Eine stilisierte Frau und ein stilisierter Mann, stehen in nachdenklicher Körperhaltung mit dem Rücken zueinander im Bild. Finger am Rand zeigen auf die beiden Personen.
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Der Altpapier-Jahresrückblick am 27. Dezember 2021 Empört euch – aber richtig!

30. Dezember 2021, 15:03 Uhr

Eine geschasste WDR-Mitarbeiterin, angeblich pressefeindliche Start-ups: 2021 bot reichlich Anlässe für Aufregung. So manche Debatte führte allerdings auf Abwege. Annika Schneider fasst im Altpapier-Jahresrückblick drei Neujahrsvorsätze für eine bessere Empörungsberichterstattung.

Vom geschichtengeilen Klischeejournalisten

Mit hohen Stiefeln und gelbem Mantel läuft eine Frau an einer Baustelle vorbei. Einer der Handwerker pfeift plötzlich laut, um einen Kollegen auf sich aufmerksam zu machen. Zwei AfD-Wahlkämpfer, die die Szene beobachten, sind überzeugt: Die Passantin wurde belästigt. Und während das vermeintliche Sexismus-Opfer noch versucht klarzustellen, dass gar nichts Verwerfliches passiert ist, schraubt sich in sozialen und traditionellen Medien schon eine Erregungsspirale nach oben. Sie mündet schließlich in "Breaking News" über eine Massenvergewaltigung und der politischen Forderung, Baustellen müssten generell verboten werden.

Spätestens beim letzten Punkt wird klar: Das Ereignis ist Satire, erdacht von den Machern der inzwischen eingestellten ZDF-Sendung "Mann, Sieber!". Treffend zeigt das Drei-Minuten-Video mit dem Titel "Die Erregungsspirale" (nicht mehr in der Mediathek, aber noch bei YouTube zu finden), wie Presse und soziale Medien eine Banalität nicht nur in die Öffentlichkeit, sondern auch auf die politische Agenda katapultieren, befeuert von unreflektierten Vorurteilen.

Der im Clip gezeigte geschichtengeile Klischeejournalist und sein klickgetriebener Chefredakteur ließen sich im echten Leben so hoffentlich nicht finden. Im Umgang mit im Netz entfachter Empörung haben die meisten Redaktionen einiges gelernt, vor allem, dass sie nicht über jedes der berüchtigten "hingehaltenen Stöckchen" springen wollen.

"Irgendwas mit Antisemitismus" zieht immer

Und doch ist es auch 2021 wieder passiert: Erregungsspiralen wanden sich in schwindelerregende Höhen, wo sie dann entweder folgenlos verpufften oder gewaltigen Schaden anrichteten. Nehmen wir das Beispiel Nemi El-Hassan, neben Julian Reichelt die wohl meistdiskutierte Personalie des vergangenen Medienjahres. Der Ruf der jungen Nachwuchsjournalistin ist bis auf Weiteres ruiniert, die geplante Moderation für das WDR-Magazin "Quarks" abgesagt. Und das alles, weil – ja, warum eigentlich? "Irgendwas mit Antisemitismus" werden wohl die meisten sagen.

Im Mittelpunkt stand zuerst ihre Teilnahme an einer Al-Kuds-Demo 2014, von der die Journalistin sich schnell distanzierte. In der weiteren Debatte und der Prüfung des WDR ging es dann vor allem um jüngere "Likes", mit denen Nemi El-Hassan auf Instagram-Posts reagiert haben soll. Aber ob und warum diese Posts "antisemitisch" oder "israelkritisch" waren und wo genau die Grenze dazwischen verläuft – all das wurde kaum diskutiert, auch weil die konkreten Likes in den meisten Berichten gar nicht benannt wurden (zu finden sind sie in diesem "Bild"-Artikel). Die Historikerin Marion Detjen schreibt in ihrer "Zeit"-Kolumne:

"[Nemi El-Hassans] Stimme und ihr Gesicht in der Öffentlichkeit werden in Deutschland ein für alle Mal festgelegt sein – festgelegt auf ein binäres identitätspolitisches Schema: Ist sie Islamistin, ja oder nein? Ist sie Antisemitin, ja oder nein? Hasst sie Israel, ja oder nein? Und wenn diese Fragen mit Nein beantwortet werden müssen: Grenzt sie sich genügend vom Antisemitismus, vom Islamismus, vom Israel-Hass ab? Grenzt sie sich genügend von denen ab, die sich nicht genügend abgrenzen? Grenzt sie sich genügend von denen ab, die sich nicht genügend von denen abgrenzen, die sich nicht genügend abgrenzen? Und so weiter und so fort."

Wie abseitig die Debatte verlaufen ist, zeigte auch ein Hintergrundgespräch: Ein Mitglied des WDR-Rundfunkrats konnte mir darin (wohlgemerkt nach der Teilnahme an einer Rundfunkratssitzung zum Thema Nemi El-Hassan) inhaltlich nichts zu den Vorwürfen gegen die Journalistin sagen, mit der Begründung, dafür bräuchte es Fachwissen in Sachen Antisemitismus. Diese Zurückhaltung hätte vielleicht auch manchen anderen gutgetan, die mit einer Verurteilung schnell bei der Hand waren.

Deswegen an dieser Stelle drei Neujahrsvorsätze für eine bessere Berichterstattung im Jahr 2022 über Themen mit Empörungspotenzial.

Erster Vorsatz: Erst mal recherchieren…

Nemi El-Hassan soll an dieser Stelle nicht verteidigt werden – ich weiß zu wenig aus erster Hand, um mir ein Urteil zu bilden. Und wenn das dazu führt, dass Sie an dieser Stelle keine Lust haben, weiterzulesen, dann ist genau das Teil des Problems. Denn Komplexität und Ambiguität verkaufen sich eben nicht so gut.

Erwartet hätte man die Klärung, wie kritikwürdig die Likes eigentlich sind, wohl vom WDR selbst. Der Sender beendete die Zusammenarbeit mit der designierten Moderatorin allerdings ohne abschließende Prüfung der Vorwürfe mit der Begründung, das Vertrauen für eine Zusammenarbeit sei nicht mehr vorhanden. Endgültige Aufklärung ist nach der lautstarken Empörung also nicht zu erwarten.

Dabei hätte keine Redaktion über den Fall berichten sollen, ohne nicht selbst die kritikwürdigen "Likes" vorliegen zu haben, zu benennen und die Betroffene um eine Stellungnahme zu bitten. Natürlich ist es mühsame Recherche-Arbeit, einzelne Instagram-Beiträge von Fachleuten bewerten zu lassen oder herauszufinden, wer mit welcher Intention bei einer Al-Kuds-Demo mitläuft.

Leichter ist es, Tweets und Meinungsäußerungen zu zitieren. Noch leichter ist es, die Debatte sofort zu weiten und die große Frage zu stellen, was Moderatorinnen und Moderatoren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk dürfen und was nicht. Aber nach den strengen Vorgaben der Verdachtsberichterstattung müssen bei Berichten über Vorwürfe erst einmal Belege für ein Vergehen vorliegen und die betroffene Person muss die Chance zur Stellungnahme bekommen. Beides fand sich nur in wenigen Beiträgen, vor allem als der Fokus von der Al-Kuds-Demo auf die Social-Media-Aktivitäten der Journalistin umgeschwenkt war.

Zweiter Vorsatz: …dann durchatmen…

Gründlichere Recherche lässt sich natürlich nicht fordern, ohne die Ressource Zeit anzusprechen: Die ist in allen Redaktionen ohnehin knapp und wird durch das Wettrennen um die schnellste Story weiter künstlich verknappt. Bei komplexen Themen schlägt das voll durch. ZDF-Hauptstadtkorrespondentin Nicole Dieckmann sagte in einer Diskussionsrunde des Journalistinnenbundes zur Frage, warum Medien Erregungsspiralen mittreiben, denn auch vor Kurzem:

"Ich würde das nicht Naivität nennen, ich würde das Überforderung nennen."

In der gleichen Runde sagte Barbara Hans, bis vor Kurzem Chefredakteurin von "Spiegel Online", allerdings:

"Egal, mit welchen Protagonistinnen wir zu tun haben und egal, um welches Thema es geht: Es ist immer komplex und unser Job ist immer, das zu verstehen und es dann zu verarbeiten und es so zu reproduzieren (…), dass es verständlich ist, dass es verdaubar und dass es auch eine Öffentlichkeit findet."

Dass der Wunsch, etwas in eine möglichst große Öffentlichkeit zu tragen, mitunter aber auf Kosten der Komplexität geht, zeigte die Berichterstattung über das Instagram-Video des Musikers Gil Ofarim, in dem er einem Leipziger Hotelangestellten am 4. Oktober vorwarf, ihn wegen seiner jüdischen Identität beleidigt zu haben – ein Vorwurf, der später angezweifelt wurde. "Spiegel"-Reporter Alexander Smoltczyk kam im November zu dem Schluss (€):

"Aussage steht gegen Aussage. Einerseits. Andererseits ist dieser Fall bereits jetzt ein Lehrstück. Darüber, wie in der Überreiztheit der sozialen Medien sofort und zweifelsfrei entschieden wird, was gut ist und was böse."

Wie viel runder wäre die Darstellung gewesen, wenn nicht häppchenweise immer neue Informationen an die Öffentlichkeit gekommen wären (getriggert natürlich durch die schon laufende Debatte). Journalismus wird in solchen Fällen zum billigen Fortsetzungsroman, bei dem jede Folge der Story einen neuen Twist hinzufügt.

Wäre dem Skandal nicht auch Genüge getan worden, wenn der Vorfall erst ein paar Tage später in den Qualitätsmedien angekommen wäre, dafür aber mit einem ausgeruhten Blick auf alle Beteiligten? Natürlich ist Twitter immer schneller und der Hashtag dort womöglich schon längst aus den Trends verschwunden, wenn der erste fundierte Artikel erscheint. Aber die klassischen Medien sind eben nicht Twitter – aus gutem Grund.

Dritter Vorsatz: …und zum Schluss entscheiden

Dass Antisemitismus ein schwerwiegender Vorwurf ist, dem unbedingt nachgegangen werden muss (ob im Fall Nemi El-Hassan oder Gil Ofarim) steht außer Frage. Immer wieder kreisen Erregungsspiralen aber auch um Themen, deren Nachrichtenwert bei genauerem Hinsehen begrenzt ist und an die sich kurz danach schon keiner mehr erinnert. Oder hat noch irgendwer die Empörung vor Augen, die im Sommer über den Beirat Junge Digitale Wirtschaft hinwegschwappte?

Auf der Seite des Bundeswirtschaftsministeriums war im Juli ein Positionspapier des Gremiums aufgetaucht, dessen Forderungen gegen den Grundsatz der Pressefreiheit verstießen, Stichwort "Disziplinierung der Presse". Der Vorschlag war dermaßen bescheuert, dass ihn nicht einmal die Verfasser selbst verteidigen wollten und eilig zurückruderten oder gar zurücktraten. Fall erledigt? Zahlreiche Mediensendungen und -seiten kauten genüsslich auf der Causa herum und widmeten ihr Platz und Sendezeit – und das wegen eines Vorschlags, der von einem unbedeutenden Gremium kam, keinerlei Anwendung fand und beim ersten Hauch von Kritik leise verpuffte.

Leider bleiben die Redaktionen, die sich bewusst dagegen entscheiden, auf einen solchen Themenzug aufzuspringen, meist unsichtbar. Die Klicks sammeln die, die mitziehen. Dabei ist es ein echtes Qualitätsmerkmal von Redaktionen, Themen nach reiflicher Überlegung nicht umzusetzen und die knappen Ressourcen anderen Dingen zu widmen.

Die Medienjournalistin Brigitte Baetz machte das vor Kurzem in einem Kommentar im Deutschlandfunk deutlich, in dem es um den Umgang der "Mediasres"-Redaktion mit dem Reichelt-Interview (Thema in diesem Altpapier-Jahresrückblick) ging:

"Ein Dilemma, das sich uns immer wieder stellt: Wir wollen und müssen Medienhypes hinterfragen, wollen aber nicht gerade deshalb diese Hypes weitertransportieren.

Denn auch negative Erwähnungen sind nun mal Erwähnungen, das Gold der Aufmerksamkeitsökonomie. Vermutlich kommen wir einfach aus dieser Spirale nie ganz raus."

Vielleicht hilft manchmal ein bisschen Mut zum echten Nachrichtenwert. Dass ein Begriff auf Twitter trendet, ist für sich allein kein Nachrichtenkriterium. Die Leute, die das interessiert, können ja direkt Twitter lesen.

Fakten sind Pflicht, Meinung ist Kür

Was passiert, wenn Redaktionen dem verlockenden Kreiseln der Erregungsspirale erliegen, zeigte Andrej Reisin im November sehr schön bei Übermedien am Streit um eine britische Philosophie-Professorin, über den auch deutsche Medien berichteten. Der Text heißt passenderweise "Wenn Medien vor lauter Empörung nicht mehr den Konflikt erklären".

Reisin verweist auf das Konzept der "moralischen Empörung", das der Soziologe Stanley Cohen Anfang der 1970er entwickelte. Es soll beschreiben, wie mediale Berichterstattung anhand kleinerer Vorkommnisse ganze Gruppen zu einer "gesellschaftlichen Gefahr" hochjazzt. Zuletzt wurde es gerne verwendet, um zu erklären, warum zu Pandemiebeginn den "verantwortungslosen jungen Leuten" die Schuld für die Infektionszahlen zugeschrieben wurde.

Interessant ist an dem Modell, dass Journalistinnen und Journalisten dabei nicht nur Sachverhalte beschreiben, sondern selbst moralische Ansprüche stellen. Anstatt Fakten sauber darzustellen und dem Publikum das Urteilen zu überlassen, wird die Deutung immer gleich mitgeliefert.

Eine Vermischung von Fakten und Meinung ist nicht nur für das Image der Medien in der Gesellschaft brandgefährlich, sie neigt auch dazu, die Welt in Schwarz und Weiß zu unterteilen. Um noch einmal zum "Beirat digitale Wirtschaft" zurückzukommen: Wer allen Start-ups ihre demokratischen Überzeugungen abspricht, tritt auch vielen gesellschaftlich engagierten Gründerinnen und Gründern auf die Füße.

Die Journalistin und Medienberaterin Sheila Myroskar, Vorstandsmitglied der Neuen deutschen Medienmacher*innen, warnt außerdem in der schon erwähnten Podiumsdiskussion davor,

"dass viele von den Framings und von den Narrativen, die ausgestreut werden und in der Mitte der Gesellschaft und auch des Journalismus übernommen werden, rechte Framings sind. Das heißt: Wem nützt, was hier erregt wird? (…) Das nützt ganz stark den Rechten. Und für meine Begriffe ist das nicht wirklich erkannt und es wird nicht wirklich in den Redaktionen diskutiert in der Dringlichkeit, die wir eigentlich haben müssten."

Damit wären wir wieder beim Anfang dieses Textes – der von fiktiven AfD-Mitgliedern angefachten Erregungsspirale aus dem ZDF-Clip. Im Fall Nemi El-Hassan stellte eine "Zeit"-Recherche tatsächlich dar, wie die Debatte von rechten Kreisen gezielt angestoßen wurde. Das ist kein Grund, ein Thema nicht zu diskutieren, es sollte aber eben mit der gebotenen Sorgfalt und notwendigen Transparenz geschehen. Ich hoffe deshalb auch 2022 auf viele Erregungsspiralen – aber nur bei Themen, die es wert sind.

Transparenzhinweis: Annika Schneider arbeitet als freie Journalistin sowohl für die Medienredaktion des Deutschlandfunks als auch für den WDR.

Der Altpapier-Jahresrückblick 2021