Collage zur Medienkolumne Das Altpapier am 08. Oktober 2019: Grabkerzen vor einer Hauswand
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Das Altpapier am 08. Oktober 2019 Nieselregen in Kitzbühel

09. Oktober 2019, 08:12 Uhr

Warum ein Mehrfachmord keine Eifersuchtstat ist. Warum die ZDF-Reihe “37 Grad“ Chancen nicht nutzt. Warum ein “Duell“ wie zwischen Reich-Ranicki und Grass nicht mehr möglich ist. Warum endlich Schluss sein muss mit Autorisierungen. Ein Altpapier von René Martens.

Nennt es nicht Familiendrama! Nennt es nicht Beziehungstat! Zumindest sinngemäß haben das so unterschiedliche Kolleg*innen wie Thembi Wolf (Bento) oder Michael Hanfeld (FAZ) in der jüngeren Vergangenheit gefordert, wenn Männer Frauen töteten - und in einigen Fällen andere, den Frauen nahestehende Personen gleich mit. “Nennt das bitte nicht ‚Beziehungsdrama‘“, sagt nun Carolina Schwarz (taz) aus aktuellen Anlässen - dem Fünffach-Mord von Kitzbühel und dem überregional imho schon wieder aus dem Blick geratenen Doppelmord von Göttingen.

Schwarz zählt auf, wer welche unzutreffenden Begriffe in Sachen Kitzbühel verwendete: “Beziehungstat“ (Spiegel Online, T-Online), “Familiendrama“ (Berliner Morgenpost), “Eifersuchtsdrama“ (Bayrischer Rundfunk) oder “Mord aus Eifersucht“ (Saarbrücker Zeitung). Die meisten Medien scheuten den korrekten Begriff “Femizid“, so Schwarz.

Alexandra Stanic kommentiert bei Vice (unter Erwähnung schlechter Beispiele aus der österreichischen Presse):

“Die Berichterstattung zu dem Fünffachmord ist so problematisch, wie sie es immer ist, wenn Medien über Femizide schreiben. Es gibt unterschiedliche Definitionen für Femizide, die bekannteste ist die von Diana Russell, einer Soziologin und Aktivistin: Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts getötet wurden. Nadine H., ihre Familie und ihr neuer Freund wurden getötet, weil ihr Ex-Freund nicht damit zurechtgekommen sein soll, dass sich die 19-Jährige von ihm getrennt hat. Sucht man nach Berichten zu dem Mehrfachmord in Kitzbühel, findet man ohne große Mühe genau das, was Feministinnen stetig an dem medialen Umgang mit Frauenmorden kritisieren. So titelt etwa die Kleine Zeitung: "Beziehungstat: Fünf Tote bei Eifersuchtsdrama in Kitzbühel", klickt man auf den Beitrag, lautet die Schlagzeile: ‚Aus Eifersucht getötet: 'Ich habe fünf Menschen umgebracht’“.

Stanic betont:

“Ein Mehrfachmord ist keine Eifersuchtstat (…) Eine Eifersuchtstat wäre es, wenn sich ein Mann die Instagram-Privatnachrichten seiner Partnerin durchliest.“

Im Tagesspiegel stellt Andrea Dernbach heraus:

“Tatsächlich geht es um Machtfragen. Im Mittelpunkt steht - wie in dem jüngsten Tiroler Fall – eine Trennung der Frau oder eine Zurückweisung, die die Täter als Machtverlust erleben.“

Die Berichterstattung über den Mehrfachmord von Kitzbühel ist auch jenseits von Begriffen wie “Familiendrama“ recht abenteuerlich. Focus Online hat einen offenbar metereologisch interessierten Menschen losgeschickt:

“Tief hängen die grauen Wolken über dem großen Anwesen von Nadines Eltern. Feiner Nieselregen legt sich im Ortsteil Vordergrub auf alles und jeden, lässt die dunklen Lärchenholzfassaden der umliegenden Bergbauernhöfe und wuchtigen Ferienhäuser noch finsterer wirken.“

Auch Bertelsmanns Nachrichtenfüchse haben Wichtiges mitzuteilen:

“Tief hängen die grauen Wolken über dem großen Anwesen von Nadines Eltern. Feiner Nieselregen legt sich im Ortsteil Vordergrub auf alles und jeden, lässt die dunklen Lärchenholzfassaden der umliegenden Bergbauernhöfe und wuchtigen Ferienhäuser noch finsterer wirken.“

Auch Bertelsmanns Nachrichtenfüchse haben Wichtiges mitzuteilen:

“Die Redaktion von RTL und n-tv (konnte) mit der Mutter des mutmaßlichen Täters sprechen. 'Es geht uns allen sehr schlecht, auch meinem Sohn‘, sagte sie.“

Dass man in der Berichterstattung über eine Tat dieses Ausmaßes Passagen findet, die zur Empathie mit dem Täter anregen, scheint mir ungewöhnlich zu sein.

Hintenrum-Inszenierungen

“37 Grad“, die Alltags- und Schickalsreportagereihe des ZDF, feiert heute ihren 25. Geburtstag, und da gratulieren wir auf diesem Wege natürlich gern. Tilmann P. Gangloff hat in seinem aktuellen epd-medien-Tagebuch aber einiges Kritisches anzumerken. Bei "37 Grad" gelte:

“Wer fühlen will, muss hören. Die Filmemacher stellen sich ihr Publikum anscheinend recht unmündig vor - anders ist nicht zu erklären, dass im Kommentar regelmäßig auch die Gefühle vorgegeben werden. Wie in Spielfilmen liegt unter den Bildern sicherheitshalber eine passende Musik, die die jeweiligen Emotionen vertieft. ’37 Grad (…) ist ein Sendeplatz, auf dem viel mehr möglich wäre. Die Chancen werden zu selten genutzt.“

Ebenfalls bei epd medien (Ausgabe 35/19, nicht online) hat die TV-Kritikerin Barbara Sichtermann in einer Rezension von “Die Beginner“ – eine zweiteilige Doku über junge Menschen kurz nach ihrem Schulabschluss – vor wenigen Wochen indirekt die großen Schwächen von “37 Grad“ benannt: Es gebe “diverse gute Mittel, Menschen in Lebenskrisen oder -übergängen zu zeigen“, die “die Macher nicht zum Nachhelfen oder Hintenrum-Inszenieren nötigen“, und bei denen “die Interviewten keine auswendig gelernten Sprüche aufsagen müssen“.

Ich habe diese Passage auch in einem Text für die heutige taz zitiert. Der Weser-Kurier findet indes, “37 Grad“ sei

“eine Fernsehmarke, die im hektischen medialen Wirrwarr heutiger Tage fast anachronistisch wirkt, aber nie an Relevanz eingebüßt hat.

Da weiß man gar nicht, wo man anfangen soll: “37 Grad“ ist beinahe das größtmögliche Gegenteil eines “anachronistischen“ Sendung. Die Durchformatierung, die berechenbar ausgewogenen Protagonisten-Mischungen, die komplette Erwartbartkeit des Geschehens - das ist ja leider sehr zeitgemäß.

Man darf “37 Grad“ natürlich loben, und eine fundierte Eloge hätte ich gern gelesen, aber Nullsätze wie “Über den anhaltenden Erfolg der Reihe freuen sich natürlich auch die unmittelbaren Sendungsverantwortlichen - auch wenn er sie gelegentlich selbst staunen lässt“ (Weser-Kurier again) hat die Reihe nun auch nicht verdient.

Die schwindende Macht der Alphatiere

Gerrit Bartels nimmt im Tagesspiegel Volker Weidermanns Buch “Das Duell“ - eine, so Bartels, “Art Doppelbiografie“ über Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki bzw. ein “nachvollziehendes Referat“ des Verhältnisses der beiden (FAZ neulich) - zum Anlass, folgende Fragen zu stellen:

“(Gibt) es heutzutage noch solche Auseinandersetzungen zwischen Autoren und Literaturkritikern, (wären) sie überhaupt möglich (…)? Die Macht von Reich-Ranicki damals bei der FAZ oder Raddatz bei der Zeit hat heute niemand mehr, insbesondere nicht den Einfluss auf ein großes Publikum. Es existieren inzwischen viel mehr sozusagen literaturkritische Vertriebskanäle, bis in den Digitale-Plattformen- und Social-Media-Bereich hinein.“

Man kann die Fragen auch erweitern auf Debatten jenseits der Literaturkritik: Können angesichts des Medienstrukturwandels und der Fragmentierung der Öffentlichkeit Alphatiere und Leithammel heute noch eine ähnliche Wirkung entfalten wie einst die Reich-Ranickis? Und falls nicht (wofür viel spräche): Muss man das bedauern? Die tocotronicsche, also popkulturell inspirierte Headline “Im Zweifel für den Zweifel“ ist im Übrigen ein hübscher Kontrapunkt, angesichts dessen, dass es im Text um einstige Big Names des Hochkulturbetriebs geht.  

Das im besten Sinne ungehobelte Wort“

Dass Gabor Steingart neulich die Aussagen aus einem Interview mit dem Medienmagazin journalist zurückzog (Altpapier), hat mal wieder die Debatte um Interviewautorisierungen neu in Gang gebracht. Alexander Nabert schreibt in der taz:

“Es wäre gut für den Journalismus, die Öffentlichkeit und die demokratische Debatte, wenn Autorisierungen so weit wie möglich zurückgedrängt würden. Interviews würden authentischer, Berichterstattung würde spannender und vielseitiger, Politik aufregender und weniger geschliffen. Was wäre es nur für eine Lesefreude, wenn statt langweiligen, immer gleichen Politstanzen und Worthülsen aus der Feder von Pressesprecher*innen künftig öfter das im besten Sinne ungehobelte Wort in Zeitungen stünde?“

Wobei natürlich auch ein Problem, die Funktionäre von öffentlich-rechtlichen Sendern - die Stanzen schon so gut beherrschen, dass  Nabert weiter:

“Redaktionen sollten, wenn sie es mit kritischem Journalismus ernst meinen, Autorisierungen nicht von sich aus anbieten und dagegen ar­gumentieren, wo immer es geht. Der Pressekodex stellt klar: “Ein Wortlautinterview ist auf jeden Fall journalistisch korrekt, wenn es das Gesagte richtig wiedergibt.“ Autorisierungen werden explizit nicht verlangt.“

Hier bräuchte es aber eine Großanstrengung möglichst vieler Verlage, vielleicht eine gemeinsame Erklärung diverser Chefredaktionen, künftig Interviews nicht mehr autorisieren zu lassen. Was natürlich die Frage aufwirft: Welche Medien wären denn in einer Phase des Kampfes für eine autorisierungsfreie Zukunft überhaupt bereit, auf zu Tode autorisierte oder sonstwie inhaltsarme Interviews mit Politikern zu verzichten?

Altpapierkorb (Höcke bocklos, Reichelt ahnungslos, Katapult, “Kölner Treff“)

+++ Keinen Bock auf Interviews hat derzeit offenbar Björn Höcke (siehe Flurfunk-Medienblog, Deutschlandfunk). Was man, wie es Klaus Schrage (Nürnberger Nachrichten) bei Twitter tut, nur dialektisch kommentieren kann: “Das ist 1. kein Verlust, 2. blöderweise das Beste für ihn.“

+++ Dass Julian Reichelt das Fernsehen, das er kritisiert (Altpapier), nicht kennt, dröselt der Bildblog auf.

+++ Kathrin Müller-Lancé ist für die SZ nach Greifswald gereist, um mit Benjamin Fredrich, dem Chefredakteur von Katapult (Altpapier, Altpapier, Altpapier) zu sprechen. Unter anderem geht es um ökonomische Besonderheiten beim “Magazin für Kartografik und Sozialwissenschaften“: “Anzeigenplätze verkauft Katapult nicht, die wenigen Anzeigen, die im Heft erscheinen, entstammen einem Anzeigentausch - zum Beispiel mit der Titanic oder der Süddeutschen Zeitung. Noch so eine Besonderheit: Bei Katapult verdienen alle Mitarbeiter das Gleiche. Das Gehalt ist mit den Abos im Laufe der Jahre gestiegen, gerade liegt es bei 2250 Euro brutto. Nur der Programmierer bekommt etwas mehr, mit einem geringeren Gehalt bekommt man laut Fredrich auf dem Markt einfach niemanden.“

+++ Matthias Kolb fasst in der SZ die Forderungen der Association de la Presse Internationale (API) an die Presseprecher*innen der künftigen EU-Kommissionspräsidentin zusammen: “Das Schreiben der API enthält Punkte, über die Korrespondenten schon während der Amtszeit von Jean-Claude Juncker klagten. Dokumente würden nur Minuten vor der Pressekonferenz verteilt: 'Dies macht es unmöglich, gutinformierte Fragen zu stellen‘".

+++ Wie können sich Radiosender dagegen wappnen, dass Mitarbeiter von anderen Medien eingeholte O-Töne als die eigenen ausgeben (Altpapier von Montag)? Auch der Tagesspiegel hat nun bei verschiedenen Verantwortlichen nachgefragt.

+++ Wird nach 16 Jahren nun endlich, endlich die “Lücke“ geschlossen, die “Boulevard Bio“ einst hinterlassen hat? Bettina Böttinger, deren “Kölner Treff“ heute erstmals im Ersten läuft, hat’s vor - wie sie Thomas Gehringer (Stuttgarter Zeitung) verraten hat.

Neues Altpapier gibt’s wieder am Mittwoch.

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