Das Altpapier am 8. November 2019 Keine Frage politischer Korrektheit

08. November 2019, 12:14 Uhr

Auf den Chefsesseln deutscher Redaktionen sitzen weiterhin vor allem Männer. Das kann die Qualität der Berichterstattung negativ prägen. Deutschland steht bei der Freiheit im Netz vergleichsweise gut da. An der Strafverfolgung von Beleidigungen und Drohungen hapert es aber gewaltig. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Beim Fußvolk sieht die Lage mittlerweile recht ausgeglichen aus, was Machtpositionen angeht, noch lange nicht: Frauen in den Führungsriegen von Print- und Onlineredaktionen sind immer noch so ungewöhnlich, wie ein launig-leichter Liebesroman von Margaret Atwood. In der Süddeutschen bezeichnet Angelika Slavik die Entwicklung gar als "Schneckenrevolution". Puh, warum müssen wir uns damit schon wieder auseinandersetzen, fragen Sie sich vielleicht? Das ist die Schuld, bzw. der Verdienst des Vereins ProQuote, der gestern neue Zahlen zum Anteil von Frauen an der publizistischen Macht in Deutschland veröffentlicht hat.

Aber wie gesagt, so neu sind die Zahlen gar nicht, denn in den vergangenen drei Jahren hat sich dabei kaum etwas verändert, besonders in einem Bereich: 

"Vor allem bei den deutschen Regionalzeitungen ist die Lage düster. Betrachtet man die Chefredaktionen dieser Medien, stehen hundert Männern nur acht Frauen gegenüber. Von diesen acht sind zudem drei Teil einer Doppelspitze mit einem männlichen Kollegen. Die Zahl der Frauen, die in Deutschland alleinverantwortlich die Redaktion einer Regionalzeitung führen lautet also: fünf",

fasst Slavik zusammen. 2016 waren dort der Studie zufolge 95 Prozent der Chefredakteure und 82 Prozent ihrer Stellvertreter männlich.

Gruß aus den 50ern

ProQuote erfasst in der Studie nicht nur die Anzahl der Frauen, sondern gewichtet sie auch nach Höhe der Führungsebene. ProQuote erklärt das so: "Umfasst eine Redaktion beispielsweise fünf Führungsebenen, wird die Zahl der Männer und Frauen auf Ebene eins – meist der Chefredakteur oder die Chefredakteurin – mit fünf multipliziert." So gesehen liegt der Machtanteil von Chefinnen in der Regionalpresse bei 10,2 Prozent.

Bei Onlineredaktionen und Zeitschriften sieht es etwas ausgeglichener aus, auch was die Entwicklung angeht. Aus einer dpa-Meldung bei Horizont ergibt sich, dass der durchschnittliche Frauenmachtanteil sich bei Publikumszeitschriften in den vergangenen sieben Jahren mehr als verdoppelt hat. Der Wert liegt

"aktuell bei 28,3 Prozent. Bei der ersten Zählung im Jahr 2012 seien es noch 13,7 Prozent gewesen. Beim Magazin 'Stern' haben Frauen der Berechnung zufolge mit 52,2 Prozent derzeit den größten Machtanteil unter den Leitmedien."

Was Anteile in den einzelnen Themenbereichen angeht, grüßen aber auch dort noch die 50er-Jahre. Bei der taz (dort gibt es auch gut aufbereitete Grafiken, die die Geschlechterverhältnisse in jedem Bereich übersichtlich visualisieren) dröselt Erica Zingher auf:

"Sogenannte 'Frauenzeitschriften' und Hefte, die sich schwerpunktmäßig mit Themen wie 'Haus und Garten' oder 'Unterhaltung' beschäftigen, haben größtenteils eine Frau an der Spitze. Zeitschriften, die sich mit den 'harten' Themen auseinandersetzen, also Technik, Autos, Politik und Gesellschaft sowie Wirtschaft, stehen weiterhin unter männlicher Führung".

Ach ja, und bei dieser Zahlen-Party hier sollten wir auch nicht vergessen, dass in der Studie nur die Kategorie Geschlecht betrachtet wird. Um andere Faktoren, wie ethnischer Background, Behinderungen, Bildungsstand und die finanzielle Situation im Elternhaus spielen da noch nicht mit rein.

Wichtig wäre mehr Vielfalt aber auch, um die Realität besser abbilden zu können. In Umfragen kommt ja regelmäßig heraus, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung den Eindruck hat, die eigene Lebensrealität in der Berichterstattung nicht wiederzufinden (Beispiele gibt’s u.a. beim European Journalism Observatory und Zeit Online).

Das liegt auch an Machtstrukturen, die hier bei uns durch weiße, männlich geprägte Sichtweisen dominiert werden und dementsprechende Berichterstattung mit sich bringen. So reproduziert sich ein bestimmter Blickwinkel immer und immer wieder, während andere Aspekte liegenbleiben, andere Fragen nicht gestellt werden. Bei der Frankfurter Rundschau schreibt Chefredakteurin Bascha Mika (selbst Mitglied bei ProQuote) dazu:

"Dabei geht es insgesamt keineswegs um die Frage, ob Frauen den besseren Journalismus betreiben. Doch noch immer unterscheiden sich weibliche Erfahrungshorizonte von den männlichen. Noch immer werden Frauen anders geprägt, erzogen und nähern sich den gesellschaftlichen Verhältnissen deshalb auch anders an. Oft suchen sie andere Wahrheiten als ihre männlichen Kollegen. Denn sie binden ihre Erkenntnisse an ihre Lebensverhältnisse zurück. Und die sind eben auch abhängig von ihrem gelebten Leben. Diese Vielfalt der Stimmen im Journalismus ist notwendig, um mehr über die Welt zu wissen, um sie besser zu verstehen."

Die Forderung nach diverseren Redaktionen und diverseren Führungsebenen hat deshalb nichts mit dem Buzzword der politischen Korrektheit zu tun, sondern ist eine grundsätzliche Qualitätsfrage, wage ich zu behaupten.

Verfahren eingestellt

Schwenken wir um zu einem anderen Dauer-Thema, das ähnlich zäh vorankommt wie obiges. Gestern hat die NGO Freedom House ihren neuen Report zu Freiheit im Netz veröffentlicht. Die Ergebnisse fasst Tomas Rudl bei Netzpolitik.org zusammen:

"Unregulierte soziale Netzwerke sind eine ideale Spielwiese für repressive Regime, Amtsinhaber mit autoritären Ambitionen und skrupellose Parteigänger, um politische Debatten zu verzerren und die Bevölkerung besser zu kontrollieren, heißt es im jüngst veröffentlichten Freedom on the Net Report 2019 (…). Insgesamt sei deshalb die Internetfreiheit in den jährlich untersuchten 65 Ländern im neunten Jahr in Folge gesunken",

Deutschland steht mit 80 von 100 Punkten verhältnismäßig gut da. Was die individuelle Ebene angeht, gibt es in Deutschland allerdings noch großen Nachholbedarf. Besonders deutlich wird das Problem anhand der Lücken in Gesetzen und bei der Strafverfolgung, die Einzelne immer wieder erfahren, die aber bei weitem keine Einzelfälle sind (Siggi Maurer, Renate Künast, Sibel Schick, Cem Özdemir, Richard Gutjahr und, und, und…).

In der neuen Folge der Stern-Reihe "Diskuthek" fordert der Medienanwalt Severin Riemenschneider nun keine härteren Strafen, sondern eine effektivere Strafverfolgung. Ermittler müssten nach Ansicht des Medienanwalts die Mittel, die sie hätten, auch ausschöpfen.

Dass das bisher oft nicht passiert, ist keine Neuigkeit, wird aber anhand zweier aktueller Berichte besonders deutlich. Bei Vice berichtet Sibel Schick über Morddrohungen und Vergewaltigungsfantasien, mit denen sie regelmäßig konfrontiert wird und Margarete Stokowski sprach bei der Verleihung des Tucholsky-Preises über ähnliche Erfahrungen (online bei der taz).

Was beiden gemein ist: Behörden scheinen keine angemessenen Mittel zu finden, um gegen die Einschüchterungsversuche vorzugehen. Schick schreibt:

"Oft stecken Morddrohungen in den Shitstorms. (…) Ich erstatte dann Anzeige, aber bislang hat das noch nie zu irgendwas geführt. Im April hatte ein Typ auf Twitter in der Unterhaltung mit einem anderen User geschrieben, dass er mich in Slowenien verschwinden lassen will. 'Gib realname und Adresse in 3 wochen findet man sie nicht mehr', schrieb er. Eine Twitter-Bekannte hatte mir Screenshots geschickt. Ich habe Anzeige erstattet. Aber die Polizei hat das Verfahren eingestellt, weil der User angeblich nicht zu identifizieren ist."

Nach kurzem Googeln habe sie den Nutzer selbst ausfindig gemacht. Die Polizei hält sie für überfordert. Es gebe großen Nachholbedarf, u.a. was das Wissen über Troll-Strukturen angehe.

Stokowski erzählt von einem Beispiel mit Morddrohungen und Beleidigung von der Staatsanwaltschaft nicht verfolgt wurde, weil  

"der Täter im Ausland wohne, nicht vorbestraft sei und seine Äußerungen als 'private Nachricht' verschickte. Im Einstellungsschreiben stand: 'Ein öffentliches Interesse, das die Strafverfolgung gebietet, liegt nicht vor.' – Sicher? Ich würde gern glauben, dass es ein öffentliches Interesse daran gibt, dass Autorinnen Texte schreiben können, ohne erklärt zu kriegen, sie sollten verprügelt, erschossen und verbrannt werden."

"Es geht darum, wem dieser Raum gehören soll. Das, was da abläuft, ist ein virtueller Krieg, der auf digitaler Ebene geführt wird. Es ist eine Auseinandersetzung, wem dieser Platz gehören soll. Wer mitsprechen und wer Probleme benennen darf."


Altpapierkorb (Indexmodell, ZDF-Fernsehrat, Umgang mit Fehlern)

+++ Währenddessen macht Ulf Poschardt den Habeck und verlässt Twitter, wie er bei der Welt (€) erklärt.

+++ Ein medienpolitisches Rundumschlag-Interview über medienpolitische Probleme bei der Gestaltung von Reformen bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hat Helmut Hartung für die FAZ mit Oliver Schenk geführt, Chef der Sächsischen Staatskanzlei. Es geht unter anderem um das Indexmodell.

+++ In einem Jubiläumsbeitrag blickt Leonhard Dobusch bei Netzpolitik.org auf die Schwerpunkte seiner Reihe "Neues aus dem Fernsehrat" zurück. Spoiler: Es ging oft um freie Lizenzen für öffentlich-rechtliche Inhalte und Transparenz.

+++ Die Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein hat die Claims in der UKW-Radiolandschaft in Hamburg neu abgesteckt, berichtet die Welt. Neu auf das UKW-Spielfeld kommt ab August 2020 der Sender FluxFM und ab Oktober 2022 dann ByteFM. Dafür wird Energy Hamburg ab August 2020 nur noch via DAB+, Internet oder App zu gehört werden.

+++ Wie man offen und sachlich mit den eigenen Fehlern umgehen kann, zeigt Zeit-Autor Christian Bangel bei Twitter. In einem Text über #baseballschaegerjahre setzte er ein Zitat des Nicht-CDU-Vorsitzenden Friedrich März in Zusammenhang mit Rechtsextremismus. Nachdem das dem Team des CDU-Mann auffiel, korrigierte Bangel den Fehler und bat unter dem Text und auch in einem Tweet um Entschuldigung.

+++ Die Deutsche Welle soll Akkreditierung in Russland behalten dürfen, berichten SZ und FAZ.

+++ Corinna Milborn ist Österreichs Medienlöwin, berichtet der Standard.

+++ Wo kommt die auf einmal her? Es gibt ne 4. Staffel "4 Blocks", die aber nicht mal Kritiker im Voraus sehen dürfen, berichtet der Tagesspiegel.

Neues Altpapier gibt’s wieder am Montag.

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