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Der Altpapier-Jahresrückblick am 28. Dezember 2021Zu kurz gedacht

28. Dezember 2021, 11:17 Uhr

Sehen die meisten Journalistinnen und Journalisten, die über die Klimakrise schreiben, die Welt mit den Augen der Mächtigen? Verhindert sowohl bei der Klimakrise als auch in der Pandemie-Berichterstattung ein "Kult der Kurzfristigkeit" die wichtigen Debatten? Ein Altpapier-Jahresrückblick zu den großen Menschheitsthemen Klima und Corona von René Martens.

Ausgeblendete Klimaschäden

"Der Klimawandel ist wahrscheinlich die größte und am längsten andauernde Geschichte, an der die gegenwärtige Journalistengeneration arbeiten wird" - das hat die World Association of News Publishers gerade festgestellt. Es liegt durchaus nahe, das zu betonen, weil das größte Thema bekanntlich eine Pandemie ist, von der wir nicht wissen, wie lange die gegenwärtige Journalistengeneration mit ihr zu tun haben wird.

Medienjournalistisch lassen sich zwischen beiden Themen Verbindungen herstellen - was auch der vor einem Jahr erschienene Jahresrückblick zum Thema Wissenschaftsjournalismus zeigte. Das False-Balance-Problem etwa ist sowohl in der Klima- als auch der Corona-Berichterstattung zu beobachten (siehe dazu ein Christian-Drosten-Statement in einem Altpapier aus dem Juni). Versucht man dagegen, eine positive Verbindung zwischen beiden Themen herzustellen, gelangt man zum Beispiel zu der Frage, was Journalistinnen und Journalisten aus der Corona-Pandemie für die Berichterstattung über die Klimakrise lernen können. Dazu sagt Wolfgang Blau, Mitgründer des Oxford Climate Journalism Network, Ende Oktober gegenüber der österreichischen Zeitung Der Standard (siehe Altpapier):

"Es war (…) beachtlich, wie schnell es (…) Nachrichtenmedien gelungen ist, sich auf ein überschaubares Set von Metriken zur Covid-Krise einzuspielen, wie etwa die Ansteckungsrate, die nationale Impfquote oder die Hospitalisierungsrate. In der Klimaberichterstattung fehlen uns noch vergleichbar simple Metriken, die in Nachrichtensendungen immer wieder erwähnt werden und damit Orientierung geben könnten."

Was müssten Journalistinnen und Journalisten, die sich mit dem Klima beschäftigen, ändern? In diesem Zusammenhang fragt Christiane Schulzki-Haddouti von den Riffreportern, inwieweit die mediale "Gegenüberstellung von Politik und Aktivistinnen" problematisch sei. Sie stellt die Frage Torsten Schäfer aka @umweltredakteur, Professor für Journalismus und Textproduktion an der Hochschule Darmstadt und Mitgründer des Netzwerks Klimajournalismus. Schäfer sagt:

"Wir kennen aus der Journalismusforschung das Experten- und Expertinnen-Recycling: In den Talkshows werden immer dieselben Politologen befragt, so ist es jetzt auch in der Klimadimension. Das hat damit zu tun, dass wir lange fast keine Köpfe in der Klima-Berichterstattung gesehen hatten. Jetzt fokussiert man sich eben auf die Stars von Fridays for Future. Man könnte auch andere Stimmen aus deren zweiter Reihe nehmen. Oder mal andere Protestgruppen, kleinere NGO fragen."

Eine andere Schwäche beschreibt Schäfer in diesem Interview so:

"In der Wirtschaftsberichterstattung blenden wir die Kosten der Umweltschäden aus. Mittlerweile erreichen Klimaschäden in Deutschland jährlich einen Umfang von mehr als 150 Milliarden Euro. In der Berichterstattung über Landwirtschaft werden die Emissionseffekte von Böden und die Rolle von Düngemitteln ständig ausgeblendet."

Werfen wir nun einen Blick auf die Makro-Ebene - mit Michael Brüggemann, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Uni Hamburg. Im Interview mit dem Blog Das Klimathema sagt er:

"Als sich die pandemische Lage in Deutschland im Sommer zwischenzeitlich beruhigt hatte, ist das Klimathema in die Berichterstattung zurückgekommen. Trotzdem haben wir uns vor der Bundestagswahl nicht auf einem besonders hohen Niveau bewegt (…) Insgesamt ist die Berichterstattung schon lange schwächer, als sie es von 2007 bis 2010, also bis kurz nach der gescheiterten Klimakonferenz von Kopenhagen, war. Bis Mitte diesen Oktobers. Rund um die COP26 in Glasgow war die Klima-Berichterstattung nun tatsächlich so stark wie seit 12 Jahren nicht mehr."

Die COP26 war unter anderem Thema in diesem Altpapier. Zum Thema Berichterstattungskonjunktur führt Brüggemann in dem Gespräch weiter aus:

"In den Politikressorts wird (der Klimawandel) sehr gut und intensiv behandelt, wenn Korrespondentinnen oder Korrespondenten von einer Klimakonferenz wie gerade der COP26 berichten. Aber danach wird die große, strukturelle Herausforderung Klimawandel wieder verdrängt durch Nebensächlichkeiten in der nationalen Politik, dem Klein-Klein des politischen Personalkarussells und anderem. Dabei ist das Problem nicht mal 'nur' der Klimawandel, sondern auch die Zerstörung der Artenvielfalt, die Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden, die ausufernde Landnutzung, etc. Das hängt in seinen Folgen und auch Lösungen eng zusammen. Bisher vernachlässigen Journalisten diese Zusammenhänge sehr."

Billigfleisch-Debatten und andere Ablenkungen

Um bei den "Nebensächlichkeiten in der nationalen Politik" und "dem Problem des Klein-Klein des politischen Personalkarussells" zu bleiben: Dazu haben sich auch Alphadenker wie Bernhard Pörksen und Harald Welzer geäußert. Pörksen schrieb im August in einem seinerzeit auch im Altpapier gewürdigten SZ-Aufsatz unter den Überschriften "Kult der Kurzfristigkeit" (Print) bzw. "Die Gefahr des totalen Jetzt" (online):

"Hat wieder irgendwer gefordert, Inlandsflüge zu verbieten, den Konsum von Billigfleisch zu reduzieren? Schon ist es da, das große, tagesaktuelle, im Kern bloß modische Spektakel, das von Tugendterror und grüner Hypermoral handelt und die neueste Meinungsumfrage zum Thema referiert. Unbeachtet und undiskutiert bleibt hingegen die alles entscheidende Frage, was grundsätzlich zu tun wäre, um im Angesicht von brennenden Wäldern, von Dürre und Hitzetoten den Klimawandel doch noch irgendwie aufzuhalten. Hier bräuchte es (…) einen Abschied von der Fetischisierung des zeitlich Neuen, aktuell Aufregenden, spektakulär Konflikthaften."

Und Welzer kritisiert in der Mitte Dezember erschienenen Winter-Ausgabe des Vierteljahresmagazins taz FUTURZWEI einen

"politischen Journalismus, der sich intensiv für die Interna des Betriebssystems Politik interessiert, darüber aber vergessen hat, dass die Politik Aufgaben hat, die mit Erfolg in Intrigen, Machtkämpfen und Worterfindungen nicht zu bewältigen sind. Das sind dann so materielle Dinge wie die Handlungsfähigkeit des Staates unter verschärftem Klimastress. Oder glaubt irgendjemand, es sei möglich, der nächsten und der übernächsten Flutkatastrophe zu begegnen, indem man wieder 30 Milliarden Euro oder so mobilisiert?"

Worin bestehen nun die Herausforderungen für die Berichterstattung über die Klimakrise? In einer Folge von "1,5 Grad - der Klima-Podcast mit Luisa Neubauer" sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Samira El Ouassil:

"Warum haben meine Kinder nicht ein genauso großes Recht (…) auf einen lebenswerten Planeten wie meine Eltern und Großeltern?"

Dieser Verzicht, "der mir gerade oktroyiert wird durch politische Entscheidungen", sei sehr viel größer als es "jeder vermeintliche Konsumverzicht" sein könne - und diese Ungleichheit müsse der Journalismus so herausarbeiten, dass auch für andere deutlich werde, dass sie auf diese Weise persönlich betroffen seien, so El Ouassil.

Was wir vielleicht auch brauchen: andere Bilder. Der schwedische Humanökologe Andreas Malm - dessen Buch "Hot To Blow Up A Pipeline" "große US-Medien wohlwollend rezipiert haben" (ND/Blendle) - sagt jedenfalls in einem Interview mit Zeit Online:

"Die Tötung von George Floyd etwa: Da hat man einen Polizisten, der direkte zwischenmenschliche Gewalt anwendet. Das Problem der Gewalt in der Klimakrise ist: Sie geschieht nicht von Angesicht zu Angesicht. Wir werden nie einen achtminütigen Videoclip sehen, wo der Chef einer Ölfirma einen mosambikanischen Bauern erwürgt. Wir haben eine über die Atmosphäre vermittelte Gewalt, und wir sind nach wie vor in dem Denken befangen, dass sich die Verfeuerung von fossilen Brennstoffen in Luft auflöst, folgenlos bleibt, solange wir die Folgen nicht sehen. Und die spielen sich am stärksten fern von den Verursachern ab, im globalen Süden."

Nun könnte man natürlich sagen: Es gibt doch, zum Beispiel von der Hochwasserkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, Bilder, die die verheerenden Wirkungen der Klimakrise, also Gewalt in einem sehr weiten Sinne, zeigen. Eine wichtige Frage in diesem Kontext lautet aber: Haben wir diese Katastrophenbilder so wahrgenommen, wie wir sie wahrnehmen müssten? Dazu noch einmal der Klimajournalismusexperte Torsten Schäfer im bereits zitierten Interview mit riffreporter.de:

"Wir haben diese unglaubliche Katastrophe mit ihren Bildern schon wieder eingereiht in die Geschichte der Umweltkatastrophen in Deutschland. Das darf nicht sein. Denn es war historisch. Wir bräuchten ein Fluss-Moratorium und ein viel größeres Gespräch über Flächenverbrauch. Der hat sich zwar reduziert in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, aber es ist immer noch viel zu viel – gemessen an der Situation, in der wir uns mit Artensterben und Klimanotstand befinden. Aber es wird weiterhin gebaut an Flussufern, als wäre die Katastrophe an Ahr und Erft nicht geschehen."

Der blinde Fleck

Unzureichend ist die Berichterstattung zum Thema Klima nicht zuletzt, weil, von Nischenmedien abgesehen, nennenswerte Grundsatzkritik am Kapitalismus ausbleibt. In diese Richtung argumentiert zum Beispiel Lorenz Matzat, neben dem bereits erwähnten Torsten Schäfer ein weiterer Mitgründer des Netzwerks Klimajournalismus. Im März dieses Jahres schrieb er (siehe Altpapier): In den Medien, "deren Perspektiven und Themen durch die hegemonial vorherrschenden Gesellschaftserzählungen bedingt werden, die diese Hegemonie gleichzeitig in einer Wechselbeziehung mit formen" bleibe Journalismus zum Klimawandel "oft analytisch flach" und wirke "hilflos" - und zwar, "weil er seinen blinden Fleck nicht erkennen kann, ihn aber doch immer umschiffen muss: Der menschengemachte Klimawandel geht ursächlich auf das rücksichtslose Wirtschaftssystem zugunsten des konsumorientierten Lebenswandels der Einwohner*innen der westlichen Industriestaaten zurück."

Etwas moderater formuliert es der frühere US-Arbeitsminister Robert Reich im Guardian: Der "Mainstream-Journalismus" sehe "die Welt mit den Augen der Mächtigen", schreibt er. Und:

"Mainstream journalists wanting to appear serious about public policy rip into progressives for the costs of their proposals, but never ask self-styled 'moderates' how they plan to cope with the costs of doing nothing or doing too little about the same problems. A Green New Deal might be expensive but doing nothing about the climate crisis will almost certainly cost far more."

Abgesehen davon, dass die Formulierungen "Mainstream-Journalismus" und "Mainstream-Journalist" hierzulande diskreditiert sind, weil die rechte Szene sie zu Kampfbegriffen gemacht hat, lässt sich Reichs Kritik auch auf deutsche Verhältnisse übertragen.

Was die notwendigen Veränderungen in der redaktionellen Organisation angeht, ist im ablaufenden Jahr die Forderung, Klimajournalismus müsse in allen Ressorts stattfinden - also etwa auch auf den Reiseseiten oder im Sportteil - lauter geworden. Der prominenteste Vertreter dieses Anliegens im deutschsprachigen Raum dürfte der schon erwähnte Wolfgang Blau sein (siehe zum Beispiel dieses Altpapier).

Auf einen Guardian-Beitrag mit entsprechender Botschaft, zu dem zehn Redakteure aus verschiedenen Ressorts beigetragen haben, sind wir in diesem Altpapier eingegangen. Ähnlich argumentieren Sven Egenter und Carel Mohn bei Das Klimathema:

"Eine Kulturredaktion müsste im Blick haben, wie sich das Theater, Museen, die Literatur mit dem Klimawandel auseinandersetzen, wie darum gerungen wird, die Anpassung der Städte an Starkregen und Hitzewellen mit dem Denkmalschutz oder konkurrierenden Zielen der Stadtentwicklung in Einklang zu bringen, welchen Stellenwert klimawandelbedingte Migration in der auswärtigen Kulturpolitik gewinnt."

Was man aber auch fragen kann. Ob der Begriff Klimajournalismus nicht kontraproduktiv ist. Egenter und Mohn geben im zitierten Beitrag jedenfalls zu bedenken, "dass (…) der Begriff ein Problem darstellt, untergräbt er doch möglicherweise genau das, was er eigentlich überwinden will – nämlich die Befreiung der Klimaberichterstattung aus engen Zuständigkeits- und Ressortgrenzen".

Die Klimakrise im Fernsehen

TV-Meteorologen haben im Laufe des Jahres 2021 ihre Rolle in verstärktem Maße anders interpretiert und sind mehr als bisher dazu übergegangen, in die Wetterberichte Hintergründe zur Klimakrise einzubauen (Altpapier, Altpapier). Özden Terli vom ZDF wäre hier stellvertretend zu nennen (siehe zum Beispiel den Schluss dieses und dieses "Heute-Journals").

Das wohl meistdiskutierte TV-Format zum Thema Klima ist bisher gar nicht auf Sendung gegangen: ein kurzes Spezialformat im Ersten Programm, das sich an die Idee von "Börse vor acht" anlehnt. Die Initiative "Klima vor acht" fordert so eine Sendung seit 2020. Von der Initiative inspirieren lassen hat sich stattdessen RTL, das nun zweimal pro Woche in seinem Hauptprogramm im Anschluss an "RTL aktuell" ein knackiges, etwas länger als eine Minute umfassendes und von "Klima vor acht " mitkonzipiertes "Klima-Update" sendet (etwa zu den Themen "Klimaszenarien" oder "Extremwetter"). Für dwdl.de gehören die "Klima vor acht"-Leute daher zu den "20 Bildschirmheldinnen und -helden des Jahres 2021" (siehe auch Altpapier).

Der (fehlende) Blick auf den Rest der Welt

Sowohl bei der hiesigen Klima- als auch der Pandemie-Berichterstattung bemängeln Medienkritiker, dass der nicht-westeuropäische bzw. nicht-US-amerikanische Raum unterrepräsentiert ist.

"So lange die Probleme uns nicht ganz dicht auf den Pelz rücken, ignorieren wir Menschen sie ja auch gerne. Noch saufen unsere Küstenregionen ja nicht ab (…), noch haben wir alle Lebensmittel, die wir so brauchen."

sagt in dem Kontext Ute Brucker in der Anmoderation eines "Weltspiegel"-Beitrags zu den schädlichen Folgen des Klimawandels für die Kaffeeernte in Kolumbien. 2050 werden wir aber vielleicht nicht mehr alle Lebensmittel haben, die wir brauchen, weil bis dahin die Kaffeeproduktion weltweit um 50 Prozent zurückgegangen sein wird, wie es in Xenia Böttchers Beitrag heißt.

Dieser "Weltspiegel"-Film ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich über Klimawandelfolgen auf anderen Kontinenten jenseits tagesaktueller Katastrophen berichten lässt. In kürzerer Form und mit drastischeren Bildern leistet dies auch ein Beitrag von "BBC News at ten", der deutlich macht, welche Folgen die durch den Klimawandel bedingte Dürre in mehreren ostafrikanischen Staaten für Menschen hat, deren Lebensgrundlage die Viehwirtschaft ist.

Der BBC- und der "Weltspiegel"-Beitrag zeigen, dass auch die Medien des globalen Nordens manchmal etwas können, was die Medien des globalen Südens offenbar generell besser können. Inwiefern? Schauen wir kurz in eine Studie der Uni Hamburg, die die Berichterstattung zum Thema in zehn Ländern vergleicht:

"Countries such as India or Thailand for instance frequently report on rising sea levels threatening citizens’ homes or the spread of diseases through climate change – in a sense, making climate change more tangible. For us, a main take-away was that countries from the Global South may be better at communicating how climate change affects us all (our health, our way of living, our planet) instead of focusing on climate politics or climate science, as is often done in the Global North."

Der verhängnisvolle Sommer

Von dem von Bernhard Pörksen beschriebenen "Kult der Kurzfristigkeit" war in diesem Rückblick im Zusammenhang mit der Klima-Berichterstattung bereits die Rede. Aus nicht unähnlichen Gründen gilt er auch für journalistische Beiträge zur Pandemie.

"Wir können ganz grundsätzlich feststellen, das vorausschauendes Handeln und langfristiges Denken von den Medien leider selten belohnt wird (…) Medien ticken kurzfristig, die Pandemie ist aber langfristig. Wenn man zum Beispiel im Sommer als Wissenschaftler gewarnt hat, dass die wissenschaftlichen Berechnungen sagen, dass in drei Monaten die Lage wieder deutlich schlechter sein wird, dann führt das maximal zu einer Meldung, aber nicht zu einer Debatte wie wir das präventiv verhindern können."

Diese Einschätzung des Kommunikationsberaters Johannes Hillje hat Nora Frerichmann in der dritten Novemberwoche an dieser Stelle zitiert - ebenso wie einen anderen Rückblick auf den Sommer, und zwar von Samira El Oausssil:

"Es hätte im Sommer ein 'Herbstproblem' gelöst werden müssen – und nichts hasst Politik mehr, denn sie arbeitet in einer Logik kurzfristiger Interessenverwaltung."

Im Laufe des Sommers änderte sich der Kurs vieler Redaktionen. Bis dahin konnte man noch von einer "medialen Mitgliedschaft im 'Team Vorsicht'" sprechen und diese "als Ausweis von Rationalität (und) Wissenschaftsorientierung (…) betrachten", wie es in dieser Studie heißt, die auf der Auswertung der Beiträge von elf Leitmedien in der Zeit zwischen Januar 2020 und April 2021 beruht (und auch im Altpapier Erwähnung fand). Einige Wochen nach Ende des Beobachtungszeitraums der Studie konnte man dann aber den Eindruck gewinnen, dass recht viele Journalistinnen und Journalisten aus dem "Team Vorsicht" ins "Team Hans Guck-in-die-Luft" gewechselt waren.

Als am 1. November die erste "ARD Extra"-Folge nach einer rund einem Vierteljahr langen Sendepause lief (Altpapier), begrüßte Moderator Fritz Frey das Publikum unter anderem mit den Worten: "Mit Wucht drängt sich Corona wieder in den Vordergrund." Gewiss, "ARD Extra" ist eine Sendung, die keine Themen setzen kann oder soll, sondern auf Nachrichtenlagen reagiert. Die Frage, warum die Öffentlich-Rechtlichen über mehrere Monate wenig dazu beigetragen haben, das Thema Corona im Vordergrund zu halten, kann man dennoch stellen.

Ralf Heimann schrieb dazu im Altpapier Anfang Dezember:

"Vielleicht muss man die Erzählung überdenken, dass nur die Politik mit Blick auf die bevorstehende Wahl von einer vierten Welle nichts habe wissen wollen (...) Auch die Medienöffentlichkeit unterschätzte diese Gefahr (während des Bundestagswahlkampfs) massiv."

Die sehr vergessliche Öffentlichkeit

Um noch eine weitere Formulierung Bernhard Pörksens aufzugreifen: Wenn er von einer "pathologisch kurzen Aufmerksamkeitsspanne" spricht, tut er das, um zu kritisieren, dass dieses pathologische Problem eine "im besten Sinne ausgeruhte Debatte über eine andere, ökologisch, sozial und politisch verträgliche Zukunft" verhindert. Im weiteren Kontext der Pandemie kann man allerdings konstatieren: Die "pathologisch kurze Aufmerksamkeitsspanne" scheint auch einen Blick in die noch gar nicht allzu weit zurückliegende Vergangenheit zu verhindern.

Es geht um die Gefahr des Rechtsextremismus, für den seit Beginn der Pandemie "die Corona-Maßnahmengegnerschaft nur ein Mittel im Kampf darum ist, das demokratische System zu diskreditieren" (um aus einer im November bei Zeit Online erschienenen Mely-Kiyak-Kolumne zu zitieren).

Christian Vooren schrieb Anfang Dezember, ebenfalls bei Zeit Online:

"Nach dem Mord von Idar-Oberstein war eine breite Öffentlichkeit so entsetzt wie überrascht, als wäre davor nie gewarnt worden. Und auch jetzt schienen viele wieder überrascht über den Fackelmob vor dem Haus der Gesundheitsministerin. Dabei stand bereits im vergangenen Winter eine größere Gruppe selbst ernannter Querdenker vor dem Privathaus des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer."

Anfang Januar 2021 war das, und die Situation war zumindest insofern gefährlicher, als dass Kretschmer, anders als elf Monate später die Gesundheitsministerin seiner Regierung, anwesend war, als der braune Mob vor dem Haus stand. Ulrike Nimz kommentierte in der SZ diese Drohgebärde der Demonstranten damals mit folgenden Worten (siehe Altpapier), die weiterhin aktuell bleiben werden:

"Es ist ein Irrtum, dem Journalisten bisweilen genauso aufsitzen wie Ministerpräsidenten: Zu glauben, dass man Corona-Leugner, Verschwörungsideologen und selbsternannte Patrioten umstimmen kann, wenn man ihnen nur ausdauernd genug Kontra gibt, Nachsicht walten lässt, Empathie aufbringt."

Auch vor dem Aufmarsch vor Kretschmers Haus gab es ja bereits Ereignisse, die man als einschneidend bezeichnen könnte. Die versuchte Erstürmung des Reichstags Ende August 2020 (Altpapier) etwa oder die an allen Ecken und Enden eskalierende Großdemonstration in Leipzig im November 2020 (siehe Altpapier oder dieses Video des Jüdischen Forums). Wenn also jetzt plötzlich in vielen Medien von einer Radikalisierung des Milieus die Rede ist, ist dies auch ein Symptom für eine bizarre Form von Vergesslichkeit.

Natürlich stünde einem derart langen Jahresrückblick eine Art Epilog gut zu Gesicht. Aber für eine Schlussbetrachtung ist die Lage zu dynamisch, zumal dieser Text bereits Mitte Dezember abgeschlossen wurde. Wie die Medien im weiteren Verlauf des Monats auf aktuell möglicherweise noch überschlagende Entwicklungen in den Krankenhäusern und auf den Straßen reagiert haben werden - das muss an dieser Stelle außen vor bleiben.

Der Altpapier-Jahresrückblick 2021