKWD-Speziallager nach Kriegsende und eine spätere Verurteilung in Waldheim reichte in vielen Fällen die Mitgliedschaft in Nazi-Organisationen wie der NSDAP, die Kritik an der sowjetischen Besatzungspolitik oder regierungskritische Äußerungen bzw. Aktionen.

Verhängt wurden in Waldheim überwiegend Freiheitsstrafen von 15 bis 25 Jahren - in 1.829 Fällen. Nach Abschluss von 1.317 Revisionsverfahren im Juli 1950 wurden 33 Todesurteile gefällt. Sieben der zum Tode Verurteilten wurden begnadigt, zwei starben vorher, insgesamt 24 Todesurteile wurden im November 1950 vollstreckt. Die Hinrichtung nahmen Volkspolizisten im Offiziersrang vor. Sie erdrosselten die Verurteilten.

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Weltweite Proteste

Nach heutigem Stand der Forschung hatten die Waldheimer Prozesse vor allem den Zweck, die Internierung Tausender in den NKWD-Speziallagern nachträglich zu legitimieren. Zugleich wollte Ulbricht damit wohl demonstrieren, dass NS-Täter in der DDR konsequent verfolgt würden. Schließlich sollten sie eine Probe für kommende politische Prozesse sein.

Andererseits verweist Werkentin auch darauf, dass die Waldheimer Verfahren den SED-Genossen zu diesem Zeitpunkt "nicht mehr ins Konzept gepasst" haben dürften. Denn: "Man war längst, wie in der Bundesrepublik auch, auf die Integration ehemaliger Nazis aus. Es blieb den Entscheidungsträgern in der Bundesrepublik wie in der DDR ja auch nichts anderes übrig angesichts einer deutschen Bevölkerung, die in so entsetzlich umfangreicher Weise das NS-System unterstützt hatte". Dafür spreche auch, dass die Berichterstattung in den DDR-Medien über Waldheim relativ "kleingehalten" wurde.

Dennoch führten die Waldheimer Prozesse zu weltweiten Protesten. Auch in der DDR regte sich Widerstand. Otto Nuschke, Vorsitzender der Ost-CDU und stellvertretender Ministerpräsident, äußerte sich kritisch. Zwischen 1952 und 1956 kam es so zu zahlreichen Begnadigungen oder Reduzierungen des Strafmaßes. Nach 1956 waren noch 30 Verurteilte inhaftiert. 470 Menschen starben bis dahin in der Haft.

Richter vor Gericht

Einzelne Richter der Waldheimer Prozesse standen später selbst vor Gericht, wie zum Beispiel Otto Jürgens. Er wurde 1993 wegen Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung verurteilt - der damals 87-Jährige wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt und musste eine Geldstrafe von 6.000 Mark an den Bund der stalinistisch Verfolgten zahlen.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Der Osten - Entdecke, wo du lebst: Gefangen in Waldheim - Eine Stadt und ihr Knast | 05.03.2019 | 21:00 Uhr

Literaturhinweise Falco Werkentin: Die "Waldheimer Prozesse" der Jahre 1950/52.

In: Materialien der Enquete-Kommission. Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED- Diktatur in Deutschland (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages) (Hrsg.) vom Deutschen Bundestag, Frankfurt am Main, Band IV.

Laura Schiffner: Die Verfolgung von NS-Verbrechern in der SBZ/DDR am Beispiel der Waldheimer Prozesse 1950, Norderstedt: GRIN Verlag. ISBN: 978-3-640-54515-5.