Grafik zeigt mehrere Hände die an einem Buch mit dem Aufdruck "bürgerlich" ziehen
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Das Altpapier am 3. September 2019 Begriffliche Joker

04. September 2019, 08:55 Uhr

Die Wahlen werden gründlich analysiert, und Wiebke Binder war (fehlerlos) wieder dabei. Die nächste Framing-Schlacht dürfte um das Adjektiv "bürgerlich" kreisen (das vermutlich auch nicht mehr ist, was es mal war). Außerdem: Kai Gniffke erlebte an seinem Intendanten-Arbeitstag eine echte Überraschung... Ein Altpapier von Christian Bartels.

Die eher nur in Details überraschenden Wahlergebnisse vom Sonntag werden in der ganzen, weiterhin gewaltigen Bandbreite des Journalismus, von Sondersendung bis Seite Drei, von Datenjournalismus (netzpolitik.org: "Das ZDF hat vielleicht nicht die schönsten Grafiken, geht aber mit einer Lizenzierung unter Creative Commons neue Wege ...") bis Feuilleton,  analysiert. Die am Wahlabend aufgekommene Aufregung um MDR-Moderatorin Wiebke Binder, nicht nur (wie etwa in der Einleitung zu Deutschlandfunks "@mediasres" zu hören), aber besonders wegen ihrer Formulierung "Eine stabile Zweierkoalition, eine bürgerliche, wäre ja theoretisch mit der AfD möglich" (Altpapier gestern), zog weitere Kreise.

So gab es dann noch eine offizielle "Versprecher"-Entschuldigung von MDR-Chefredakteur Torsten Peuker. Sie erschien auf TwitterSPON zitiert sie via Werbe-Ströers watson.de, und an die Bild-Zeitung ging sie ebenfalls. Dass so ein "Riesen-Wirbel um eine ARD-Wahlsendung!" inklusive Originalzitat des SPD-Generalsekretärs aus dem "Bild-Talk 'Die richtigen Fragen'" wiederum weitere Zitatschleifen dreht, versteht sich.

Menschlich schöne Geste vom MDR [in dessen Angebot ja auch diese Kolumne erscheint] also, der scharf kritisierten, auch angefeindeten Moderatorin, von der er übrigens auch ein freundlich zum Teilen animierendes Giphy-GIF erstellte, gleich eine neue Chance zu geben. Binder moderierte am Montagabend den 20.15 Uhr-"Brennpunkt: Der Osten hat gewählt - Wohin treibt das Land?", was der Tagesspiegel dann in seine aktualisierte Reaktionen-Umschau integrierte. Die ARD-Sondersendung verlief

"... ohne vergleichbare Aussetzer oder Versprecher. ... ... Im Interview mit Mike Mohring, dem CDU-Spitzenkandidaten von Thüringen, blickte Wiebke Binder auf die dort bevorstehende Landtagswahl. Wieder ging es um die 'bürgerliche Mitte', doch diesmal in klarer Abgrenzung des CDU-Kandidaten sowohl nach Links als auch nach Rechts",

wobei streng genommen die CDU am Sonntag ja auch kein Abgrenzungs-Problem, sondern die Moderatorin-Frage als Steilvorlage zu nutzen verstanden hatte. Jedenfalls:

"Der MDR, so viel wurde im Montags-'Brennpunkt' klar, wollte ein Debakel wie am Wahlabend vermeiden. Wenn überhaupt, könnte die Frage gestellt werden, ob es nötig war, den AfD-Rechtsaußen Björn Höcke zu Wort kommen zu lassen, damit er für die Ost-AfD in Anspruch nehmen kann, dass sie künftig in der Partei stärker vertreten sein müsse."

In Thüringen wird Ende Oktober gewählt, und ob es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen möglich und sinnvoll sein kann, die Höcke-AfD einfach auszublenden, kann ebenfalls gefragt werden. Der "Brennpunkt" war eine jener routiniert präsentierten, inhaltlich weder irgendjemandem wehtuendem, noch irgendeine Neuigkeit enthaltenden, Politikeraussagen-Voxpops-Magazinsendungen, an denen wahrlich kein Mangel herrscht.

Neue Deutungs-/Framing-Schlacht

Was immerhin deutlich wurde: dass um das Adjektiv "bürgerlich", das AfD-Veteran Alexander Gauland ebenso wie Mohring in Anspruch nahm (während es moderationsseits gar nicht vorkam), eine neue Deutungs-/Framing-Schlacht entbrannt ist. Was bedeutet das neue Reizwort "bürgerlich" noch mal? Dazu Peter Weissenburger in der Reaktionen-Umschau der taz (die am Ende den "Verdacht" äußert, dass der MDR "an der schreitenden Normalisierung des Rechtspopulismus aktiv mitmacht"):

"Üblicherweise werden für die Partei die Attribute 'rechtspopulistisch', 'völkisch' oder 'rechtskonservativ' verwendet, teilweise auch 'rechtsextrem'. 'Bürgerlich' hingegen suggeriert eine liberale, gemäßigt konservative Ausrichtung und eine Position in der politischen Mitte."

So einfach sieht's Gustav Seibt im SZ-Feuilleton (€), in der dem Begriff bereits ein eigener Artikel gilt, freilich nicht: "Bürgerlich" sei

"soziologisch ein begrifflicher Joker, dessen Undeutlichkeit vielfältige, schwer nachprüfbare Verwendbarkeit begünstigt ... Die politisch-soziale Sprache in Deutschland fasste den Wirtschaftsbürger (Bourgeois) und den Staatsbürger (Citoyen) in einem Wort zusammen."

Die AfD sei es allerdings nicht, schreibt Seibt schon in der Unterüberschrift "Was bitte soll an der AfD bürgerlich sein?", und zieht in einem geschickten Schachzug dazu die in eher linken Milieus nicht ungeheuer geschätzte Neue Zürcher Zeitung und deren Redakteur Marc Felix Serrao heran, der im Juni unter der Überschrift "Die AfD und der Dünger der Gewalt" schrieb: "Die Kommunikation der AfD erinnert an eine vollgeschmierte Klowand. Nichts daran ist bürgerlich."

Was sich als Rüstzeug für bevorstehende Auseinandersetzungen eignet. Grundsätzlich gehen dieses Thema Elisa Britzelmeier und Laura Hertreiter auf der SZ-Medienseite an. Sie steigen zwar mit einem leicht schiefen Bild ein ("Interviews mit Vertretern der AfD zu führen kann bisweilen so undankbar sein, wie einem Veganer ein Stück Rinderlende zu verkaufen"– dabei springen AfD-Vertreter auf Interviews doch mehr an als Veganer auf Rindfleisch), nehmen dann in der Wahlabend-Umschau außer Binder auch ARD-Kollegin Tina Hassel (der eher linke Milieus selten etwas vorwerfen) in die Kritik:

"Am gleichen Abend konnte es sich Bernd Baumann, parlamentarischer AfD-Geschäftsführer, in der 'Berliner Runde' gemütlich machen. Er beklagte, man dürfe Probleme nicht mehr offen ansprechen. Das raunt man bei der AfD ja gerne mal. Welche Probleme eigentlich?, fragt sich womöglich der Zuschauer. Anders als die Moderatorin. Tina Hassel versicherte stattdessen: 'Herr Baumann, Sie dürfen das ansprechen, alle anderen von der AfD in unseren Wahlsendungen auch.'"

Heißt: Gute Fragen zu stellen, wäre in Sendungen, die zumindest formal Fragerunden sind (auch wenn in der Praxis alle die begrifflichen Joker ziehen, die ihnen passen) sinnvoll. Es "hat in der Berichterstattung am Wahlabend an einigen Stellen das Instrumentarium gefehlt", mit der bekannten Kommunikationsstrategie der AfD, umzugehen, lautet das Resümee, Journalisten müssten "schlicht besser gerüstet sein", lautet eine sinnvolle Forderung.

Paul Ingendaay macht sich im FAZ-Feuilleton (45 Cent bei Blendle) übrigens über Hassel, "die durch die deutsche Sprache stolpert, dass man gleich den Ton abdrehen möchte", sowie die Art und Weise, wie sie und fast die ganze "Berliner Runde" dann die nicht mehr sehr prägnante Formulierung "klare Kante" durchbuchstabierten, lustig. Das mag zutreffen, aber ungeheuer zielführend ist Kritik an Moderationsleistungen, die im (durch die steigende Zahl an Parteien verschärften) Gewusel flott durch die verkrusteten Info-Häppchen leiten sollen, nicht.

Neue Formate und Formen der Wahl-Liveberichterstattung sind zwar leicht gefordert, wären aber nötig. Zumal die Frage, ob ARD und ZDF an Wahlabenden wirklich genau dasselbe Programm mit leicht variierten Reihenfolgen der Kurzinterviews durchexerzieren müssen, ja auch gestellt werden könnte. Und: Besser "gerüstet" zu sein im Sinne Britzelmeiers/Hertreiters wäre für öffentllich-rechtliche Journalisten definitiv sinnvoll. Besonders politik- und regierungsfern sind die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ja nicht. Gewählte Politiker spielen im Hintergrund in den Gremien und im Vordergrund vor den Kameras und Mikros erst recht große Rollen – schon deshalb, weil niemals eine Partei lange auf ihre Einflussmöglichkeiten verzichten wollte. Dass der Einfluss der nun umso stärker in die Parlamente gewählten Parteien deutlich kleiner wird, ist also nicht zu erwarten.

Kai Gniffke ist jetzt Intendant

Twitter ist u.v.a. auch zu freundlichen Grüßen gut:

"Guten Morgen! Wir begrüßen unseren neuen Intendanten Kai Gniffke, der heute seinen ersten Arbeitstag im #SWR hat. #medien"

twitterte @SWRpresse gestern morgen. Der bisherige Chef des ARD-Leuchtturm-Flaggschiffs "Tagesschau" trat zum September seinen neuen, in der Hierarchie noch höher stehenden Posten des Intentanden beim Südwestrundfunk an. Und weil Gniffke sich mit dem Nachrichten-Geschäft ja bestens auskennt, hat er vorher der dpa ein Ambitionen-Interview gegeben, das sich gewaschen hat. Er

"kennt keine falsche Bescheidenheit. Er will dem Streamingdienst Netflix Konkurrenz machen, kann sich aber testweise auch eine Zusammenarbeit vorstellen. 'Wir haben ja mit 'Babylon Berlin' schon mal Neuland betreten zusammen mit Sky. Das hat auch ganz gut funktioniert' ...",

zitierte die Stuttgarter Zeitung von einem der Haupt-Einsatzorte Gniffkes unter der Überschrift "Arbeiten mit Netflix und Smartphones".

Doch dann: Seinen "ersten Arbeitstag hat sich der neue SWR-Intendant Kai Gniffke wohl auch anders vorgestellt" (dwdl.de). Denn tatsächlich begrüßte ihn ein Warnstreik. Während es solche zuletzt beim WDR gab (Altpapier), sei das "der erste überhaupt in der SWR-Geschichte" gewesen, "wie die Gewerkschaft frohlockt". Schreibt wiederum die Stuttgarter Zeitung, die dann zumindest mittelbare Zusammenhänge mit Gniffke-Äußerungen gegenüber der dpa herstellt:

"Da hatte er etwa vom 'Absenken der Produktionsstandards, wo es möglich ist' gesprochen. 'Wir müssen deutlich günstiger produzieren' ..."

Was für die Streikenden ein "Motivationsschub" gewesen sei. Der unmittelbare Zusammenhang ist die heutige Tarif-Verhandlungsrunde. "Wer jeden Tag engagiert Programm für Radio, Fernsehen und Online mache, darf nicht mit unterdurchschnittlichen Lohnsteigerungen abgespeist werden, nur, weil sich die Länder-Ministerpräsidenten und die Landtage nicht auf eine angemessene Erhöhung des Rundfunkbeitrags einigen können", zitiert dwdl.de den Landesfachbereich-Leiter von ver.di. Dass selbst eine kleine (also aus Gewerkschafts-Sicht unangemessene) Rundfunkbeitrags-Erhöhung keinesfalls sicher ist, sondern ja auch von neuen Landtags-Mehrheiten in Dresden und Potsdam mit getragen werden muss, weiß, wer bis hierhin gelesen hat. Und was die Anstalten so senden, macht es nicht leichter. Nochmals dwdl.de:

"Die eigentlich zwischen 16:05 Uhr und 18 Uhr live ausgestrahlte Sendung 'Kaffee oder Tee' entfällt am Montag, stattdessen zeigt der SWR Programm aus der Konserve. Konkret gibt's zunächst 'Gartengeschichten - ganz natürlich' und 'Einfach schön! Mein neuer Balkon: Donaueschingen' zu sehen, nach den 17-Uhr-Nachrichten folgt ein 'Reisetipp Südwest' über den Pfälzerwald und 'Genussvoll durch die Ortenau'".

Ob diese Programme, ob nun streikbedingt oder regulär programmiert, die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz einer Rundfunkbeitrags-Erhöhung erhöhen, lässt sich bezweifeln. Auch das ist Teil der komplizierten Gemengelage, mit der sich ambitionierte Intendanten umgehen müssen.

Helptainment war nicht, wonach es klingt

Was noch überm Korb erwähnt zu werden verdient: der heutige FAZ-Medienseiten-Aufmacher "Zuhause im Unglück".

Er beantwortet die Frage, warum es im (privaten) Fernsehen gerade kaum noch Sendungen im Genre "Helptainmint" oder so, also wie "Einsatz in 4 Wänden" oder "Zuhause im Glück" gibt. Weil zahlreiche Kandidatenfamilien, deren Haus oder Wohnung vor Kameras renoviert wurde, wegen "geldwerter Vorteile" Steuerforderungen mit fünf- oder sogar sechsstelligen Beträgen erhielten. Schon weil die Familien oft "so viel Pech im Leben hatten, dass selbst regelmäßige RTL-II-Zuschauer noch schlucken müssen", können sie sie nicht bezahlen. Ob sie vorher über diese Gefahr aufgeklärt wurden, ist einer der Punkte, über die nun Anwälte, Sender und Produktionsfirmen wie die Ufa streiten. Ob steuerrechtlich nicht noch weitere Fernsehshows bzw. deren Kandidaten betroffen sind, lautet eine weitere Frage.

Das große, offenkundig gründlich recherchierte Stück von Sarah Obertreis kostet bei Blendle 45 Cent.

Altpapierkorb (Staatsfernsehen, "Doppelmoral", groß auf twitch.tv, "Sim-Swapping", Albert Einstein ...)

+++ Der Trend in Nordeuropa geht zur Abschaffung der Rundfunkgebühren und zur "Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stattdessen aus dem Staatshaushalt": Norwegen ist bereits der fünfte Staat, in dem das beschlossen wurde, berichtet die Medienkorrespondenz.

+++ "Dieselben Medienunternehmen, die ihre Leser:innen, Zuschauende und Zuhörende überall tracken, wo sie nur können" und dabei häufig unkontrollierten Drittanbietern Daten überlassen, wollen nun mit eigentlich "schönen Argumente ..., die zwar im Grunde richtig sind", eine von Jung von Matt erdachte Kampagne gegen die Digitalkonzerne Google, Facebook, Amazon, Apple und Microsoft fahren. Da sieht Markus Beckedahl von netzpolitik.org "Doppelmoral".

+++ "Wie schnell ein Marktführer wieder verdrängt werden kann", selbst wenn er mal 95 Prozent Marktanteil hatte, zeigt die animierte Grafik "Usage Share of Internet Browsers 1996 - 2019" (etwa bei reddit.com zu haben), auf die der Standard aufmerksam macht. Es geht um den Microsoft-Browser Internet Explorer, den Googles Chrome dann dennoch an den Rand drängte. Ob irgendein Produkt des Google-Konzerns auch mal wieder so verschwindet?

+++ Das Live-Streaming-Videoportal twitch.tv gehört dem Amazon-Konzern. Und "der größte Streamer" dort, wo "die Abos ... deutlich lukrativer" als auf Youtube seien, ist jetzt Marcel "MontanaBlack" Eris aus Buxtehude (Standard). Ob so was nach deutschen Gesetzen lizenzierungsbedürftiger Rundfunk ist und unterm neuen Medienstaatsvertrag bleibt, ist ja auch eine Frage...

+++ Über "Sim-Swapping", mit dem sich Unbefugte Zugang zu einer Telefonnummer verschaffen, und dessen Opfer gerade Twitter-Chef Jack Dorsey wurde, informiert sueddeutsche.de.

+++ "Sollen sich auch alle schämen, die gedankenlos sich der Wunder der Wissenschaft und Technik bedienen und nicht mehr davon geistig erfasst haben, als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst!" Sagte Albert Einstein anno 1930 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin, und ist damit nun via Googles Youtube in einen IFA-Geschichts-Rückblick des Tagesspiegel eingebunden.

+++ Als "bemerkenswert unamerikanisch erzählt" lobt Christine Dössel in der SZ die niederländisch-belgische Klimawandel-Dramaserie "Wenn die Deiche brechen", die der NDR nun zeigt.

+++ "Ihre Texte, die so wunderbar leicht daherkamen, waren sorgfältig komponiert: Zweimal schaute sie jeden Film an, bevor sie über ihn schrieb, und wenn die Kritik dann in unserem Mailfach landete, stimmte jeder Name, jeder Punkt und jedes Komma. Es waren perfekte Texte, jedes Mal wieder" schreibt Diemut Roether im epd medien-Nachruf auf die kürzlich verstorbene Fernsehkritikerin Sybille Simon-Zülch.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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