Teasergrafik Altpapier vom 1. Juli 2019: Kapitänin Carola Rackete
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Das Altpapier am 1. Juli 2019 Zivilgesellschaft vs. verrohte Mitte

Nach der Verhaftung Carola Racketes machen sowohl Anhänger als auch Kritiker mobil. Außerdem (mal wieder) auf der Agenda: Die Polizei ist keine privilegierte Quelle. Ein Altpapier von René Martens.

60.000 Euro nach einer Stunde, 220.000 am Sonntagvormittag, eine halbe Million zur Nachmittagskaffeezeit, am sehr frühen Montagmorgen 687.000 - das waren die Spenden-Wasserstände, die sich ermitteln ließen, seit am Samstag Klaas Heufer-Umlauf und Jan Böhmermann mit den Worten "Hey Leute, hier schreiben Euch Kommerzfernseh-Klaasi und Zwangsgebühren-Janni" an die zivilgesellschaftliche Crowd gewendet haben.

"Unterstützen wir gemeinsam die inhaftierte Kapitänin Carola Rackete, die Crew der 'SeaWatch 3' und die private Seenotrettung im Mittelmeer, mit dem, was wir in Deutschland am allermeisten haben: mit Geld", lautete eine der Passagen des Aufrufs, der mittlerweile (Stand 11 Uhr) übrigens 747.000 Euro eingebracht hat.

Vor, sagen wir mal: fünf Jahren (und vielleicht auch nicht vor zwei) hätte man es ja noch nicht für möglich gehalten, dass Protagonisten des TV-Unterhaltungsgewerbes zu Lokomotiven "einer starken Zivilgesellschaft" (taz, Seite 1) werden können - und dabei wirkmächtiger agieren, als es Journalisten je könnten. Wobei hier man natürlich erwähnen muss, dass beide Entertainer (auch) mit journalistischen Mitteln arbeiten (Böhmermann mehr, Heufer-Umlauf weniger).

Klaas Heufer-Umlauf hatte seine politische Haltung bereits Ende Mai deutlich gemacht, als er gemeinsam mit Joko Winterscheidt "in einem Umfeld, das der Ablenkung des Publikums vom Alltag dient, plötzlich für kurze Zeit sich ein Fenster zur Wirklichkeit öffnete" (Frankfurter Rundschau seinerzeit, siehe auch Altpapier) und dabei einer anderen Ikone der Zivilgesellschaft, der früheren Iuventa-Kapitänin Pia Klemp, die Möglichkeit gaben, ihr Bild der flüchtlingspolitischen Barbarei zu schildern, die die EU seit Jahren betreibt.

In der vergangenen Woche fand ein Ausschnitt aus der Klemp-Passage in "Joko & Klaas Live – 15 Minuten" (eine Sendung auf die man in einem halben Jahr als eines der TV-Ereignisse von 2019 zurückblicken wird) noch einmal neue Verbreitung, dank der Sendung "Österreich vor der Wahl" (beim Privatsender Puls 4). Interviewt wurde hier der Protagonist der flüchtlingspolitischen Barbarei, der derzeitige Nicht-Kanzler Sebastian Kurz, und allein schon wegen der Parallelmontage am Ende des Ausschnitts, die die Blicke des Barbaren zeigt, während er Teile von Klemps Statement sieht, hat sich die Produktion von "Joko & Klaas Live – 15 Minuten" schon gelohnt.

Während die Sea-Watch 3 erst seit wenigen Tagen beschlagnahmt ist, gilt das für die Iuventa, die 14.000 Menschen gerettet hat, bereits seit fast zwei Jahren. Wer sich schon mal vorbereiten möchte auf die nächste Konfrontation: "Auf dem Weg in die Such- und Rettungszone vor Libyen" befindet sich derzeit die Alan Kurdi, das Rettungsschiff der Organisation Sea Eye. Bei faz.net erscheint derzeit ein "Logbuch" der auf dem Schiff mitfahrenden Redakteurin Julia Anton (hier die vierte Folge). Bei der Alan Kurdi handelt es sich übrigens um "das letzte verbliebene Schiff einer Hilfsorganisation", wie die Sea Eye selbst schreibt.

Mag sich nach der Verhaftung Carola Rackete auch "eine starke Zivilgesellschaft" (taz) formiert haben. Deren Gegner sind natürlich auch nicht untätig geblieben am Wochenende. Bei Zeit Online erschien ein Text Ulrich Ladurners, der die Frage aufwirft, ob er sich als the next Mariam Lau (siehe Altpapier) ins Spiel bringen oder als eine Art Don Alphonso von der Zeit profilieren will.

Ungeachtet dessen, dass "mehr als zwei Wochen lang kein Land anbot, das unwürdige Patt vor Lampedusa aufzulösen" (Rom-Korrespondent Oliver Meiler auf der Meinungsseite der SZ) und das deutsche Innenministerium durch ein Verhalten auffiel, das man bestenfalls als Unterlassung beschreiben kann, bezeichnet Ladurner Racketes Vorgehen als "Provokation" und "Eskalation". Sie habe Salvini in die Hände gespielt, meint er. Nach der Logik macht jeder, der etwas tut, was Faschisten und ihren Anhängern missfällt, etwas falsch.

Friedemann Karig, freier Journalist (SZ-Magazin), Romanautor und früher Moderator von "Jäger & Sammler" (funk), kommentiert Ladurners Text in einem Thread folgendermaßen:

"‚Auch Lebensretter müssen sich Kritik gefallen lassen‘, ein brutaler Satz aus der Hölle angesichts der vergangenen Jahre, in denen vor allem jene unter der Verrohung litten, die nicht verrohen wollten.

Diese "Verrohung" sei "weit fortgeschritten (…) in den Köpfen der selbsternannten ‚Mitte‘", wenn "ein ‚heftiger Zwischenfall‘ zwischen zwei Booten in einem Hafen mehr Empathie verdient hat, als jeder der 40 geretteten Insassen".

Karigs Fazit:

"Verrohter als die, die Carola Rackete ins Gefängnis wünschen (sie waren wohl nie etwas anderes als unbarmherzig) sind jene, die nicht mehr beschreiben wollen, warum sie tut, was sie tut. Sie halten sich die Augen zu und hoffen, unsichtbar für das Monster Moral zu sein. Alles wird weggelassen, was die eigenen Widersprüche offenlegen könnte. Übrig bleiben verräterische Sätze wie der, man müsse Salvini ‚ohne Not kein Futter geben‘. Die Verrohung ist hier fortgeschritten bis zur Sinnleere."

Mit moralischer Verrohung unter einem allgemeineren Gesichtspunkt (ohne direkten Bezug auf Ladurner) befasst sich auch Philosophie-Magazin-Redakteur Nils Markwardt in einem Thread:

"Wenn (…) das ‚strategische‘ Argument gegen die Seenotrettung nicht fast immer die entscheidenden Fragen der Menschenrechte und praktischen Ethik umschiffen würde, hätten wir wenigstens eine ehrlichere Debatte. Dann würde nämlich auch klarer, dass diese ‚strategische‘ Ablehnung der Seenotrettung stets nur mit jener moralischen Verrohung zu haben ist, dank der man beginnt Menschen, mit Kant gesprochen, nur noch als Mittel, nicht mehr als ‚Zweck an sich‘ zu betrachten."

Was hat euch bloß so ruiniert? Wo fing es an und wann? - diese Fragen wird man, in Anlehnung an Die Sterne, den Verrohten, die auch Thema sind in einem Rant der "Privatgelehrten" @tinido, bald mal stellen müssen.

Beim Thema Salvini bietet es sich natürlich noch an zu ergänzen, dass es kontraproduktiv ist, sich auf ihn, den Bilderbuch-Schweinehund, zu kaprizieren. Fabian Hillebrand (Neues Deutschland) kommentiert:

"Der hitzköpfige Italo-Macho gegen die kühle und entschlossene Kapitänin aus dem Norden. Das ist eine verlockende Projektion. Sie ist trügerisch. Denn die Tragödie auf dem Mittelmeer, deren jüngster Akt mit der Festnahme Racketes aufgeführt wird, ist in Berlin und Brüssel mitgedichtet worden."

Im "Spiegel-Leitartikel zur EU-Migrationspolitik" (€) schreibt Matthieu von Rohr:

"Die heutige EU-Migrationspolitik ist noch brutaler als die von Donald Trump."

Das ist zwar sprachlich nicht ganz korrekt, weil Trump keine EU-Migrationspolitik macht, aber inhaltlich würde ich dem nicht widersprechen wollen. Ausgangspunkt des Leitartikels ist  das "ikonische Bild" des ertrunkenen Mannes aus El Salvador und seiner ertrunkenen 23 Monate alten Tochter, die am Ufer des Rio Grande fotografiert wurde. von Rohr:

"Es ist (…) nur eine Frage der Zeit, bis das nächste ikonische Bild von toten Migranten um die Welt geht und die Menschen rührt – ohne dass etwas geschieht."

Wobei die nach meinem Empfinden am meisten verstörenden Bilder der vergangenen Woche nicht tote Menschen zeigen, sondern lebende - zu sehen in einer bei balkanstories.net veröffentlichten Reportage über Geflüchtete, die in Bosnien auf einer ehemaligen Müllkippe leben.

16 Verletzte? Nein, zwei

Neue Beispiele für die vielfache Übernahme fehlerhafter Polizeimeldungen (Altpapier, Altpapier, Altpapier) liefert Sebastian Weiermann (Übermedien) anhand der Berichterstattung zu "Ende Gelände" am vorvergangenen Wochenende:

"Nachdem die Polizei von 16 verletzten Polizisten im Laufe des Wochenendes sprach, wurde dies in mehreren Medien direkt zur Überschrift: Die Rheinische Post titelte '16 Polizisten bei Ende Gelände verletzt', bei RTL hieß es, ‚Tagebau-Proteste: 16 verletzte Beamte und 75 Anzeigen‘."

Der ARD-Energieexperte Jürgen Döschner fragte dann mal nach. Das Ergebnis (laut Weiermann):

"Nur zwei Polizisten mussten nach einer "Fremdeinwirkung" den Dienst beenden; wie viele Polizisten sich ohne Fremdeinwirkung verletzten, konnte die Aachener Polizei nicht mitteilen. Wichtige Details, die ihren Weg in die großen Medien nicht gefunden haben."

Weiermanns Fazit:

"Nicht nur bei ‚Ende Gelände‘, sondern auch bei anderen politischen Protesten oder im Rahmen von Fußballspielen mussten Einschätzungen der Polizei im Nachgang häufig revidiert werden. Eine Aufgabe, die oft nur von einzelnen Journalisten übernommen wurde, die selbst vor Ort waren und Situationen beobachtet hatten."

Die Arroganz der Alten

Zum Themenkomplex alte Diskursmachthaber gegen jene, die ihnen die Macht zu entreißen drohen, der hier seit einigen Wochen Thema ist, äußert sich aktuell Felix Dachsel, der neue Vice-Chefredakteur, für die sog. DACH-Region, im Interview mit Meedia:

"Wir haben den Vorteil, dass hier junge Menschen arbeiten, denen die Zukunft wichtig ist, weil sie in dieser Zukunft noch arbeiten werden. Das unterscheidet uns von manchen traditionellen Medien. Dort arbeiten zum Teil Menschen, die jetzt eine Zukunft gestalten, in der sie gar nicht mehr arbeiten oder leben werden. Da hat die Medienkrise Analogien zur Klimakrise. Das ist auch der Grund, warum viele traditionelle Medien mit einer gewissen Arroganz auf uns schauen. Ich frage mich, woher die Kollegen diese Überheblichkeit nehmen (...) Mein Verdacht ist, dass die sich gar nicht so sehr um die Zukunft sorgen. Sie wollen alles lassen wie es ist, bis sie in Rente sind. Wir sind der Unruhestifter, den sie angreifen, damit er still ist."

Letzterer Gedanke kam in ähnlicher Form - im Kontext eines Georg-Seeßlen-Textes und des Stichworts Neophobie - im Altpapier von Donnerstag zur Sprache.


Altpapierkorb ("Elternschule", Veysel Ok, Sibel Schick über Franziska Becker, Ultralativ, ein Jahr "Kontrakt 18", 450 Euro für einen Redakteursjob)

+++ Am Mittwoch zeigt die ARD "Elternschule", einen vor und während der Kinoausstrahlung "von selbsternannten Kinderschützern heftig angefeindeten" (Filmdienst) Dokumentarfilm von Ralf Bücheler und Jörg Adolph, und anlässlich dessen blickt Vera Schroeder in der Samstags-SZ (Blendle-Link) auf die bisherige Debatte zurück. Worum es inhaltlich geht - dafür ist eine Medienkolumne nur bedingt der richtige Ort. Nur so viel: "Es ist ein beobachtender Dokumentarfilm, ohne Kommentar, der einen genauen Blick auf die Arbeit einer psychosomatischen Klinik in Gelsenkirchen wirft", schreibt Schroeder. Auf die Barrikaden gebracht hat der Film Menschen, die die Praktiken dieser Klinik für äußerst fragwürdig halten. Derlei Kritik mag berechtigt sein. Nur wissen jene, die den Film angreifen (ausführlichst hier) offenbar überhaupt nicht, was einen Dokumentarfilm ausmacht oder ausmachen kann. Der Autorendokumentarfilm muss nicht die "andere Seite" zeigen, er muss nichts "einordnen". "Elternschule" setzt auf den mündigen Zuschauer, dem die Bilder es ermöglichen, Dinge einzuordnen. Ich hätte auch das eine oder andere auszusetzen an den Positionen, für die die Protagonisten der Klinik stehen und die die Filmemacher mit einer grundsätzlichen Sympathie betrachten, doch das spricht ja überhaupt nicht gegen die Qualität dieser "ruhig gefilmten Studie" (Filmdienst again).

+++ Deniz Yücels Anwalt Veysel Ok spricht in einem Welt-Interview darüber, was die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts in Sachen Yücel über dessen Fall hinaus für Folgen haben könnte (siehe Altpapier von Freitag). In der Begründung werden mehrere grundsätzliche Feststellungen getroffen. Und zwar zu Vorwürfen, unter denen immer wieder Journalisten in der Türkei inhaftiert werden. Vielleicht am wichtigsten ist, viertens, die Feststellung, dass es im Rahmen der Meinungsfreiheit zulässig ist, die Politik Erdogans seit dem Putschversuch als autoritär zu beschreiben. Von diesen Aussagen des Verfassungsgerichtes können sehr viele Journalisten in der Türkei profitieren, die rechtlich verfolgt werden."

+++ "Islamfeindliche Klischees" wirft Sibel Schick der gerade mit einem Preis bedachten Karikaturistin Franziska Becker (siehe Altpapier von Freitag) in einem Gastbeitrag für Spiegel Online vor: "Frauen mit Kopftuch werden zur Projektionsfläche von mindestens zweifachem Hass: aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Religion. Eine mehrfachmarginalisierte Frauengruppe pauschal zu Täterinnen zu erklären schürt Hass, und macht sie anfälliger für Angriffe. Sowohl in ihren Bildern als auch in Interviews macht Becker deutlich, dass sie kein Bedürfnis hat, zwischen Islamistinnen und Kopftuch tragenden Frauen zu unterscheiden." Im gedruckten Spiegel sagt Becker in einem Interview (€): "Der Shitstorm ist eine Bestätigung für die Wirkkraft meiner Arbeit."

+++ Altpapier-Autor Klaus Raab stellt im aktuellen Freitag gerade mit einem Grimme-Online-Award ausgezeichneten Kanal Ultralativ vor: "Ultralativ ist Youtube-Kritik und -Phänomenologie mit den Mitteln derer, die mit Youtube aufgewachsen sind (…) Dass man die jungen Leute, die Youtube heute mit der gleichen Selbstverständlichkeit nutzen wie die Älteren seinerzeit Tele 5, Viva und ihren ersten Atari, mit Zeitungstexten kriegt – das ist (…) eine abwegige Vorstellung. Schon deshalb wird die Medienkritik von Ultralativ wirklich gebraucht."

+++ Ein Jahr "Kontrakt 18" - das war am Samstag Thema auf der SZ-Medienseite. Was ist passiert, seitdem sich im vergangenen Juni (siehe Altpapier) Drehbuchautor*innen "zusammenschlossen und verkündeten, vom 1. Juli 2018 an nur noch Verträge mit größeren Mitbestimmungsrechten zu akzeptieren?" Hans Hoff schreibt, mehr als 100 Verträge seien "inzwischen nach den Vorgaben von 'Kontrakt 18' abgeschlossen" worden "und die Unterzeichner haben fast alle großen Sender dazu bewegt, ihre Leitlinien zur Einbindung von Autoren zu überdenken". Hm, "fast alle großen Sender"? Auf meine Nachfrage sagt Volker Zahn, einer der Initiatoren von "Kontrakt 18" dazu: "RTL ist unseres Wissens nach der einzige große Sender der nicht an eigenen Leitlinien zum Umgang mit Autor*innen arbeitet. Aber wie wir hören, ist der Sender gesprächsbereit."

+++ Als Schurkenstaat unter den Verlagshäusern scheint sich die DuMont-Gruppe profilieren zu wollen. Deren Rheinische Redaktionsgemeinschaft sucht für ihren "Regiodesk" einen Redakteur oder eine Redakteurin, der/die für 450 Euro im Monat arbeitet.

+++ Im Alter von 47 Jahren ist die Schauspielerin Lisa Martinek verstorben, die zuletzt als blinde Anwältin der Serie "Die Heiland" zu sehen war - und vorher unter anderem als Kommissarin Clara Hertz in der ZDF-Krimireihe "Das Duo". Tagesspiegel und Welt blicken auf Martineks Karriere zurück.

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.