Teasergrafik Altpapier vom 4. Dezember 2019: Greta Thunberg (stilisiert) hält ein Schild in der Hand auf dem "How dare you?" steht. Rundherum sind die Logos der ARD, des ZDF und vom Deutschlandfunk in Sprechblasen angeordnet.
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Das Altpapier am 4. Dezember 2019 "How dare you?"

06. Dezember 2019, 08:46 Uhr

Behandeln Medien und Politik die Wähler der AfD, "als wären sie Außerirdische" und "als gäbe es keine deutschen Kontinuitäten"? Haben die Regierenden in den Sendern eine ähnliche Nach-mir-die-Sintflut-Haltung, wie die Entscheider in der Klimapolitik? Ein Altpapier von René Martens.

Der unzureichende Umgang von Journalisten mit der AfD war hier schon häufig ein Thema. In der Dezember-Ausgabe der Monatszeitschrift "konkret" ist nun eine Kolumne erschienen, in der Ilse Bindseil die Diskussion um einige neue Aspekte bereichert.

Bevor wir darauf im Detail eingehen, skizzieren wir aber erst einmal einige halbwegs geläufige Ursachen für das mediale Versagen:

1) Angst.

"Bei der Berichterstattung über die AfD spürt man bei einigen Journalisten durchaus die Befürchtung: Wenn die noch stärker werden und was zu sagen haben, was wird dann aus mir?"

Das sagt Lutz Hachmeister in dem in diesem und diesem Altpapier bereits erwähnten Interview, das ich für die Medienkorrespondenz mit ihm geführt habe.

2) Gedankenlosigkeit.

Sie könnte beispielsweise die Ursache sein für die vor einem Vierteljahr hier im Altpapier beschriebene Performance eines ZDF-Mannes bei einer Brandenburger AfD-Wahlparty ("Der Jubel ging hier tatsächlich durch diese Decke dieses historischen Ballsaals").

3) Inhaltliche Nähe.

Über diese spekulierte Telepolis gerade anlässlich liebdienerischer Formulierungen eines vom AfD-Bundesparteitag berichtenden Phoenix-Reporters (siehe Altpapier von Dienstag).

Bindseil macht in ihrem "konkret"-Text (S. 41, nicht online) nun ein paar andere wichtige Punkte. Generell konstatiert sie eine gewisse Verdruckstheit in der Berichterstattung:

"Als Hörerin konventioneller Nachrichtenmedien verfolge ich den offiziellen Umgang mit den Wählern der AfD mit Verwunderung. Es ist ein entfremdeter Umgang: Bis in Satzbau und Grammatik hinein werden die Wähler behandelt, als wären sie keine, sondern als hätte 'es' gewählt."

Beziehungsweise:

"Medien und Politik behandeln die Wähler der AfD, als wären sie Außerirdische, als gäbe es keine deutschen Kontinuitäten."

Nicht zuletzt tut man, unter Zuhilfenahme des Begriffs "Protestwähler", auch noch so, als seien sie nur bedingt ernst zu nehmen. Wichtiger noch ist Folgendes, was Bindseil schreibt:

"Die Sprachlosigkeit angesichts von Attacken im bürgerlichen Raum, die im öffentlichen Sprachgebrauch 'nun wirklich zu weit gehen', ist ein Effekt schlicht auch des Mangels an Übung. Die Bundesrepublik konnte sich ihrer Vergangenheit offenbar nur durch ein Tabu erwehren, das sie beschützt, ihre Bürger aber um die nötige Gelegenheit und den erforderlichen Mut gebracht hat, sich offensiv zu verteidigen. Über ein 'Das darf man doch nicht!' oder 'Wie können Sie sich das erlauben!' kommt man so nicht hinaus, und die kommentierende Rede bleibt konsequent in der Wiederholung stecken: Wieder und wieder wird 'eine Grenze überschritten'."

Ein Grund für die Hilflosigkeit: "die Flucht in die Verleugnung und die Abneigung, sich mit dem Vergangenen zu beschäftigen". Bindseil weiter:

"Was die eigene Geschichte angeht, so versperrt das Tabu den Zugang zu ihr nicht nur für die Gegner. Es lohnte sich daher, dem geschmähten Hätte und Wäre einmal Raum zu geben: Hätte die Bundesrepublik den Nazismus nicht tabuisiert, dann hätte die Auseinandersetzung geführt werden können, die Fähigkeiten dazu wären nicht eingeschlafen, nicht die Angst, sondern der Mut, nicht die Feigheit, sondern das Selbstbewusstsein wäre gewachsen."

Ein aktuelles Beispiel für einen Fernsehjournalisten, der bei einem Interview mit einem AfDler die "deutschen Kontinuitäten" (Bindseil) im Blick hatte, lässt sich aber immerhin nennen: Theo Koll, der für "Berlin Direkt" im ZDF das bei Journalisten-Twitter viel gelobte Kurzinterview mit dem Malermeister Tino Chrupalla führte.

Weg mit der "neoliberalen Quote"?

Die Regisseurin und Drehbuchautorin Julia von Heinz hat in der vergangenen Woche beim Fernsehfilm-Festival in Baden-Baden den Hans-Abich-Preis erhalten - unter anderem, weil sie auf "auf beispielhafte Weise Vorbild ist, wenn es um gendergerechtes Erzählen und Rollenbilder in Filmen geht". Ihre Dankesrede, die Blickpunkt Film publiziert hat, nutzte die unter anderem für den "Tatort" tätige von Heinz für eine, wie man früher vielleicht gesagt hätte: solidarische Fundamentalkritik am öffentlich-rechtlichen System. Sie fragt:

"Was würden wir über einen Autokonzern denken, der viel Geld in Forschung und Entwicklung von Talenten investiert, nur um diese nach ihren ersten Erfolgen an ihre Konkurrenten zu übergeben, weil ihre Ideen nicht in bestehende Formate passen, weil das Zielpublikum zu spitz sei, weil Experimente die Quote sinken lassen?"

Von Heinz geißelt außerdem die "neoliberale Quote", auf die "der öffentlich-rechtliche Rundfunk seit 1984 (setzt), als Reaktion auf die damals entstandenen Privatsender auf der Marktanteile" - und zumindest die Formulierung "neoliberal" ist hier bemerkenswert, denn nach meinem Eindruck taucht dieser politische Begriff nicht allzu häufig auf, wenn es um die Quotenfixiertheit der Öffentlich-Rechtlichen geht. Eine Ausnahme war die Debatte, die sich nach der Abberufung eines hessischen Filmförderfunktionärs entwickelte (Altpapier).

"Folgt statt einer aussterbenden Marktquote, welche die Quote der älteren Generation ist, einmal versuchsweise anderen Quoten",

fordert von Heinz des Weiteren, das heißt, sie fordert mehr Diversität, etwa mehr "migrantische Perspektiven zu Wort kommen" zu lassen ("diese machen 25 Prozent der Bevölkerung aus").

Mit Greta Thunberg fragt Julia von Heinz die Sender-Funktionäre: "How dare you?" Sie wirft den Regierenden in den Sendern eine ähnliche Nach-mir-die-Sintflut-Halttung vor wie den (Nicht-)Entscheiderinnen und (Nicht-)Entscheidern in der Klimapolitik. Beziehungsweise:

"Wie können wir sehenden Auges ein demokratisches Instrument, das uns von den Alliierten aufgezwungen wurde und das wir heute nötiger brauchen denn je, sterben lassen?"

Abgesehen davon, dass die Formulierung "aufgezwungen" möglicherweise in die Kategorie verunglücktes Framing fällt: Heinz macht da natürlich einen recht großen Schritt bzw. ein recht großes Fass auf, aber in einer Dankesrede ist ein gewisser Überschwang ja völlig in Ordnung.

Dass wir das "demokratische Instrument" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks "heute nötiger brauchen denn je" - das würde wohl auch DGB-Chef Reiner Hoffmann unterschreiben, der einen Beitrag für die Tagesspiegel-Serie zur "Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" abgeliefert hat. In dem schreibt er:

"Ein aus Beiträgen (nicht Steuern!) finanziertes, staatsfernes, föderales öffentlich-rechtliches Mediensystem, eingebettet in eine kritische Öffentlichkeit, gehört zum Besten, das Deutschland nach der Katastrophe des Nationalsozialismus mitgegeben wurde."

Zurück zu von Heinz - und zu einem sehr konkreten Verbesserungsvorschlag:

"Hört ab sofort auf, die Marktanteilsquote zu veröffentlichen, die einem veralteten System angehört".

"Marktanteilsquote" ist zwar ein Pleonasmus, aber die Forderung dürfte die Altvorderen der ARD geärgert haben. Volker Herres, dem Programmdirektor des Ersten Programms, ist die Quote ja so wichtig, dass er sogar an einem Sonntagmorgen freudig Erfolgszahlen für seinen Laden twittern muss. Auch am Dienstagmittag, als er in Hamburg die Eröffnungsrede bei der ARD-Jahrespressekonferenz hielt, die einen Ausblick auf das Programm des Jahres 2020 lieferte, wurde mal wieder Herres’ inniges Verhältnis zum Marktanteil deutlich. Das Erste sei derzeit "Marktführer am Hauptabend", verkündete er zum Beispiel halbwegs ergriffen. Es ist jedenfalls wahrscheinlicher, dass eine Frau die Fußball-Nationalelf der Männer trainiert, als dass die ARD aufhört, Einschaltquoten zu veröffentlichen.

Im Zentrum der Berichterstattung über die Highlight-Vorschau der ARD stehen das neue dreiköpfige Bremer "Tatort"-Team, das 2020 in einer satirischen Online-only-Serie vorgestellt wird und 2021 den ersten Fall lösen soll (siehe unter anderem SZ) und das neuartige Projekt "Der Feind oder Gerechtigkeit". Hier wird ein an die Entführung und Ermordung des Bankierssohns Jakob von Metzler angelehnter Kriminalfall in zwei zeitgleich ausgestrahlten Filmen aus verschiedenen Perspektiven erzählt - im Ersten Programm aus der eines Polizisten und in sämtlichen Dritten Programmen aus der des Anwalts eines Verdächtigen (siehe unter anderem Teleschau/Weser-Kurier).

Das große ARD-Projekt "KaDeWe", bei dem Julia von Heinz als Drehbuchautorin und Regisseurin tätig sein wird, war übrigens kein Thema bei der Jahrespressekonferenz.

Nach dem Staatsvertrag ist vor dem Staatsvertrag

Die umfangreichsten Texte auf den heutigen Medienseiten von SZ und FAZ beschäftigen sich mit dem auf der morgigen Ministerpräsidentenkonferenz zum Beschluss anstehenden Medienstaatsvertrag (siehe Altpapier). Benedikt Frank ordnet für die SZ ein:

"Gemäß dem alten Rundfunkstaatsvertrag gilt beinahe jeder, der regelmäßig Bild oder Ton live ins Netz sendet, als lizenzpflichtiger Rundfunkveranstalter und bräuchte demnach eine bis zu 10 000 Euro teure Lizenz. Unter dem Medienstaatsvertrag entfällt die Zulassungspflicht für Programme, die nicht zur Meinungsbildung beitragen. Ob sie das tun oder nicht, ist natürlich Interpretationssache. Das härtere Kriterium ist, dass wer im Durchschnitt weniger als 20 000 Nutzer erreicht, keine Lizenz mehr braucht. Damit sind viele kleine Streamer von der Lizenzpflicht befreit. Im Zweifel sollen die Medienanstalten die Zulassungsfreiheit bestätigen."

Helmut Hartung, Chefredakteur von medienpolitik.net, lobt in der FAZ (Blendle-Link) den Medienstaatsvertrag als "großen Wurf". Er hat mit verschiedenen Medienpolitikern zu verschiedenen Einzelaspekten gesprochen, die sich im Zusammenhang mit dem neuen Vertrag aufdrängen. Florian Herrmann (CSU), Chef der Bayerischen Staatskanzlei, äußert sich beispielsweise über einen kürzlichen Rechtsstreit - Sind die Livestream-Angebote aus dem Hause Bild-Zeitung zulassungspflichtiger Rundfunk? -, und der Christdemokrat Nathanael Liminski, Chef der Staatskanzlei in NRW, erläutert den "vollständig neuen Abschnitt" (Hartung), der den sog. Medienintermediären gewidmet ist.

Ebenfalls unter den O-Ton-Gebern: Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda, laut Lutz Hachmeister (siehe noch einmal das eingangs zitierte Interview) "aus dem politischen Milieu (…) die einzige Figur, die mir einfällt, die in der Lage ist, in einem medialen Theorie-Praxis-Zusammenhang zu argumentieren". Gegenüber Hartung wandelt der Theorie-und-Praxis-Profi nun auf Sepp Herbergers Pfaden:

"(W)ir (müssen) sehr genau im Blick behalten (…), wie die neuen Regeln wirken und was wir noch verändern müssen. Nach dem Staatsvertrag ist immer vor dem Staatsvertrag."

Altpapierkorb (Caspar David Lamby, "Leipziger Impuls", Görlitzer Park, Musiker-Auftritte im "Tatort")

+++ Dietrich Leder hat für sein "Journal" für medienkorrespondenz.de unterhaltsame Beobachtungen zu Stephan Lambys Prime-Time-Dokumentation "Die Notregierung – Ungeliebte Koalition" (siehe Altpapier von Montag) notiert: "Lamby muss während der Zeit, als er seinen Film (…) konzipierte, (…) eine Ausstellung mit Gemälden von Caspar David Friedrich besucht haben. Anders lässt sich seine Idee nicht begreifen, dass all diejenigen, die er für seine Dokumentation über die Lage der Großen Koalition befragte, sich an ein Fenster stellten und hinausschauten. Ob Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) oder Alice Weidel von der AfD, ein Videoblogger oder zwei Hauptstadtjournalistinnen, ein Vertreter des linken oder einer des rechten Flügels der Sozialdemokratie – sie alle schauten aus jeweils anderen Fenstern (…). Das funktionierte vielleicht bei der ersten oder sogar noch der zweiten Einstellung dieser Art. Anschließend kam eher der Eindruck auf, dass die Fenstersteher an die Regieanweisung von Lamby dachten oder dass sie sich zwangen, so nachdenklich wie nur möglich zu schauen."

+++ In der Liste der Bizarrismen, die die AfD über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in die Welt gesetzt hat, recht weit oben: die Behauptung, dass "nur noch 5,6 Prozent der 14- bis 49-Jährigen ARD und ZDF schauen". Stefan Niggemeier (Übermedien) hält dem unter anderem entgegen: "Der Bayerische Rundfunk hat im vergangenen Jahr durch eine Umfrage versucht zu ermitteln, welche Gesamtreichweite die öffentlich-rechtlichen Medien haben – also Fernsehen, Radio, Apps und Mediatheken zusammen genommen. Befragt wurden vom Institut GfK MCR telefonisch 1.502 Personen ab 14 Jahren in Deutschland." Ergebnis: Im Zeitraum von zwei Wochen hatten 93,5 Prozent der 14-bis 49-Jährigen mindestens einmal eines der genannten öffentlich-rechtlichen Angebote genutzt.

+++ "Der Gemeinwohlbeitrag definiert die Schlüsselrolle öffentlich-rechtlicher Medien und muss durch aktive Führung und Steuerung in unseren Medienhäusern weiter gestärkt und immer wieder neu umgesetzt werden" - das betonen der MDR (bei dem das Altpapier erscheint) und weitere öffentlich-rechtliche Sender in der Vorbemerkung des von ihnen bei der Europäischen Public-Value-Konferenz gerade verabschiedeten Leipziger Impulses. Siehe dazu unter anderem den Flurfunk-Blog.

+++ Dass sich Medienberichte über Straftaten rund um den Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg eher nicht als empiriegesättigt bezeichnen lassen, konstatiert der Volksverpetzer.

+++ Michael Lünstroth berichtet für "Kontext" über die vom Netzwerk Recherche und der Akademie für Politische Bildung in Tutzing organisierte Post-Relotius-Skandal-Veranstaltung "Jetzt mal ehrlich! Was Journalismus aus den Täuschungsfällen lernen muss" - in diversen Timelines auch unter #ehrlich19 zu finden - und lobt in dem Zusammenhang, dass "fast alle Panels von Journalistinnen moderiert (wurden). Das ist im Medienbetrieb ungewöhnlich. Üblicherweise werden solche Diskussionen von Männern moderiert, die sich vor allem selber reden hören wollen. Da hob sich die Runde in Tutzing angenehm ab: Statt eitlem Schwadronieren gab es hier sehr oft präzise Fragen und echtes Interesse am Gegenüber."

+++ Am Ende noch eine - nerdige - Ergänzung zum Themenkomplex "Tatort" (die im kommenden Jahr anlässlich des 50. Jubiläums möglicherweise noch einmal aufgegriffen wird): Hans-Jürgen Wulff hat für pop-zeitschrift.de ein "chronologisches Verzeichnis der Gast- und Cameoauftritte von Musikstars im 'Tatort'" erstellt, das mit einem Auftritt Gittes beginnt und einem von Voodoo Jürgens aufhört.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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