Altpapier-Grafik vom 29. Mai 2019: Annegret Kramp-Karrenbauer trägt eine goldene Medaille um den Hals mit dem Gesicht des ehemaligen Forschungsminister Jürgen Rüttgers darauf
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Das Altpapier am 29. Mai 2019 Der Goldene Rüttgers

Der Satz "Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein" ist beinahe 23 Jahre alt. In der Meinungsmache-Diskussion ist er wieder da. Gibt es wirklich Regelungsbedarf? Und: Youtuber als moderne Essayisten. Sowie im Korb: "systemische Ursachen" des "Falls Relotius". Ein Altpapier von Klaus Raab.

"Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein". Phrasenpionier Jürgen Rüttgers hat den Satz als Bundesforschungsminister in einem Gastbeitrag geschrieben, der am 27. Juli 1996 in der Frankfurter Rundschau erschienen ist: "Manche Entwicklungen, die zur Zeit im Internet beobachtet werden und eine etwas übertriebene Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wecken alles andere als ein Gefühl der Zuversicht. Was Schlagzeilen macht, das sind die Rechtsverstöße im Internet, das sind Anschläge auf den guten Geschmack und die guten Sitten."

23 Jahre später ist der Satz "Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein" immer noch im Repertoire. CDU-Vize Thomas Strobl hat ihn gerade wieder gesagt, und hätten er oder Annegret Kramp-Karrenbauer auch noch den Satz "Netzbeschmutzern muss das Handwerk gelegt werden" von 1996 zitiert, würden sie gewiss mit dem Goldenen Rüttgers am Band geehrt:

"CDU-Bundesvize Thomas Strobl hat CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer im Streit um Wahlkampfregeln und 'Meinungsmache' im Internet gegen massive Kritik verteidigt. Es brauche im Netz Regeln, sagte Strobl am Dienstag in Stuttgart. 'Wer glaubt, er sei im Internet im rechtsfreien Raum, obliegt einfach einem Irrtum.'"

Glaubt das aber eigentlich wirklich immer noch irgendjemand – dass es "im Netz" keine Regeln gäbe?… Vielleicht ist Kramp-Karrenbauer (Vorgeschichte: Altpapier vom Dienstag) einfach auf diesen alten Mythos hereingefallen.

Die mediale Aufregung

Die CDU-Chefin suchte den Ausweg aus der Falle, in die sie sich manövriert hat, indem sie am Dienstag "ein weiteres Statement zur Erklärung ihrer umstrittenen Äußerung" über Meinungsmache im Netz veröffentlicht hat, wie der über CDU-Interna stets informierte Welt-Journalist Robin Alexander zuerst twitterte. Von einer Änderung gesetzlicher Regelungen, die Kramp-Karrenbauer im ersten Statement angedeutet und im zweiten Statement noch näher angedeutet hatte, bleibt darin nun offiziell nichts übrig. Wir sind jetzt bei "politischer Kultur" und Medienethik angekommen.

"Annegate" – wie die Angelegenheit im Neuland nun auch heißt – blieb angesichts neuer Umdrehungen und vorhandenen Klärungsbedarfs am Dienstag noch das größte Medienthema.

Ein Aspekt dabei ist die Gereiztheit, mit der die ganze Sache verhandelt wird (und die, wer weiß, das von Kramp-Karrenbauer gezeichnete Internetbild in konservativen Milieus gleich wieder bestätigt haben könnte): Über die Aufregung ärgern sich gleich mehrere Hauptstadtjournalisten von taz bis Welt. Tenor: Einschränkung der Meinungsfreiheit – das habe sie so doch gar nicht gesagt.

Stimmt auch. Wörtlich nicht. Das Problem ist nur, dass nicht klar ist, was sie eigentlich sagen wollte. Das erlaubt Interpretationen, und bei einer Frau, die Kanzlerin werden will und den parteieigenen Newsroom bejubelt, der "die Nachrichten selbst produziert" (tagesschau.de-"Faktenfinder", vorletzter Absatz), sind sie auch nicht ganz unangebracht. Will Kramp-Karrenbauer Youtube-Videos blauhaariger Twens künftig auf die Existenz politischer Werbung überprüfen lassen? Würde sie Youtube lieber löschen oder sperren? Ist sie einfach sauer über das Wahlergebnis? Oder ist sie nur nicht wirklich eingearbeitet ins Thema?

Hashtag Rundfunkregulierung

Markus Beckedahl schließt bei netzpolitik.org gar nichts aus und kommt auf den nächsten Aspekt – Hashtag Rundfunkregulierung:

"Möglicherweise hat sie sich nur verplappert oder hat etwas nicht verstanden. Medien- und Netzpolitik sind kompliziert, besonders wenn man darauf keinen Bock hat. Eine andere Möglichkeit ist natürlich, dass sie das bewusst so ausgedrückt hat. Und dass es eine Warnung an die Youtube-Welt war, diese im Rahmen der Reform des Rundfunkstaatsvertrages, der nun zum 'Medienstaatsvertrag' wird, viel strenger zu regulieren. Darin sollen kommerziell betriebene Youtube-Kanäle und möglicherweise auch Instagram-Accounts auf Länderebene an die Welt der Rundfunkregulierung angepasst werden. Das muss nichts schlechtes sein, wenn es zum Beispiel um bessere Transparenzpflichten für den Umgang mit Schleichwerbung geht."

Ist hier, im Bereich Rundfunk, jene juristische Lücke, die vor lauter Empörung über die eingepreiste Verletzung von Art. 5 GG am Montag nicht gleich aufgefallen ist? Dann ginge Kramp-Karrenbauers Gegenüberstellung von analoger und digitaler Welt in Teilen sogar auf. Michael Hanfeld (FAZ+) schreibt: Der Rundfunkstaatsvertrag

"regelt die Belange des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – der durch Gremien kontrolliert wird –, des privaten Rundfunks und der 'Telemedien', womit das Internet im weitesten Sinne gemeint ist. Am wenigsten geregelt sind dabei die 'Plattformen' wie Youtube oder Facebook. Sie unterliegen zwar der verfassungsmäßigen Ordnung, den allgemeinen Gesetzen und den Bestimmungen zum Schutz der persönlichen Ehre (Paragraph 52 Rundfunkstaatsvertrag), und journalistisch-redaktionell aufbereitete Angebote unterfallen presserechtlichen Regeln (Paragraph 54)".

Eine Art Presserat, schreibt Hanfeld, "wäre fürs Internet bei Informationsangeboten, die sich als solche ernst nehmen, auch denkbar". Was viel harmloser klingt als das Zündeln mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit.

Daran will natürlich niemand je gerüttelt haben. Tankred Schipanski, der digitalpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, behauptet im Deutschlandfunk-Gespräch vielmehr, Kramp-Karrenbauer habe mit ihren ungenauen Äußerungen einen wichtigen Debattenbeitrag geleistet zu einer neuen Informationsordnung, und das habe "auch direkt was mit Kampagnen, wie es die Europäische Union formuliert, Desinformationskampagnen zu tun, weil wir das aus verschiedenen Wahlkämpfen erleben mussten". Alles etwas verschwurbelt. Aber vielleicht sollte jemand einfach noch unklarer formulieren als Kramp-Karrenbauer, nach dem Motto: Kakao drauf – dann sieht man den Rotweinfleck nicht mehr. Auch Schipanski spricht jedenfalls, glaube ich, von der Regulierung von Plattformen.

Gute Journalisten, schlechte Youtuber?

Es bleibt trotzdem dabei, dass sich Kramp-Karrenbauer über "Regeln, die im Wahlkampf gelten" geäußert – und analoge und digitale Welt auch in dieser Hinsicht gegeneinander gestellt hat. Und da geht dann ihre Einlassung meines Erachtens spätestens nicht mehr auf. Regeln, die im Wahlkampf gelten und aus der analogen Zeit stammen, gibt es zwar. Aber es sind eher Agreements. Viel genannt: dass deutsche Zeitungen eher keine Wahlempfehlungen aussprechen, auch wenn sie es dürften. Es gibt zudem etwa bei ARD und ZDF das Agreement, dass in Unterhaltungsshows in den Wochen vor Wahlen keine Politiker auftreten. Solche Regeln sind allerdings nicht das Business einer CDU-Vorsitzenden…

Markus Beckedahl bei netzpolitik.org schreibt:

"(…) die Frage ist, ob Kramp-Karrenbauer ebenfalls verhindern will, dass auf diesen Kanälen in diesen neuen Öffentlichkeiten Wahlaufrufe veröffentlicht werden dürfen. Und da muss sie sich die Frage stellen lassen: Warum sollte dort verboten sein, was auf einem Blatt Papier in einer Zeitung nicht verboten ist?"

Gute Frage. Wenn die vermeintlich guten Journalisten und die bösen Netzmenschen gegeneinander ausgespielt werden, wird es meistens dünn – wie etwa das  "christliche Medienmagazin" pro beweist, das eine Art Generalverteidigung Kramp-Karrenbauers veröffentlicht hat:

"Journalisten zeigen in Kommentaren oder Analysen auf, woran Parteien und das politische System kranken. Doch sie überlassen die Rückschlüsse daraus in der Regel ihren Lesern. Zumindest in Deutschland ist das Common Sense."

Was komplett realitätsfern ist.

Youtuber als "moderne Essayisten"

Näher an der Realität ist Springer-Chef Mathias Döpfner, den Springers Welt zitiert:

"Döpfner nannte die Videos des Youtubers Rezo über die CDU 'ein gutes Beispiel für digitalen politischen Journalismus'. Das sei ein Phänomen, 'das wir positiv begleiten sollten'. Es sei eine 'andere Ästhetik', aber man dürfe diese Art nicht von oben herab als zu manipulativ abtun. Auch klassische journalistische Formen wie Reportagen oder Kommentare hätten 'manipulative Komponenten durch die Auswahl von bestimmten Fakten'."

Für die noch bessere Idee halte ich aber, was Samira El Ouassil bei Übermedien (Abo) tut. Sie rät, Youtuber nicht mit Journalisten zu vergleichen: "Ich würde Youtuber nicht, wie (Juso-Chef) Kühnert es tut, als 'Leitartikler' begreifen – weil es sich anfühlt, als wollte man Tennisspieler mit Badminton-Termini beschreiben – wohl aber als moderne Essayisten". Youtuber hätten eigene Formen wie den Videoessay, der "Produkt und Ergebnis einer digitalen, autodidaktisch aufgewachsenen Generation" sei, die hungrig ist nach einer eigenen Durchdringung und einem (Selbst)Verständnis ihrer Wirklichkeit". Sie empfiehlt:

"Diesen Ort zu erschließen, zu verstehen, ernstzunehmen und zur analogen Kultur gleichwertig zu betrachten, ihn als diskursives Feld zu begreifen und als zur publizistischen Welt gleichwertigen zu behandeln, könnte den OffTubern, Politikern und Journalisten helfen, wieder mit einer Jugend in Dialog zu treten, die politisch hoch engagiert, aufgeschlossen, informiert und kommunikationsbereit ist und zu der sie derzeit – und das wird an den Aussagen von Kramp-Karrenbauer mehr als deutlich – jeglichen Kontakt verloren zu haben scheinen."

Youtube ernstnehmen – ja, echt! Wer es macht, bekommt dafür aber vielleicht auch den Blauen Rezo am Band verliehen.


Altpapierkorb (Relotius-Report und systemische Ursachen, "grüner Liebesrausch")

+++ SZ und taz nehmen sich ausführlich des hier schon am Montag und Dienstag aufgegriffenen Spiegel-Abschlussberichts der Aufklärungskommission zum "Fall Relotius" an.

+++ Willi Winkler erkennt in der SZ einen "Fall Spiegel" ("Relotius hat so gedichtet, wie es das Spiegel-Statut von Anfang an vorsah") und erinnert an Hans Magnus Enzensbergers Radiofeature über die "Sprache des Spiegel" von 1957: "Tot oder lebendig, 'nichts', so zitiert der damals 27-jährige Enzensberger aus dem Statut, 'interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch. Darum sollten alle Spiegel-Geschichten einen hohen menschlichen Bezug haben.' Genau den hohen menschlichen Bezug hat Relotius geliefert, getreu der Vorgabe seines Ressortleiters, der ihm den passenden Typ bereits vor der verhängnisvollen Reportage über die nordamerikanischen Vigilanten an der mexikanischen Grenze fix und fertig skizziert hatte". Ergänzt wird die SZ-Berichterstattung durch Nachfragen bei Journalistenschulleitungen zur heutigen Ausbildung.

+++ Über "systemische Ursachen" schreiben auch zwei ehemalige Spiegel-Mitarbeiter in der taz: "Wenn 'gute Ware' kam (…), wenn Relotius und andere die perfekt inszenierte Erzählung auf den Tisch blätterten, waren die Macher 'begeistert'. Erkenntnisgewinn? Tiefenschärfe? Durchdringung des Problems? Alles egal."

+++ Der für seine Robert-Habeck-Geschichte und "grünen Liebesrausch" zuletzt etwa von Stefan Niggemeier kritisierte Stern titelt: "Unser nächster Kanzler?" und meint Habeck. (Gelesen habe ich den Text bislang nicht.) Die taz schlägt dagegen vor, eher mal Habecks Ko-Parteivorsitzende Annalena Baerbock auf die Rechnung zu nehmen: "JournalistInnen schreiben den Mann hoch, weil sie in alten Mustern denken. (…) Wer es ernst meint mit dem Feminismus, müsste diese Mechanismen eigentlich erkennen – und durchbrechen. Die Grünen sollten sich gut überlegen, ob sie das Spiel mancher Medien mitspielen."

Offenlegung: Ich schreibe regelmäßig frei für Spiegel Online und die taz sowie sporadisch für Übermedien.

Neues Altpapier gibt es am Freitag.