Das Altpapier am 27. November 2019 Trolle wollen eure Freunde sein

27. November 2019, 15:36 Uhr

Warum sich der Fall der 2017 ermordeten Journalistin Daphne Caruana Galizia in Malta zu einer Regierungskrise auswächst; warum einem Ernst-Jünger-Jünger von der FAZ eine Arte-Dokumentation über Jünger missfällt; wie russisches Stastamarketing bei Twitter funktioniert. Ein Altpapier von René Martens.

Angesichts der vielen Jeremiaden jener, die über Meinungsfreiheitsmangel klagen, obwohl ihre Meinung überall gefragt ist, scheint es angemessen zu sein, hin und wieder zu betonen, dass es Menschen gibt, deren "Meinung keine Öffentlichkeit hat".  So formuliert es Jagoda Marinić im politischen Feuilleton von Deutschlandfunk Kultur. Sie greift in dem Zusammenhang einen in der vergangenen Woche unter anderem von Spiegel Online rekapitulierten Fall auf:

"In einer Stadt am Niederrhein bat zuletzt ein junger Mann die Rheinische Post darum, seinen Namen aus einem Artikel zu entfernen, weil er Drohungen von Rechtsradikalen erhielt. Der junge Mann hatte noch nicht einmal eine Meinung geäußert. Er hatte lediglich Abitur gemacht und wurde mit allen anderen aus seinem Jahrgang porträtiert."

Der türkische Name des jungen Deutschen, so Marinić, "reichte (…) für Hetze und Hass". Weshalb sie anfügt:

"Verzeihen Sie bitte, wenn ich der Meinung bin, dieser junge Mann interessiert mich mehr als Bernd Lucke. Der Junge wird sich unsichtbar machen, wird verloren gehen für die Demokratie, Lucke sicher nicht."

Schließlich müsse man bedenken:

"Als Bernd Lucke brachial zum Schweigen gebracht wurde, boten ihm sämtliche Foren dieses Landes Raum, seine Meinung kund zu tun."

Ein Gauner tritt zurück

Wie grotesk die hiesigen Debatten über die "Grenzen" der Meinungsfreiheit sind, merkt man - auch! - dann, wenn man einen Blick auf ein anderes EU-Land wirft, in eines nämlich, in dem es passieren kann, dass man mit dem Leben dafür bezahlt, dass man schreibt, was geschrieben werden muss. Wir wären also angelangt bei dem Mord an der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia, der in der aktuellen Berichterstattung wieder eine Rolle spielt. Zu den Hintergründen siehe ausführlich diese Altpapier-Kolumne von 2017, zur kürzlichen Entwicklung diese von vor einer Woche.

Auf der Seite 2 der SZ ("Thema des Tages") schreiben heute gleich vier Autorinnen und Autoren über die politischen Entwicklungen rund um den Fall. Der Haupttext beginnt so:

"Zwanzig Minuten vor ihrem Tod am 16. Oktober 2017 veröffentlichte Daphne Caruana Galizia ihren letzten Artikel. Er trug die Überschrift: 'Dieser Gauner Schembri war heute vor Gericht und behauptete, er sei kein Gauner.'"

Am Dienstagmorgen nun ist Keith Schembri,

"über den sich Caruana Galizia so empört hatte, von seinem Amt zurückgetreten (...). Schembri wurde gleich darauf für eine Anhörung zum Hauptquartier der Polizei gebracht."

Schembri ist wiederum Stabschef des maltesischen Premierministers Joseph Muscat, weshalb uns das Thema möglicherweise erhalten bleiben wird. Im langen SZ-Text dazu heißt es am Ende jedenfalls:

"'Ich würde definitiv zurücktreten, wenn es irgendeinen Zusammenhang zwischen mir und dem Mord gäbe’, sagte Muscat am Dienstag. Regulär ist er noch bis 2022 im Amt. In Malta geht man mittlerweile davon aus, dass sein Rücktritt wohl eher eine Frage von Tagen sein dürfte."

Christian Jakobs taz-Text geht in eine ähnliche Richtung:

"Tatsächlich wächst sich der Fall der 2017 ermordeten Journalistin Daphne Caruana Galizia zu einer veritablen Regierungskrise aus."

Denn:

"(F)ür viele auf Malta, allen voran die Familie der Toten, verdichten sich die Indizien auf ein tödliches Komplott, das vom halben Kabinett und einem zwielichtigen Geschäftsmann geschmiedet wurde."

Von dieser Indizienverdichtung angetrieben waren am Dienstag wohl auch einige Protestierer, die Muscat beim Verlassen des Parlamentsgebäudes mit Eiern bewarfen - nicht unbedingt typische Szenen für ein EU-Land, wie mir scheint.

In der Randspalte auf der Seite 2 der SZ geht Hannes Munzinger darauf ein, wie sich weltweit die Bedrohungslage für Journalistinnen und Journalisten entwickelt hat. 49 wurden bisher in diesem Jahr getötet. Munzinger weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass

"die Gefahren für Journalisten bei Recherchen zu Umweltproblemen besonders groß (sind). So wurden seit 2009 weltweit 13 Journalisten getötet, nachdem sie über Ressourcenausbeutung oder Umweltverschmutzung berichtet hatten".

Offenbar noch nicht in der Statistik von Reporter ohne Grenzen enthalten, auf die sich Munzinger beruft: die chilenische Fotojournalistin Albertina Martínez Burgos, die in der vergangenen Woche in ihrer Wohnung erstochen wurde.

"The 38-year-old journalist had been documenting the despotism against anti-administration protestors in the country, especially violence against women. Her photographs from the ongoing protests against Chile’s president Sebastián Piñera have been stolen",

schreibt die Coalition for women in journalism bei Medium dazu.

"Disinformation operations aren’t typically fake news"

Zwei Wissenschaftler der Universität Clemson (South Carolina) - Darren Linvill und Patrick Warren - haben sich mit den Troll-Strategien des russischen Staats befasst. Für den amerikanischen Rolling Stone haben sie darüber geschrieben:

"We’ve spent the past two years studying online disinformation and building a deep understanding of Russia’s strategy, tactics, and impact. Working from data Twitter has publicly released, we’ve read Russian tweets until our eyes bled."

Linvill und Warren haben für ihren Text einige Merksatzblöcke und Merksätze zusammengestellt:

"Professional trolls (…) understand how to harness our biases (and hashtags) for their own purposes. They know what pressure points to push and how best to drive us to distrust our neighbors. The professionals know you catch more flies with honey. They don’t go to social media looking for a fight; they go looking for new best friends."

Ein kürzeres Beispiel:

"Disinformation operations aren’t typically fake news or outright lies. Disinformation is most often simply spin."

Eine in dem Artikel enthaltene Botschaft ist jenseits des Umgangs mit russischen Strategien von Belang: Auch wenn uns eine in einem Tweet zum Ausdruck kommende Haltung gefällt oder dort uns sehr genehme Hashtags verwendet werden, sollten wir ihn nicht unbedingt retweeten - jedenfalls dann nicht, wenn nicht klar ist, was es mit diesem Account auf sich hat. Nicht zuletzt, so Linvill/Warren gilt:

"As good marketers, professional trolls manipulate our emotions subtly."

"Tagesschau"-Zuschauer nicht "links"

Alles andere als subtil gerieten dagegen vor zwei Monaten die Artikel diverser Dichter und Denker, die - wie nun Stefan Niggemeier bei Übermedien rekapituliert - in der Berichterstattung über eine Reuters-Studie zu den Nachrichtenangeboten öffentlich-rechtlicher Sender ihren Lesern zum Beispiel zu verkaufen versuchten,

"ARD und ZDF hätten 'das Problem, dass sie ihr Publikum sehr stark im linken Spektrum finden'. Sie seien den Forschern zufolge 'fest im links-grünen Lager des Publikums verankert'. Die Daten legten nahe, 'dass ARD und ZDF mit ihren politischen Programmen die politische Spaltung in Deutschland eher vertiefen als überbrücken'".

Niggemeier betont nun:

"Keiner dieser Befunde ergibt sich tatsächlich aus der Studie und den ihr zugrunde liegenden Daten."

Auch vor zwei Monaten gab es bei Übermedien bzw. im Altpapier schon Texte zur Fragwürdigkeit der Berichterstattung. Niggemeier klamüsert nun noch einmal im Detail auseinander, "wie wenig sich die politische Zusammensetzung des Publikums von 'Tagesschau' und 'heute' von der Gesamtbevölkerung unterscheidet". In seinem Text heißt es zum Beispiel:

"Auf einer siebenstufigen Skala liegen die Abweichungen von der Gesamtbevölkerung bei 0,06 beziehungsweise 0,13 Punkten. Das ist extrem wenig."

Zur Veranschaulichung bitte in den eben verlinkten, neuen Übermedien-Text klicken (das Altpapier-Layout sieht ja leider keine Grafiken vor). Was man auch noch mal betonen kann: Die Anordnungen der befragten Personen auf der "siebenstufigen Skala" (also auf den Stufen "Mitte" oder "etwas links von der Mitte") beruhen ausschließlich auf Eigeneinschätzungen.

Simon, Ernst und Volker

Im Zentrum der heutigen FAZ-Medienseite steht eine Rezension zur Arte-Dokumentation "In den Gräben der Geschichte – Der Schriftsteller Ernst Jünger", die man in jenem Kontext lesen kann, in den auch die Berichterstattung zur Reuters-Studie gehört. Sie reiht sich - auch wenn die Mittel hier andere sind als im eben beschriebenen Fall - in die rechtskonservativen Angriffe auf die vermeintlich linken Öffentlich-Rechtlichen ein.

Im Vorspann heißt es:

"Bei Arte macht es sich eine Dokumentation über den umstrittenen Schriftsteller Ernst Jünger zu leicht. Sie schlägt Leben und Werk über einen zu simplen moralischen Leisten."

Und der bereits als Ernst-Jünger-Jünger aufgefallene Simon Strauß (siehe etwa Altpapier und ein FAZ-Text von der Leipziger Buchmesse 2017) schreibt in seinem Text:

"Als ließe sich Jünger entschärfen, indem wir ihn denunzieren, mit den abgegriffenen Formeln einer selbstgewissen Ideologiekritik: antiliberal, antidemokratisch und daher ein Wegbereiter des Nationalsozialismus? Volker Weiß, seines Zeichens Historiker mit Schwerpunkt auf 'der Geschichte und Gegenwart der extremen Rechten', wendet diese Taktik in einem neuen Biographie-Film über Jünger auf Arte an und wirkt dabei, man kann es nicht anders sagen, ziemlich altmodisch."

Ich habe einen Großteil von Falko Korths Dokumentation gesehen und würde ihn gar nicht verteidigen wollen, aber Rezension plus Vorspann scheinen mir auf Teufel komm raus insinuieren zu wollen, in dem Film gebe es eine Hegemonie "linker", moralisierender Kritiker. Strauß arbeitet sich vor allem ab an Weiß, "dem gemütlich aussehenden Historiker mit Dreitagebart", obwohl hier (falls ich mich nicht verzählt habe) insgesamt neun Experten (falls man den Schwadroneur Neo Rauch als Experten bezeichnen kann) zu Wort kommen - und von denen bringen fast alle Jünger aus den unterschiedlichsten Gründen Wohlwollen entgegen, äußern sich apologetisch oder fanboymäßig.

Altpapierkorb (Stokowski, Herrenknecht, Super-Mediathek, KiKa)

+++ In ihrer aktuellen Spiegel-Online-Kolumne konstatiert Margarete Stokowski: "Es ist immer beachtlich, wenn die Lösung für Probleme, die im Patriarchat begründet sind, darin liegen soll, dass ausschließlich Frauen ihr Verhalten ändern. Verdächtig, wenn Sie mich fragen - zumal, wenn die Tipps dann darin bestehen, Ungleichheiten zu zementieren: Frauen, seid mal nicht so stressig." Zumal, um Teile des weiteren Textes zusammenzufassen, solche Ratschläge dann auch noch von Autorinnen kommen. Stokowski fragt daher: "Warum nicht alles umdrehen? Warum nicht Ratschläge an Männer geben statt an Frauen?"

+++ Mittlerweile gang und gäbe bei Advokaten, die irgendwas mit Medien zu tun haben: Man lässt gegenüber Redaktionen schon mal die Muskeln spielen, bevor überhaupt ein Beitrag erschienen ist. Kontext berichtet über entsprechende Post der Herrenknecht AG, also des "Weltmarktführers für Tunnelvortriebstechnik".

+++ Die Medienkorrespondenz notiert, dass "Bewegung" in die Planung "einer länderübergreifenden digitalen Plattform von öffentlich-rechtlichen Sendern in Europa" kommt, für die auch das Schlagwort "Super-Mediathek" kursiert (siehe unter anderem dieses Altpapier-Special). Volker Nünning berichtet: "In der öffentlichen Sitzung des WDR-Rundfunkrats am 7. November in Köln wurde bekannt, dass sich der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm und WDR-Intendant Tom Buhrow am 4. November mit dem noch amtierenden EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) bereits zum zweiten Mal trafen, um über ein europäisches Plattformprojekt zu beraten (möglicherweise könnte hier, so ist zu hören, bei Arte der Nukleus liegen)."

+++ "Gegen alle Abgesänge auf das lineare Fernsehen hat der Kika Erfolg mit langlebigen Programmen und gewohnten Gesichtern", schreibt die SZ nach einem Besuch im MDR-Landesfunkhaus in Erfurt, wo der Kinderkanal residiert (und auch die technische Abwicklung des Altpapiers über die Bühne geht).

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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