Der Altpapier-Jahresrückblick: Die Akte Springer. Porträts von Julian Reichelt und Mathias Döpfner. Dazwischen eine stilisierte Schere, die ein Herz auf dem Bild von beiden zerschneidet.
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Der Altpapier-Jahresrückblick am 24. Dezember 2021 Die Akte Springer

24. Dezember 2021, 17:32 Uhr

Julian Reichelt stolpert über seine Libido in den Aufzug nach unten. Mathias Döpfner gerät kurz aus dem Gleichgewicht. Doch er behält seinen Posten als Chefzeitungsverleger. Reichelt muss gehen. Warum? Und wie geht es weiter? Ein Altpapier-Jahresrückblick von Ralf Heimann.

Anfang März fängt alles an mit einer Andeutung, die Jan Böhmermann im "ZDF Magazin Royale" macht. Es geht in der Sendung um Fußball und um die Rolle des Axel-Springer-Verlags bei der Entscheidung, die Bundesliga nach der Corona-Pause möglichst schnell wieder spielen zu lassen. Er habe da ein paar Fragen, "Fragen an ihn hier", sagt Böhmermann, "Graf Koks von der Gasanstalt, 'Bild'-Chefoligarch Julian Reichelt". Im Hintergrund erscheint ein Foto. Reichelt mit Sonnenbrille. Böhmermann mutmaßt: "Vielleicht hat er gerade keine Zeit, weil er so viele andere Fragen beantworten muss in einem umfangreichen Compliance-Verfahren. Wer weiß?"

Porträt des Altpapier Autoren Ralf Heimann
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Neun Monate später ist Julian Reichelt seinen Job los, zwischenzeitlich sieht es so aus, als könnte auch Mathias Döpfner seinen Posten als Chef des Zeitungsverlegerverbands verlieren. Er gibt in der Affäre eine so unglückliche Figur ab, dass einige einen Rücktritt für angemessen halten. Doch am Ende wackelt der Chefsessel beim Verband nur einmal kräftig, und dann geht es weiter.

Warum musste der eine gehen, und der andere konnte bleiben?

Fangen wir an mit Julian Reichelt. Am 8. März, drei Tage nach Böhmermanns Andeutung erscheint beim Spiegel eine kurze Meldung, die immerhin eine Frage beantwortet: Was ist da bei Springer eigentlich los?

Die Antwort ist: Es gibt tatsächlich ein Compliance-Verfahren gegen Julian Reichelt. Vorgeworfen wird ihm laut Spiegel: "wiederholtes Fehlverhalten gegen Frauen", "Machtmissbrauch und die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen", etwa "ein halbes Dutzend Mitarbeiterinnen" hätten dem Verlag "Vorfälle aus den vergangenen Jahren angezeigt". In der Medienszene hat sich da vieles längst herumgesprochen.

Stefan Niggemeier twitterte schon am Tag der Böhmermann-Sendung:

"Die entscheidende Frage ist nicht, ob Julian Reichelt @Bild-Chef bleiben wird. Die entscheidende Frage ist, ob Mathias Döpfner @AxelSpringer-Chef bleiben wird."

Nora Frerichmann nennt die Zeit im Altpapier die "Tage des Raunens in der Medienbubble". Die Gerüchte machen die Runde. Es geht um Sex, Drogen und offene Rechnungen. Der Tenor zu diesem Zeitpunkt: Wenn das alles so stimmt, ist Reichelt wohl geliefert.

Verfahren am Ende eingestellt

Die Zeit schreibt am 10. März ("'Bild'-Chefredakteur unter Friendly Fire"), es sei für Reichelt nicht das erste Compliance-Verfahren. In einem anderen Fall im Jahr zuvor sei es um eine persönliche Beziehung zu der Mitarbeiterin einer Agentur gegangen, die mit Springer zusammenarbeitete. Man habe Reichelt vorgeworfen, einiges vermischt zu haben, lukrative Aufträge vermittelt und gefällig über Veranstaltungen der Agentur berichtet zu haben. Am Ende habe der Verlag aber keine Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen die Compliance-Richtlinien gefunden, das Verfahren sei eingestellt worden. Und diesmal?

Am 12. März veröffentlicht der Spiegel eine Recherche ("Vögeln, fördern, feuern"), die das System Reichelt beschreibt, und zu diesem System gehört offenbar ein wiederkehrendes Muster. Reichelt nimmt junge Kolleginnen in den Blick, umschmeichelt sie, es beginnt eine sexuelle Beziehung, die Frau bekommt in der Redaktion verantwortungsvollere Aufgaben, und irgendwann ist alles wieder vorbei. Das sei schon mehrfach so passiert.

Entscheidend ist: Sind diese Frauen bereit, zu reden? Juliane Löffler, die mit ihrer Recherche für das Ippen-Investigativ-Team später den Rauswurf Reichelts besiegeln wird, erklärt im Oktober im Interview mit der Frankfurter Rundschau, dass für die Frauen gleich drei Dinge auf dem Spiel stünden, wenn sie sich äußerten. Es drohten "juristische, berufliche und persönliche Konsequenzen". Die Kosten für eventuelle Verfahren, die Angst vor dem Jobverlust, der persönliche Druck, den Person, in diesem Fall Reichelt, unter Umständen ausübt. Auch diese Ängste sind Teil eines solchen Systems.

Reichelt kündigt an, gegen den Spiegel-Bericht vorzugehen. Er sieht eine unzulässige Verdachtsberichterstattung. Die Neue Zürcher Zeitung gibt ihm Rückendeckung. NZZ-Deutschland-Chef Marc Felix Serrao hat beim Spiegel und bei der 'Bild’ nachgefragt, ob man Reichelt die Gelegenheit gegeben habe, Stellung zu den Vorwürfen zu nehmen. Aus 'Bild'-Kreisen, so berichtet er, heiße es, vom Spiegel habe sich niemand bei Reichelt gemeldet. Der Spiegel widerspricht, natürlich habe man versucht, Reichelt zu kontaktieren.

Das Landgericht Hamburg gibt Reichelt im Mai in Teilen Recht. Die Erklärung klingt kurios. Julian Reichelt behauptet, die Springer-Pressestelle habe ihn nicht über die Anfrage informiert. Das versichert er später in einer eidesstattlichen Erklärung vor Gericht, wie unter anderem DWDL berichtet. Der Artikel bleibt dennoch im Netz, der Spiegel fügt lediglich eine Ergänzung ein – und entfernt die Bezahlschranke.

Ende November muss das Magazin den Text dann doch aus dem Netz nehmen. Das Gericht untersagt die weitere Veröffentlichung. Der Spiegel kündigt an, in die nächste Instanz zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt hat Reichelt seinen Job schon verloren.

Nach zwölf Tagen ist Reichelt zurück

Am 13. März stellt Springer Reichelt frei. Zunächst vorübergehend und auf dessen eigenen Wunsch hin, um die Vorwürfe in Ruhe aufklären zu können, schreibt der Verlag. Reichelt beteuert seine Unschuld. In einer internen Erklärung teilt er seiner Redaktion mit: "Bild und die Menschen bei Bild sind mein Leben. Ich habe immer alles dafür getan, dass es Bild, dass es uns gut geht, und das tue ich auch heute, auch wenn es mir unendlich schwerfällt."

In der Zwischenzeit übernimmt "Bild am Sonntag"-Chefin Alexandra Würzbach Reichelts Aufgaben. Die Einschätzungen dazu, ob Reichelt wiederkommen wird, fallen unterschiedlich aus. Eine Meinung ist: Wenn absehbar wäre, dass die Vorwürfe sich leicht aus der Welt schaffen ließen, könnte Springer auf diesen Schritt auch verzichten. Das würde darauf hindeuten, dass die Vorwürfe schwerwiegender sind. Andere sagen, die Beweislage sei zu dünn. Für eine Kündigung reiche das alles nicht aus.

Zwölf Tage später ist Reichelt zurück auf seinem Posten, den er sich nun allerdings mit Alexandra Würzbach teilen muss. Mathias Döpfner stellt sie ihm zur Seite, als Aufpasserin, so scheint es. Reichelt verliert zudem den Vorsitz der Geschäftsführung. Er habe Fehler gemacht, das betont der Verlag in seiner Mitteilung gleich drei Mal. Aber so schwer wiegen die Fehler offenbar nicht. Der Verlag schreibt, die Führungskultur werde sich nun ändern.

In einer internen Konferenz Ende März, über die Übermedien berichtet, kommt die Frage auf, wie das denn bei diesem "teilweise menschenverachtenden Umgang" gehen soll ohne personellen Neuanfang? Reichelt gibt sich vor der Redaktion reuig, demütig und geläutert. Er entschuldigt sich für "das, was ihr durchzustehen hattet". Später soll er laut dem Magazin Kress pro im kleinen Kreis gesagt haben, er wisse gar nicht, wofür er sich da entschuldigt habe.

"In den USA sieht man solche Geschichten kritisch."

Der ehemalige "Bild"-Mann Georg Streiter, Erfinder der Schlagzeile "Wir sind Papst", weist schon Mitte März im Interview mit dem Magazin Cicero darauf hin, dass es hier nicht nur um die Zukunft von Reichelt gehe, es stehe mehr auf dem Spiel. Er sagt:

"Für Döpfner ist die Sache deshalb so gefährlich, weil Springer kein deutsches Unternehmen mehr ist. Es gehört zur Hälfte einem amerikanischen Investment-Fonds. Und in den USA sieht man solche Geschichten ganz, ganz kritisch."

Auf der anderen Seite entsteht der Eindruck, dass Springer sich keine große Mühe gibt, den Vorwürfen ernsthaft nachzugehen. Die beauftragte Kanzlei Freshfields habe zwar "die Aussagen mehrerer betroffener Frauen eingeholt und weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bild kontaktiert", schreibt die Zeit. Mit anderen Betroffenen habe die Kanzlei nicht gesprochen.

Ende April nimmt Springer Reichelt die Geschäftsführung der "Bild"-Gruppe ganz aus der Hand. Ein Hinweis darauf, dass Reichelt bei allem Nutzen, den er dem Verlag auf der einen Seite bringt, zu einer Belastung geworden ist?

Im April kündigt Springer den neuen Sender "Bild TV" an, für den Julian Reichelt verantwortlich sein wird. Damit rücken die Vorwürfe gegen ihn zunächst wieder in den Hintergrund.

Im Mai erscheint das Buch "Ohne Rücksicht auf Verluste: Wie BILD mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet", die Autoren sind Moritz Tschermak, Chefredakteur vom Bildblog, und sein Vorgänger Mats Schönauer. Die beiden beschreiben darin eine Redaktion, die funktioniert wie eine politische PR-Maschine, die mit großem Getöse das Weltbild ihres Chefs verbreitet.

Watzlawiks Hammer

Der neue Fernsehsender ist zu diesem Zweck ideal. Hier kann Reichelt seine Meinung verbreiten, wie er will, und diese Möglichkeit nutzt er ausgiebig, meistens polternd. Ende September setzt er sich bei "Bild TV" präventiv gegen einen Beitrag des NDR-Medienmagazins "Zapp" zur Wehr. Das Thema ist die Rolle der Medien nach der Flut im Ahrtal. Die NDR-Redaktion hat "Bild" ihre Fragen geschickt. Reichelt kennt den Beitrag noch gar nicht. Das macht aber nichts. Er reimt ihn sich einfach zusammen. Reichelt macht die Recherche-Anfrage der Redaktion öffentlich und lässt seiner Wut über das, was er da kommen sieht, freien Lauf.

Das Ganze erinnert an die Geschichte mit dem Hammer von Paul Watzlawik. Ein Mann will sich von seinem Nachbarn einen Hammer ausleihen, kommt unterwegs ins Grübeln, weil er sich dessen Reaktion ausmalt und sagt schließlich, als der Nachbar die Tür öffnet: "Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel."

Der "Zapp"-Beitrag entspricht überhaupt nicht dem, was Reichelt erwartet. Es kommt eine Person zu Wort, die sich kritisch zur Rolle von "Bild" äußert. Aber der Film ist insgesamt ausgewogen.

Reichelts Auftritt bei "Bild TV" wirkt fast paranoid, und er offenbart mal wieder dessen ambivalentes Verhältnis zur Wahrheit. Dieses Verhältnis war auch schon Inhalt der Berichterstattung über die Vorwürfe gegen ihn. Um einer Frau zu beweisen, dass er verfügbar ist, soll er ihr eine Scheidungsurkunde gezeigt haben, die dem Spiegel vorliegt. Laut Spiegel hat eine Prüfung ergeben: Die Urkunde ist nicht echt.

Ein Chefredakteur, der Dokumente fälscht? Der Verlag scheint darin kein Problem zu sehen. Doch zum Problem wird etwas Anderes. Und damit beginnt der zweite Akt der Affäre Reichelt.

Am 17. Oktober berichtet Stefan Niggemeier für Übermedien über einen Brief, den die Investigativ-Redaktion von Ippen an ihre Verlagsleitung geschickt hat. Es geht um eine Entscheidung des Verlegers Dirk Ippen. Er hatte die Veröffentlichung einer Recherche über Julian Reichelt gestoppt, nicht aus juristischen oder redaktionellen Gründen, wie aus dem Schreiben hervorgeht, den Ausschlag gegeben hätten "persönliche Geschmacksfragen".

Sex, Journalismus und Firmengelder

Am gleichen Tag erscheint in der New York Times eine Medienkolumne von Ben Smith, die sich mit der Unternehmenskultur bei Axel Springer beschäftigt. Wenn man die Berichterstattung in den vergangenen Monaten verfolgt hat, ist der Inhalt unspektakulär. Smith schreibt, aus Dokumenten, die er gesehen habe, ergebe sich der Eindruck "einer Arbeitsplatzkultur, in der Sex, Journalismus und Firmengelder vermischt wurden". Im Text steht nichts, was man bei Springer nicht längst wüsste, wie Smith später selbst in einem Interview mit der Zeit sagt. Neu ist, dass das amerikanische Publikum von alledem erfährt.

Die Beteiligungsgesellschaft Kohlberg Kravis Roberts & Co., kurz KKR, hält mittlerweile 48 Prozent am Springer-Konzern. Damit ist Springer fast zur Hälfte ein amerikanisches Unternehmen. Und dieser Bericht kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt.

Im August hat Springer die Übernahme der Tageszeitung Politico für eine kolportierte Milliarde US-Dollar verkündet. Und nach einem Bericht von Kress pro soll das der Grund dafür gewesen sein, dass Dirk Ippen sich gegen die Veröffentlichung der Reichelt-Recherche sperrte. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung sei Ippen verdächtig vorgekommen. Er habe die Sorge gehabt, sich für eine Kampagne gegen Springer instrumentalisieren zu lassen. Und er habe die Sorge gehabt, dass "millionenschwere Schadenersatzansprüche" gegen seinen Verlag folgen könnten, wenn der Politico-Deal scheitert.

Zwei Tage, nachdem die Kolumne in der New York Times erschienen ist, soll der Politico-Deal vollzogen werden. Das wird die Aufmerksamkeit auf Springer lenken. Und wie Georg Streiter es schon im Frühjahr mit Blick auf Springers Compliance-Eskapaden gesagt hatte: "In den USA sieht man solche Geschichten ganz, ganz kritisch."

Ben Smith erwähnt in seiner Kolumne auch Reichelts gefälschte Scheidungsurkunde, die Machtmissbrauchs-Vorwürfe gegen ihn und einen geheimen Plan. Laut Smith wollte Mathias Döpfner neben Politico auch noch Axios kaufen, eine Nachrichtenwebsite, die drei ehemalige Politico-Journalisten im Jahr 2016 gegründet hatten: Jim VandeHei, Mike Allen und Roy Schwartz.

Der Plan sah wie folgt aus: Politico und Axios sollten nach der Übernahme verschmelzen, um gegenüber der Konkurrenz noch mehr Gewicht zu bekommen. Als neuer Chef des fusionierten Mediums war Jim VandeHei vorgesehen. Das sei in geheimen Gesprächen mit Döpfner besprochen worden. Geheim sollte der Plan auch deshalb bleiben, weil bei Politico darüber nicht mit großer Begeisterung zu rechnen war. Dort nahm man VandeHei es noch immer übel, dass er gegangen war, um einen Konkurrenten aufzubauen. VandeHei selbst fand Döpfners Vorhaben laut Smith, "hinterhältig". Mathias Döpfner dementiert die Erzählung.

Ben Smith zeichnet von Springer das Bild eines von Skandalen gebeutelten Konzerns, das kulturell in einer Zeitschleife stecken geblieben ist und auch vor fiesen Tricks nicht zurückschreckt, um seine Macht weiter auszubauen.

Keine 24 Stunden, nachdem der Artikel ins Netz gestellt wurde, ist Julian Reichelt seinen Job los. Was ist passiert?

"Es ging darum, Reichelt wegzubekommen"

Das Unternehmen erklärt es in einer knappen Mitteilung als "Folge von Presserecherchen". Das klingt, als wäre nicht Reichelt, sondern die Presse Schuld an dem Rauswurf. Und ganz so weit entfernt davon ist Mathias Döpfners Erklärung nicht. In einem schlecht belichteten Video, das er am 20. Oktober kurz vor seinem Abflug nach Washington, "um die neuen Kolleginnen und Kollegen von Politico zu begrüßen", an die Belegschaft schickt, erklärt er seine Version der Geschichte.

Im Hintergrund hätten Männer gewirkt, die allesamt früher für "Bild" gearbeitet hätten. Ihre Motive seien klar gewesen."Es ging darum, Reichelt wegzubekommen", sagt Döpfner. Anfang Dezember sagt Juliane Löffler in einem Interview mit dem Journalist, dass Döpfner immer noch von "Hintermännern" spreche sei erstaunlich. Ihre Quellen hätten sich entschieden, mit der Presse zu reden, "weil sie selbst wollten, dass die Missstände aufgeklärt werden".

Und was sagt Döpfner zu den Vorwürfen?

Wenn man in die Medien schaue, habe man den Eindruck es gehe "um mehrere Fälle von Sexismus, sexuellem Übergriff, sexuellem Missbrauch". Das sei zu keinem Zeitpunkt Teil der Anschuldigungen gewesen. Es sei um einvernehmliche Beziehungen zu Mitarbeiterinnen von "Bild" gegangen. Auch das sei allerdings nicht akzeptabel, wenn eine Führungskraft das nicht transparent mache.

Und um wie viele Fälle ging es? Eine große Rolle habe eine ehemalige Partnerin von Julian Reichelt gespielt, mit der er zwei Jahre zusammen gewesen sei, die aber nicht bei Springer gearbeitet habe. Die Beziehung sei bekannt gewesen. 

Außerdem sei es um vier Fälle von angeblichen Beziehungen mit Mitarbeiterinnen gegangen, die dadurch berufliche Vorteile erhalten haben sollen, so Döpfner. 

Am Ende habe ein zwiespältiges Untersuchungsergebnis gestanden. Einen Fall habe man belegen können. Das war im Frühjahr. Danach folgte die zweite Chance.

Weitere Recherchen betreibt der Verlag offenbar erst, als Juliane Löffler Springer mit den Ergebnissen ihrer Recherchen konfrontiert. Eines dieser Ergebnisse ist: Reichelt unterhält auch weiterhin eine Beziehung zu einer Mitarbeiterin. Laut Kress pro passiert das etwa eine Woche vor der geplanten Veröffentlichung, die zeitgleich zur Kolumne in der New York Times kommen sollte, wie Löffler im Interview mit dem Journalist erzählt. Ben Smith war früher ihr Vorgesetzter. Er war Chefredakteur von Buzzfeed, die Investigativ-Einheit von Ippen zu dieser Zeit noch die deutsche Buzzfeed-Tochter. Löffler erzählt, sie habe mit Smith im Sommer in Berlin zusammengesessen, über die Recherche gesprochen, und sie hätten beschlossen, die Veröffentlichungstermine abzusprechen.

Ungefähr zu gleichen Zeit, zu der Juliane Löffler Springer mit ihren Ergebnissen konfrontiert, melden sich bei Springer laut Kress pro zwei Zeugen, die Döpfner in seinem Video erwähnt und als "sehr glaubwürdig" bezeichnet. Ihre Aussagen legt der Verlag nach Döpfners Darstellung Reichelt vor, als der schon abgestritten hat, dass er eine Beziehung mit einer Redakteurin hat. Dann habe Reichelt alles zugegeben. 

"Und damit war klar: Er hat aus den Fällen von damals nichts gelernt. Zweitens: Er hat uns nicht die Wahrheit gesagt", sagt Döpfner in seinem Video.

Springer hätte längst handeln können

Offen bleibt, ob das alles auch ohne die Kolumne in der New York Times zu Reichelts Rauswurf geführt hätte.

Was sich sagen lässt: Die Hinweise auf Reichelts ambivalentes Verhältnis zur Wahrheit, die Fälschung der Scheidungsurkunde, die vielen Beschwerden über seinen Führungsstil, die vielen Führungskräfte, die das Haus verließen, und das Wissen über die Atmosphäre und Kultur, die er in der Redaktion geschaffen hatte, ließen Döpfner vorher anscheinend nicht an Reichelts Eignung als Führungsfigur zweifeln.

Ben Smith zitiert Döpfner in seiner Kolumne mit dem Satz: "Die Kultur bei Bild entsprach nicht unseren Standards." Doch das hätte der Verlag längst ändern können. Es war lange bekannt. Schon im Mai 2020 stand das alles im Spiegel.

Es ist möglich, dass Döpfner Reichelt weiter gestützt hätte, wenn da nicht Springers Ambitionen auf dem amerikanischen Markt gewesen wären. Und damit kommen wir zu Döpfners Rolle selbst in der ganzen Geschichte.

Hinter dem journalistischen Teil der Arbeit von Julian Reichelt steht Mathias Döpfner bis zuletzt. In der Pressemitteilung zu dessen Rauswurf lässt er sich mit dem Satz zitieren: "Julian Reichelt hat Bild journalistisch hervorragend entwickelt und mit Bild live die Marke zukunftsfähig gemacht."

Die Zahlen sind nicht ganz so eindeutig. Reichelt gelang es nicht, den rapiden Niedergang der Print-Auflage zu stoppen. Der neue Fernsehsender entwickelt sich schleppend. Und auch Bild.de kam in den vergangenen beiden Jahren nicht so richtig vom Fleck. Nach einem Höhenflug zum Beginn der Corona-Zeit, als das Informationsbedürfnis allgemein für kurze Zeit zunahm, fielen die Zahlen in diesem Jahr in etwa wieder auf das Niveau von 2019.

Was Döpfner an Reichelt gefällt, erklärt sich aus seiner eigenen Haltung. Die Vorgeschichte beschreibt Georg Streiter im Oktober in der Süddeutschen Zeitung. Die Antipathie zu Angela Merkel, die Döpfner mit Reichelt teilt, hat sich laut Streiter aus der Zeit ergeben, in der "Bild", damals noch unter Kai Diekmann, versuchte, mit einer Kampagne den Mindestlohn für Briefzusteller zu verhindern, um Springers eigenen Post-Konkurrenten den Weg zu ebnen. Doch der Versuch misslang.

Willfährige Trottel

"Diese Frau kommt aus dem Sozialismus und führt uns in den Sozialismus, davon war Döpfner immer überzeugt", erklärt Streiter. Der Spiegel schreibt im Oktober: Döpfner und Reichelt "verstehen 'Bild' als das letzte Bollwerk gegen einen vermeintlich anrollenden Sozialismus, sie eint die Verachtung für eine angeblich linke Elite in Medien und Politik, der die Verbindung zum Volk verloren ging".

So werden die Sätze verständlich, die Döpfner in einer SMS an seinen früheren Freund Benjamin von Stuckrad-Barre schrieb und dieser später öffentlich machte. Reichelt sei "der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt", schreibt Döpfner in der Kurznachricht. Fast alle anderen seien zu "Propaganda-Assistenten" geworden.

Die Nachricht wird für Döpfner zum Problem, denn er vertritt als Zeitungsverleger-Präsident die Interessen all jener, die er in seiner Nachricht als willfährige Trottel hingestellt hat. Im Nachhinein versucht er, den Eindruck zu revidieren, er könnte das so gemeint haben, wie es dort steht. Die Nachricht sei aus dem Zusammenhang gerissen worden. Polemik, Ironie, Übertreibung, das alles werde hier unterschlagen. Nur was sollte der Satz bedeuten, wenn nicht das, was man in ihm liest? Diese Erklärung bleibt Döpfner schuldig.

Kann er trotz allem Präsident der Zeitungsverleger bleiben?

Der Verband verschiebt die Entscheidung auf den November. In der Zwischenzeit kommt Kritik von mehreren Seiten. Thomas Düffert, Chef der Mediengruppe Madsack nennt die Sätze "eine unangemessene und verfehlte Herabsetzung". Allerdings habe Springer, so fügt er hinzu, die Aussage relativiert. Funke-Geschäftsführer Christoph Rüth nennt die "Propaganda-Assistenten" aus der SMS bei Übermedien "völlig unpassend". Richard Rebmann, der ehemalige Vizechef des Verbands, sagt der Wochenzeitung Kontext: "Mit seinen Äußerungen hat Herr Döpfner leider radikalen, rechten Kräften Vorschub geleistet, die von einer gelenkten Presse ausgehen." Carsten Lohmann, Verlagsleiter des Mindener Tageblatts, fordert Döpfner im Deutschlandfunk sogar zum Rücktritt auf.

In der Präsidiumssitzung am 24. November erklärt Döpfner noch einmal selbst, was er der Öffentlichkeit noch nicht plausibel machen konnte oder wollte: wie die Nachricht zustande gekommen ist, welchen Kontext seine Sätze hatten. Am Ende entschuldigt er sich abermals. So steht es später in der Pressemitteilung des Verbands. Und dort steht auch, dass die Entscheidung für ihn mit einer "großen Mehrheit" fiel, also nicht einstimmig.

Fragen, die noch nicht gestellt wurden

Man habe konstruktiv diskutiert und sehe keinen Grund, die "sehr erfolgreiche Arbeit des Präsidiums in den vergangenen Jahren in Frage zustellen", heißt es. In anderen Worten: Döpfner ist für den Verband zu wichtig, als dass man ihn wegen einer SMS fallen lassen würde.

Keiner der Verleger, die als Nachfolger in Frage kämen, ist in Berlin so gut vernetzt wie er. Und die Verlage haben einiges vor. Sie möchten Google dazu bewegen, Geld für ihre Inhalte zu zahlen, wie es das Leistungsschutzrecht fordert. Sie hoffen auf eine Presseförderung, die ihnen die hohen Kosten für die Zustellung von Zeitungen von den Schultern nimmt. Und sie möchten, dass die Tech-Plattformen endlich reguliert werden. Um all das zu erreichen, gibt es keinen besseren als Döpfner.

Damit bleibt am Ende der Eindruck, dass Reichelt auch deshalb gehen musste, weil er mit seinen Eskapaden für Springer zu einem wirtschaftlichen Risiko geworden war, und dass Döpfner bleiben durfte, weil der Verband das wirtschaftliche Risiko mit ihm als Chef senkt.

Inzwischen sitzt Johannes Boie in Julian Reichelts Büro, und nach außen hat sich tatsächlich etwas verändert. Der Ton ist weniger aggressiv, der Boulevard-Anteil wieder größer geworden. Doch "Bild" bleibt sich auch unter Boie treu. Im Dezember stellt das Blatt zwei Wissenschafler und eine Wissenschaftlerin an den Pranger. Über der Schlagzeile "Die Lockdown-Macher" steht der Satz: "Experten-Trio schenkt uns Frust zum Fest". Auf der Startseite heißt es: "Sie haben uns den Lockdown eingebrockt". Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wehrt sich. Beim Presserat gehen in wenigen Tagen knapp hundert Beschwerden ein. Springer teilt mit, man könne die Kritik verstehen und nehme sie ernst.

Mitte Dezember behauptet der neue Bundes-Gesundheitsminister Karl Lauterbach bei Maybrit Illner, er habe dazu beigetragen, dass der Artikel gelöscht wird. Beim Verlag wundert man sich über die Behauptung. Auch Lauterbach wundert sich, denn der Artikel ist weiter online.

Bleibt die Frage: Ist das interne Problem mit Reichelts Weggang gelöst? Juliane Löffler nennt im Interview mit dem Magazin Journalist einige Fragen, die noch gar nicht gestellt wurden: Wer hat das System Reichelt "wissentlich übersehen, es zugelassen oder sogar unterstützt?" Wie kann es sein, dass so etwas über Jahre möglich ist? "Welche Rolle spielt Angst, welche Rolle Sexismus, welche Rolle spielen andere mächtige Männer in dem Unternehmen?", fragt Löffler. Nach dem Eindruck, den Springer in den vergangenen Monaten hinterlassen hat, erscheint es als unwahrscheinlich, dass Springer all das gründlich aufarbeiten wird.

Aber relativ sicher werden sich andere Firmen, die jetzt noch nicht damit rechnen, mit dem Thema beschäftigen müssen. In ihr Postfach sei noch "gar keine Ruhe eingekehrt", sagt Juliane Löffler in dem Journalist-Interview. Es meldeten sich immer neue Quellen, auch aus ganz anderen Bereichen.

Ungefähr zur gleichen Zeit kursiert ein Gerücht. David Schraven macht es bei Twitter öffentlich. "Ist eigentlich schon allgemein bekannt, dass Julian Reichelt zu Servus TV geht?" Reichelt dementiert. Marvin Schade vom Medieninsider zitiert ihn mit dem Satz: "Ich kann bestätigen, dass ich nach Österreich gehe. Allerdings nur in den Ski-Urlaub."

"I’ll be back"

Kurz darauf meldet Julian Reichelt sich bei Twitter zurück. Im Furor wettert er gegen die Kehrtwende der Bundesregierung bei der Impfpflicht und entwirft den Spin, seine Entlassung habe mit seiner politischen Meinung zu tun gehabt. In seiner Twitter Biografie steht nun nicht mehr "E-i-C Bild", also Editor in Chief – Chefredakteur, sondern ein Terminator-Zitat: "I’ll be back."

Doch so richtig weg ist Reichelt gar nicht. Am 8. Dezember erscheint ein Interview in der Zeit, das Cathrin Gilbert mit ihm geführt hat, die früher selbst bei der "Bild" gelernt hat. In dem Gespräch benennt Reichelt viele Schuldige an seinem Rauswurf: die "Woke-Wahnsinnigen", "frustrierte Kollegen" oder Mathias Döpfner, von dem er enttäuscht sei. Nur bei sich selbst sieht er keinen Fehler. Auf die Frage, ob er sich bei den Frauen, um die es hier geht, nicht entschuldigen sollte, sagt er: "Ich wüsste nicht, bei wem und wofür."

Cornelius Pollmer schreibt in der Süddeutschen Zeitung, Reichelts Strategie sei: "Angriff ist der beste Angriff". Anne Fromm kritisiert in der taz, dass Cathrin Gilbert ihm nur zaghaft widersprochen habe – etwa, als Reichelt sagt, er habe die "Bild" von einem Journalismus befreit, der in die Privatsphäre von Menschen eindringt. Allein in diesem Jahr habe der Presserat 20 Rügen gegen "Bild" ausgesprochen, in vielen Fällen, weil Berichte Persönlichkeitsrechte verletzten. So stehen gelassen hatte Cathrin Gilbert auch die Behauptung, der Spiegel-Artikel aus dem März über die Vorwürfe gegen ihn sei "verboten worden, weil er falsch war". Tatsächlich sei er verboten worden, "weil Axel Springer seine internen Kommunikationswege offenbar nicht im Griff hat", schreibt Anne Fromm.

Auch an anderen Stellen passt Reichelts Geschichte nicht ganz zu den Tatsachen. Eine der Frauen, die er gefördert und damit offenbar überfordert hatte, so hatten es Kollegen dem Spiegel erzählt, sei immer häufiger krank geworden, schließlich sei sie in einer Klinik gelandet. Reichelt sagt dazu: "Überforderung ist nichts Schlimmes." Sie führe dazu, dass Menschen über das hinauswüchsen, was sie sich selbst zutrauten.

Was er mit dem Satz "I’ll be back" meint, deutet Reichelt in dem Gespräch lediglich an. Er wolle nicht wie Kai Diekmann PR machen, sondern "Journalismus für die Massen", sagt er. Wo genau er weitermachen werde, verrät er nicht. Wenn es keinen passenden Job gebe, habe man in einem freien Land ja die Möglichkeit, sich diesen Job selber zu schaffen, sagt Reichelt. Offen bleibt, ob er mit dem "freien Land" wirklich Deutschland meint.


Korrekturhinweis: In einer früheren Version hatten wir geschrieben, die "Bild"-Leserschaft habe von der Kritik an der Schlagzeile "Die Lockdown-Macher" und den Presserat-Beschwerden nichts erfahren. Das stimmt nicht. Am 6. Dezember gab es einen Artikel auf Bild.de, in dem es um diese Kritik ging. Darin sagt "Bild"-Chefredakteur Johannes Boie: "Kritik muss angemessen geübt werden. Das gilt ausdrücklich auch für BILD." Am 7. Dezember erschien dazu eine Meldung in der gedruckten Zeitung.

Der Altpapier-Jahresrückblick 2021