Teasergrafik Altpapier vom 30. Juli 2019:  Silhouette des Berliner Reichtags mit Logo "Der Spiegel"
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Das Altpapier am 30. Juli 2019 Der Spiegel und sein Prestige

Gerät “das deutsche Nachrichten-Magazin“ durch neue Recherchen zum Reichstagsbrand in die Bredouille? Erklären Politikjournalisten nur das “Spiel der Politik“, anstatt Politik zu analysieren? Ein Altpapier von René Martens.

“Wir haben verlernt, Ermittlungsergebnisse abzuwarten“, schreibt der “Hessenschau“-Redakteur Marvin Mendel in einem aktuellen Twitter-Thread, und natürlich bezieht sich das auf mediale und im weiteren Sinne mediale Reaktionen auf die Tötung eines achtjährigen Jungen im Frankfurter Hauptbahnhof durch einen Mann, gegen den nun “wegen des Verdachts des Mordes sowie des versuchten Mordes in zwei Fällen“ (siehe etwa Frankfurter Neue Presse) ermittelt wird. Der Satz gilt aber auch für die Berichterstattung über andere Tötungsdelikte.

In der aktuellen Debatte geht es nun auch wieder mal um die Frage, ob Journalisten erwähnen sollten, welcher “Herkunft“ ein Täter ist. Nein, weil sie keine Rolle spielt für die Tat, sagen die freien Journalisten Udo Stiehl und Marius Mestermann. Ja, sagen dagegen Deutsche-Welle-Chefredakteurin Ines Pohl und Detlef Esslinger in einem SZ-Kommentar.

Iren ticken anders

Der Spiegel steht seit dem Wochenende aus zwei Gründen im Zentrum medienkritischer Debatten. Der eine: der mutmaßliche Suizid der in ihrer Dubliner Wohnung tot aufgefundenen Bloggerin Marie Sophie Hingst, und was er zu haben könnte mit einem in punkto Stil und Tonfall problematischen Spiegel-Artikel Martin Doerrys über sie. Das war bereits gestern Thema im Altpapier. Dazu sind im Laufe des Montags weitere Beiträge erschienen. @mediasres hat Derek Scally, den Autor des gestern hier bereits erwähnten Irish-Times-Artikels, interviewt. Er sagt:

“Ich hatte große Sorgen, dass ich der Letzte war, der sie am Leben sieht. Zu diesem Zeitpunkt habe ich gesagt, eine Frau mit psychologischen Problemen gehört nicht in unsere Zeitung.“ 

Der Deutschland-Korrespondent Scally sagt auch, die Reaktionen auf den Spiegel-Artikel seien

“in Irland und Deutschland sehr unterschiedlich ausgefallen (…) Die Kommentare in Deutschland hätten häufig darauf fokussiert, dass Hingst hätte gestoppt werden müssen. In Irland habe hingegen der Mensch, der Hilfe brauche, im Vordergrund gestanden. Sie habe zwar furchtbare Sachen gemacht, es sei aber fraglich, ob man dazu fähig sei, das zu beurteilen, wenn man psychologisch erkrankt sei. 

Sebastian Eder hat fürs Vermischte der FAZ mit dem Berliner Psychotherapeuten und Psychiater Jan Kalbitzer gesprochen. Einerseits, sagt dieser, könne man

“von Journalisten nicht verlangen, dass sie jenseits der Medienethik bei Interviews psychologische Einschätzungen vornehmen. Es sollte eine Schnittstelle geben, zu der Journalisten gehen und sagen können: Wir werden jetzt über diese Person berichten, das ist von großer öffentlicher Bedeutung. Aber wir machen uns Sorgen um diese Person. Und dann muss es Profis geben, die sich kümmern.“

FAZ-Redakteur Eder kommt dann darauf zu sprechen, dass

Spiegel-Autor Doerry “in seinem Artikel (beschreibt), wie er Hingst mit sei­nem Recherche-Ergebnis bei einem Termin konfrontierte, bei dem es eigentlich um ein Buch von Hingst gehen sollte“. Kalbitzer dazu:

“Das geht gar nicht. Menschen zu täuschen, um sie im Nachgang bloßzustellen – vielleicht kann man das bei Schwerkriminellen machen oder sehr wichtigen Politikern. Aber selbst da ist es kritisch. Bei Einzelpersonen so vorzugehen, die keine politische Macht haben, die sie missbrauchen könnten, ist nicht akzeptabel.“

Ein sensationeller Fund

Der andere Grund, weshalb über den Spiegel geredet wird: Conrad von Meding hat am Freitag für die Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschlands - etwa hier (€) - über ein Dokument berichtet, dass die einst vom Spiegel in die Welt gesetzte “Legende“ (RND-Mann Meding gegenüber Deutschlandfunk Kultur), dass 1933 nicht Nationalsozialisten den Reichstag angezündet hätten, sondern der Kommunist Marinus van der Lubbe der Alleintäter war, erneut ins Wanken geraten könnte. Bei dem Dokument handelt es sich um eine Eidesstattliche Versicherung des früheren SA-Mannes Hans-Martin Lennings, es fand sich im Nachlass der Hobbyhistorikers Fritz Tobias, der 1959/60 die berüchtigte Spiegel-Serie über den Reichstagsbrand geschrieben hatte (freilich, ohne das Dokument zu erwähnen).

Der Kernsatz in von Medings Artikel lautet folgendermaßen:

“In einer vierseitigen eidesstattlichen Versicherung bezichtigt sich ein ehemaliger SA-Mann, Marinus van der Lubbe in den Reichstag gebracht zu haben - zu einem Zeitpunkt, als es dort bereits brannte.“

Für die FAS rekapitulierte Uwe Soukup am Wochenende, worum’s hier noch mal eigentlich geht:

“Zwei Positionen stehen sich seit Jahrzehnten gegenüber: Die eine sagt, die Nazis hätten den Reichstag nicht selbst angezündet, van der Lubbe allein habe das hinbekommen. Diese Sicht geht auf einen früheren Mitarbeiter des niedersächsischen Verfassungsschutzes zurück, Fritz Tobias, der sie 1959 in einer elfteiligen Serie im Spiegel darlegte. Es gelang ihm, nicht immer mit lauteren Mitteln, seine These in der Wissenschaft durchzusetzen. Nahezu alle Historiker folgen inzwischen dieser Ansicht. Kritiker halten dagegen, dass es einem Einzelnen nicht möglich gewesen sei, ohne eine größere Menge chemischer Substanzen einen derartigen Brand in so kurzer Zeit zu entfachen. Lubbe hatte lediglich ein paar Kohlenanzünder dabei, die Brandflecke auf Teppichen außerhalb des Plenarsaales erzeugten.“

Was ist nun das Besondere an den neuen Recherchen? Soukup:

“Noch nie gab es (…) ein Geständnis eines ehemaligen SA-Mannes (…) Überprüft man die Fakten (seiner eidesstattlichen Versicherung), halten sie stand.“

Ebenfalls in der FAS hatte sich Soukup 2014 umfänglich mit dem Thema befasst - in einer ganzseitigen Rezension des Buch "Burning the Reichstag. An Investigation into the Third Reich's Enduring Mystery", verfasst von Benjamin Carter Hett, den nun auch von Meding für die Hannoversche Allgemeine Zeitung interviewte (€). Die Veröffentlichung dieses am Nimbus des Spiegels nagenden Buchs war die bisher letzte große Zäsur in der Reichstagsbrand-Debatte.

“Der Reichstagsbrand (ist) (…) auf bestem Wege, endlich wieder als eine ungeklärte historische Frage angesehen zu werden“,

schrieb Soukup damals (siehe Altpapier), und das ließe sich heute wieder so sagen. Kurzer Exkurs zur Preispolitik für Einzelartikel im Internet: Der fünf Jahre alte FAS-Artikel ist für fünf Euro in der Genios-Datenbank zu haben.

Zurück zur aktuellen Debatte: In der jungen Welt meldet sich einer der ganz alten Fahrensmänner der Medienkritik zu Wort: Otto Köhler, der “von 1966 bis 1972 Medienkolumnist des Spiegel war“, wie im Autorenkasten vermerkt ist. Etwas genauer gesagt: Köhler ist vor allem ein alter Fahrensmann der Spiegel-Kritik. Er notiert:

“Alle maßgebenden Medien haben inzwischen – wenigstens auf ihren Webseiten – über das neue Dokument berichtet, das die Nazitäterschaft am Reichstagsbrand belegt. Aber einer schweigt: der Spiegel, er schweigt jetzt schon zwei Tage lang (wenigstens bis zum jW-Redaktionsschluss, Sonntag 17.30 Uhr).“

Letzteres galt auch heute um 8.30 Uhr noch. Ein Mann, der bis zu seinem letzten Atemzug die These vom Alleintäter van Lubbe mannhaft verteidigen wird, mochte dagegen nicht schweigen: Springers Sven Felix Kellerhoff.

Conrad von Meding schreibt in einer “Presseschau“ für die  HAZ (€) über die Reaktionen auf die Enthüllungen:

“Alle großen israelischen Zeitungen sowie österreichische, niederländische und natürlich deutsche Medien haben am Wochenende die Nachricht von dem in Hannover neu aufgetauchten Reichstagsbrand-Dokument aufgegriffen.“

Dass der Spiegel es nicht getan hat, erwähnt von Meding hier auch. Dass andere größere deutsche Medien ebenfalls nicht reagiert haben, steht hier.

Der Spiegel hat übrigens auch Hetts Standardwerk nicht erwähnt, als es 2016 in deutscher Übersetzung erschien - während die Welt am Sonntag anlässlich der Veröffentlichung fünf Seiten frei räumte (siehe Altpapier).

In einem Interview mit Wolfgang Michal sagte Hett seinerzeit:

“Journalistisch gesehen waren die Thesen von Tobias für den Spiegel ein 'Scoop‘. Und da dieser Scoop buchstäblich monatelang im Blatt abgefeiert wurde, fühlte sich der Spiegel daran gebunden. Der Reichstagsbrand wurde zu einer Prestigefrage für das Blatt. Und das gilt bis heute.“

Spätestens jetzt - Stichworte: Relotius, Glaubwürdigkeitskrise der Medien - muss man sich natürlich fragen, ob es für das “Prestige“ des Spiegels nicht besser wäre zuzugeben, dass man damals etwas veröffentlicht hat, was nicht haltbar ist.

RND-Mann von Meding sagt im oben bereits zitierten DLF-Kultur-Interview, die Spiegel-Serie habe einst dazu gedient,

Staatsbedienstete zu schützen, die schon unter den Nazis im Staatsdienst tätig waren und dann nach Gründung der Bundesrepublik auch wieder im Staatsdienst teilweise sehr aufgestiegen sind“.

Im Sinne alter Nationalsozialisten waren ja einst auch viele  Fälschungen, die ins Blatt gelangt waren, weil der Spiegel in den 1950er Jahren ein Geheimdienst-Outlet war. Wie diese Zusammenarbeit im Detail funktionierte, hat jüngst der BND in einem Buchbeitrag aufarbeiten lassen (Altpapier, Altpapier). "Der Fall Relotius markiert einen Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des Spiegel“, hat das Magazin selbst bekanntlich nicht ohne einen gewissen Sündenstolz verkündet. Gesamthistorisch betrachtet, war ,wenn man denn so will, der “Tiefpunkt“ des Blatts indes, dass dort Personen, die im 'Dritten Reich‘ als Täter in Erscheinung getreten waren bis heute geschichtspolitisch wirkmächtige Fälschungen und Verzerrungen lancieren konnten (vgl. einen Medienkorrespondenz-Text von mir dazu)

“Es (gibt) (...) noch Hinweise zu SPIEGEL-Texten aus den Fünfzigerjahren, denen nachgegangen werden sollte. Die Arbeit muss in diesem Punkt weitergehen.“

Mit “Hinweisen“ und “Fünfzigerjahren“ kann zwar viel gemeint sein, aber wer dem Spiegel wohlgesonnen ist, kann darauf hoffen, dass dieser eines Tages doch in der Lage sein wird, in einer der Relotius-Skandal-Aufarbeitung zumindest ähnlichen Weise seine Reichstagsbrand-Serie aufzuarbeiten - und natürlich auch seine Vergangenheit als Abspielstation für (naturgemäß) wahrheitswidrige Geheimdienstgeschichten. Derzeit gilt ja noch, dass - siehe oben - in dieser Hinsicht der BND transparenter ist als der Spiegel.

Politikjournalisten als Spielbeobachter

In der vergangenen Woche ist in der Schweizer Republik ein Interview mit dem Journalismusforscher Jay Rosen erschienen. Da Rosen im vergangenen Sommer unser “Dauergast“ war (siehe etwa dieses und dieses Altpapier), setzen wir in diesem Sommer gern die Tradition fort, Interviews mit ihm aufzugreifen. Im Gespräch mit Elia Blülle sagt er:

“Die amerikanische Presse ist in den Siebzigern und Achtzigern falsch abgezweigt. Sie interessierte sich nur noch für das politische Insidergame: Wie wird manipuliert, wie gewinnt man, wie verliert man, wo findet man die klugen, wo die unfähigen Politikerinnen? Journalisten verstanden es als ihren Job, das 'Spiel der Politik‘ zu erklären, anstatt zu beschreiben, wie die Dinge innerhalb des Systems wirklich funktionieren. Das hat sie von ihrem Publikum distanziert.“

“Falsch abgezweigt“ ist ja nicht nur die amerikanische Presse, sondern auch die hiesige - auch wenn man die USA und Deutschland in dieser Hinsicht nur bedingt vergleichen kann und ich nicht genau benennen könnte, wann deutsche Politikjournalisten falsch abgebogen sind.

Jedenfalls haben sich zwei frühere Spiegel-Redakteure vor zwei Monaten in der taz dem von Rosen beschriebenen Problem aus einer anderen Perspektive genähert:

“Ministerien wie die für Forschung oder Entwicklungszusammenarbeit werden nur noch sporadisch beobachtet, Ressorts wie Umwelt, Verkehr oder auch die Bahn nur noch gelegentlich begleitet. Wo sich der Journalismus in seiner Rolle als Wächter politischer Prozesse bewähren soll, werden die Lücken immer größer. Kannte einst in Bonn der Redakteur für Verteidigung noch jeden Piloten der Flugbereitschaft und nahezu jeden General persönlich und stützte einen Großteil seiner Geschichten auf Dokumente aus den Ministerien, werden heute Schlagzeilen mit Politikerzitaten oder Kleinen Anfragen generiert. Die journalistische Leistung ist in beiden Fällen bescheiden.

Um das Stichwort “Politikerzitate“ aufzugreifen: Politikjournalismus - das bedeutet ja leider allzu oft, dass es um die Stimmung in diesem oder jenem Lager, die zwischen diesem und jenem Politiker nicht mehr stimmende “Chemie“, um Querelen “hinter den Kulissen“ (vgl. dieses Altpapier) bzw. “Widerstand im eigenen Lager“ geht. Als hervorragend recherchiert gelten Artikel, die davon leben, dass Politiker entsprechende Informationen an die Medien durchgestochen haben - sei es, weil sie selbst die parteiinternen Angreifer sind, oder weil sie sich als Opfer sehen. Im Spiegel erscheinen nicht selten solche Artikel; das obige Zitat stammt aus einem kostenpflichtigen. Mit politischer Analyse hat das aber wenig zu tun, in solchen Texten wird letztlich nur implizit abgefeiert, wie nah man doch dran ist am “Spiel“ (Rosen).

Restle über Ahnungslosigkeit

Da wir gerade bei der Kritik am politischen Journalismus angelangt sind. Georg Restle hat am Montag in einem Interview mit @mediasres an nicht näher genannten Kolleg*innen geübt. Er habe sich “zum Teil“ darüber “gewundert“, wie Kolleg*innen auf seinen “Tagesthemen“-Kommentar, der ihm Morddrohungen (Altpapier) eingebracht hat, reagiert hätten. “Dass innerhalb der rechtsextremistischen Szene die AfD als parlamentarischer Arm begriffen wird“, sei doch “eigentlich bekannt“, und insofern sei es irritierend, dass Kolleg*innen seine Forderungen, die AfD als rechtsextremistisch zu bezeichnen, als “extrem“ bezeichnet hätten. Das zeige, dass Leute “die sich eigentlich mit dem Problem beschäftigen müssten“, die “Gefährdungen“  nicht “begriffen“ hätten. Restles Kritik könnte sich zum Beispiel auf die vierte Frage in diesem Tagesspiegel-Interview beziehen. Was er in dem Interview mit dem DLF moniert, führt zu einer nicht ganz kleinen, in dieser Kolumne immer mal wieder zumindest touchierten Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass es heute Journalisten gibt, die vermutlich den Papst als katholisch bezeichnen würden, es aber “extrem“ finden, eine rechtsextremistische Partei als rechtsextremistisch zu bezeichnen?

Altpapierkorb (Rechtsextreme Video-Plattformen, Twitter-Debatte ums Altpapier, Afghanistan Papers, das falsche Wort “Handicap“, Sinti-und-Roma-Doku, Saarbrooklyn)

+++ Miro Dittrich und Simone Rafael gehen für die Belltower News darauf ein, welche Video-Plattformen einige “Szene-Onlinestars“ unter den Rechtsextremisten nutzen, seitdem YouTube seine “Richtlinien gegen Hass-Inhalte verschärft hat und auch konsequenter umsetzt“.

+++ Der EuGH hat in Sachen “Afghanistan-Papiere“ (Altpapier) entschieden - und damit eine Richtung vorgegeben für die deutschen Gerichte, die sich nun wieder mit diesem Fall befassen müssen. Zur Erinnerung: 2012 hatte die Funke-Mediengruppe vertrauliche Berichte der Bundesregierung über die Situation in Afghanistan veröffentlicht, woraufhin die Bundesregierung unter Berufung aufs Urheberrecht auf Unterlassung klagte. Christian Rath (taz) schreibt, der EuGH stelle nun “infrage, ob es sich bei den Afghanistan-Berichten überhaupt um Werke im Sinne des Urheberrechts handele. Nur eine 'geistige Schöpfung‘, bei der die Persönlichkeit des Urhebers zum Ausdruck kommt, sei ein Werk. Der Urheber müsse seinen 'schöpferischen Geist‘ in “origineller Weise“ zum Ausdruck bringen.“ Pia Lorenz, die Chefredakteurin von Legal Tribune Online, hebt hervor: “Der EuGH (…) stellt darauf ab, dass die Funke-Mediengruppe die Dokumente keineswegs bloß online gestellt, sondern durchaus in systematischer Form präsentiert habe. Sie seien mit einem Einleitungstext versehen worden, ebenso mit weiterführenden Links und einer Einladung zur interaktiven Partizipation. Damit greifen die Luxemburger Richter auf Grundsätze aus der Rechtsprechung ihrer Kollegen in Straßburg zurück. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nämlich stellt bei der Abwägung zwischen Urheberrecht und freier Meinungsäußerung im Rahmen politischer Auseinandersetzungen oder bei Veröffentlichungen von allgemeiner Bedeutung ganz besonders auf die Art der Veröffentlichung ab.“  Pessimistischer dagegen der Tonfall bei Arne Semsrott (netzpolitik.org): “Die Frage, ob der Staat überhaupt Urheberrechte an Werken in Anspruch nehmen kann, wird vom EuGH in seiner Entscheidung nicht thematisiert. Das liegt an der schwachen Urheberrechtsrichtlinie der EU, die keine Ausnahme für steuerfinanzierte und staatliche Dokumente festlegt, deren Veröffentlichung ja eigentlich grundsätzlich im öffentlichen Interesse sein müssten. Damit könnte – je nach finalem Urteil des Bundesgerichtshofs – der Staat ermutigt werden, künftig häufiger das Urheberrecht als Mittel der Zensur zu verwenden.“

+++ Die Reaktion des BDZV-Pressesprechers Alexander von Schmettow auf das Altpapier von Freitag, die vielfältigen Reaktionen darauf sowie wiederum verschiedene Replys von Schmettows (siehe auch den kurzen Hinweis auf den Thread im Altpapier von Montag sowie zwei Screenshots von mir) - sie lösen weiterhin Kommentare und Likes aus. Wie von Schmettow in dieser Debatte agiert - das ist vermutlich auch dadurch zu erklären, dass sein Verband sowie die Verlagsbranche im allgemeinen harte bis fundamentale Kritik nicht mehr gewohnt sind, weil diese zwar in Nischen stattfindet, aber nicht mehr in den Medienressorts von Verlagen (sei es im Gedruckten oder online) und erst recht nicht bei den Kapitalistenknechten, die die Branchendienste vollschreiben.

+++ “Warum 'Handicap‘ das falsche Wort für Behinderung ist“, dröselt leidmedien.de auf “Da viele Menschen (…) befürchten, allein mit dem Wort Behinderung zu beleidigen oder zu stigmatisieren, hat sich Handicap als Begriff etabliert. Gerne werden auch beschönigende Alternativ-Ausdrücke, wie z.B. 'besondere Bedürfnisse‘ oder 'andersfähig‘ gewählt. Ganz abgesehen davon, dass nur wenige behinderte Menschen selbst diese Ausdrücke gebrauchen, treffen sie auch nicht zu. Die Fähigkeiten und Bedürfnisse behinderter Menschen sind nicht 'besonders‘, sondern genauso vielfältig wie die nicht behinderter Menschen. Und sie haben nicht 'besondere Bedürfnisse‘, sondern das Recht, nicht benachteiligt zu werden (…) Die beste Lösung sind (…) die Formulierungen 'Menschen mit Behinderung‘ oder 'behinderte Menschen‘. Das Gegenüber nach der für sie*ihn passenden Begrifflichkeit einfach zu fragen, gilt natürlich auch nach wie vor.“ Offenlegung: Ich habe den Begriff “Handicap“ auch schon falsch benutzt.

+++ In der Nacht von Sonntag auf Montag lief in der Reihe “ZDF History“ die Dokumentation “Sinti und Roma. Eine deutsche Geschichte“, die bei zwei Rezensenten sehr unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen hat. Harald Keller (Frankfurter Rundschau) stellt die inhaltliche Qualität heraus: “Aus publizistischen Sendungen wie dieser beziehen die Sender des öffentlich-rechtlichen Systems ihre Legitimation. Vor allem aus solchen Beiträgen, die aktuell intervenieren.“ Stefan Gärtner kritisiert im Neuen Deutschland (€) dagegen “Infotainment-Scheiß mit Spielszenen“ und “Muzak“. Das ist in zweierlei Hinsicht nicht ganz sauber: Die Verwendung des Begriffs “Spielszenen“ suggeriert, dass hier Szenen via Reenactment nachgestellt wurden - das ist aber nicht der Fall, tatsächlich hat Autorin Annette von der Heyde Szenen aus dem Spielfilm “Gibsy“ (2013) einfließen zu lassen. So etwas zu tun, ist grundsätzlich auch nicht unproblematisch, weil auf diese Weise manchmal versucht wird, die Glaubhaftigkeit der dokumentarischen Erzählung mit fiktionalen Szenen zu belegen. Und zum Stichwort Muzak: Das Problem ist hier, wie so oft beim “History“-Format, ja eher, dass die Musik alles andere ist als Muzak, also alles andere als unaufdringlich. Allemal zuzustimmen ist Gärtner, wenn er das sprachliche Niveau des Films kritisiert, etwa die im dokumentarischen Fernsehen leider nicht unüblichen “Überleitungen mit dem Holzhammer“ à la “Mit der Machtergreifung der Nazis verschärft sich die Situation, dabei lief es gerade so gut für den Boxer Johann Trollmann.“ Als Ergänzung empfiehlt sich die wöchentliche Kolumne von Altpapier-Kollege Christian Bartels bei evangelisch.de. “Mehr Purismus“ stünde den  Geschichts-Dokus gut zu Gesicht, schreibt er.

+++ Aus anderen Gründen Kontroversen hervorgerufen hat ein 25-minütiger Spiegel-TV-Film über Saarbrücken, der im Netz unter dem Titel “Sozialer Brennpunkt Folsterhöhe: Kinderarmut in 'Saarbrooklyn.‘“ abrufbar ist (siehe Altpapier von Freitag). Saarbrückens Oberbürgermeisterin Charlotte Britz “hat Programmbeschwerde eingereicht bei der zuständigen Landesmedienanstalt, ein ungewöhnlicher Schritt“, schreibt Oliver Klasen für die SZ. Und: “Wie sehr der Spiegel-TV-Film das kleine Bundesland bewegt, zeigt sich schon daran, dass Saarbrücker Zeitung und Saarländischer Rundfunk, die beiden wichtigsten Medien im Saarland, seit der Ausstrahlung am 15. Juli gut zwei Dutzend Artikel und Beiträge dazu gebracht haben.“

Neues Altpapier gibt’s wieder am Mittwoch.