Das Altpapier am 16. Dezember 2019 Aufregungsverstärkungsjournalismus
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16. Dezember 2019, 11:35 Uhr
Greta Thunberg fuhr ICE. Es folgte: emotionsbasierter Journalismus, der auch sonst das Zeug zum Gegenwartsphänomen hat. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Ein Sonntagsdienst in der Redaktion kann hart sein. Da ist man froh, wenn einem bei der populären Nachrichtenagentur Twitter ein Reichweitengarant mit Anlauf ins Gesicht springt: Greta Thunberg ist durch Deutschland Zug gefahren und platzierte sich zunächst auf dem Boden, bevor sie schließlich (“after Göttingen“) in der 1. Klasse zu sitzen kam. Das war natürlich ein Ding.
Die ARD hat am Abend keinen “Brennpunkt“ ausgestrahlt, aber sonst war vieles am Start, was im aktuellen Journalismusgeschäft Rang und Namen hat. Die einen fühlten sich ermuntert, der Deutschen Bahn mitzugeben, dass sie ein Saftladen sei (nach Thunbergs Tweet). Die anderen mutmaßten, Greta Thunberg habe gelogen (nach einem Antwort-Tweet der Bahn). Was sich entwickelte, bis sie in einem weiteren Tweet und die Deutsche Bahn mit einer Pressemitteilung auflösten, von wo bis wo genau Thunberg einen Sitzplatz gehabt habe, war ein Musterbeispiel für aufregungsbasierten Instantsüppchen-Journalismus, der bestehende Werturteile verstärkte.
Ganz erstaunliche Rechercheergebnisse zum Thema veröffentlichten zwischenzeitlich n-tv.de und Die Welt, die sich hatten zutragen lassen, dass man Thunberg im Zug Schokoladentäfelchen mit der Aufschrift “Lieblingsgast“ gebracht habe. Was freilich nichts zur Erhellung beitrug, sondern nur socialmedialer Bestätigungscontent für Thunberg-Gegner war: Aha, dann kann sie ja auf ihrer Fahrt durch ganz Deutschland gar nicht auf dem Boden gesessen haben, wie sie behauptet!
“He Said“ und “She Said“ wurden Häppchen für Häppchen abgebildet. Was aber tatsächlich geschehen war, darüber wurde einfach hinweggesehen, als ginge es nicht höchstens darum. Warum nicht abwarten, bis man mehr weiß, als das, was die Beteiligten bei Twitter posten? Okay, blöde Frage: weil Aufreger dieser Art nur in Echtzeit welche sind. Nur werden die, die scheibchenweisen Aufregernacherzählungsjournalismus betreiben, dann damit leben müssen, dass viele Menschen ihre Arbeit als Aufregungsverstärkungsjournalismus wahrnehmen.
Häppchenjournalismus
Womöglich ist die Greta/Bahn-Sache nicht wirklich wichtig. Dass sie in die Geschichtswerke eingeht, die dereinst Historiker über unsere Zeit verfassen werden, ist jedenfalls nicht ausgemacht. Die kontextlose Herummelderei aber könnte durchaus das Zeug zum Phänomen haben:
“Häppchenjournalismus bleibt nicht ohne Folgen“, heißt es über einem Radiobeitrag von WDR5, in dem FAZ-Redakteur Oliver Georgi zitiert wurde: “Da wird dann ein Zitat, ein Satz oder eine Stellungnahme herausgepickt“, und es würden “Empörungsspiralen“ in Gang gesetzt, die “keinerlei Grundlage hätten“. Es geht im Beitrag um Politikerinterviews von Kevin Kühnert und Annegret Kramp-Karrenbauer, die, um ihren Kontext befreit, als steile Einzeiler Medienkarriere gemacht hätten und dann kaum noch einzufangen gewesen seien.
Etikettierungsjournalismus
Und es gibt noch mehr Beispiele für Journalismus, der es sich in der Zone der bisweilen sinnentstellenden Vereinfachung bequem macht:
“Es empfiehlt sich einfach, nach Straftaten wie der in Augsburg, in Köln oder irgendwo anders, mit Vorsicht zu genießen, was alles so kolportiert, gelabert und auch berichtet wird. Oft sind die Sachlagen kompliziert. Doch genauso oft fällen Menschen eben schon Urteile, obwohl sie nur die Umrisse kennen. Was wiederum von Medien befeuert wird und der Art, wie sie etwas berichten.“
Schreibt Boris Rosenkranz im Sonntags-Mail-Newsletter von Übermedien. Bei ihm geht es unter anderem um die Berichterstattung über den Tod eines Kölner städtischen Mitarbeiters, der von einem Mann erstochen worden sei, von dem er Geld einzutreiben hatte. Bild nennt das Opfer einen “GEZ-Mann“, obwohl “der Stadt-Mitarbeiter wohl gar keinen ausstehenden Rundfunkbeitrag“ eintreiben wollte. Rosenkranz:
“'Bild‘ will das selbst erfahren haben. Es hält das Blatt trotzdem nicht davon ab, den getöteten Stadt-Mitarbeiter als 'GEZ-Mann‘ zu betiteln, was natürlich eine ganz andere Wucht entwickelt. Die GEZ war bekanntlich verhasst für ihre Hausbesuche, und nun hat also mal jemand zugestochen.“
Ein Vorbild für diese Art der textlichen Etikettierung ist das Symbolbild, dessen Schwächen hinlänglich bekannt sind. Es dient als Hingucker. Inhaltlich aber ist es oft für die Katz (im besten Fall). Oder irreführend (im schlechteren Fall).
Herkunftsnennungsjournalismus
Die Staatsangehörigkeit des mutmaßlichen Kölner Täters (die, wer mag, leicht herausfindet) tut hier, wie in vielen anderen Fällen, in denen die Nationalität von Tatverdächtigen genannt wird, nichts zur Sache. Es ist zwar nicht der Job von Journalisten, etwas zu verschweigen. Es ist aber auch nicht der Job von Journalisten, zu berichten, was “die Leute“ vermeintlich hören wollen. Insofern ist die 2017 erfolgte Änderung der Pressekodex-Richtlinie 12.1 (siehe Altpapier, damals noch bei evangelisch.de) eine Angelegenheit, die man – wohl unbestritten – “umstritten“ nennen kann (anderes Altpapier). Die Richtlinie lautet heute:
“In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse.“
Bis 2017 war, statt von “öffentlichem Interesse“, von einem “begründbaren Sachbezug“ die Rede gewesen.
Wie man vergangene Woche mitbekommen konnte (Altpapier), gibt es nun Zahlen, wie sich im Rahmen der Kriminalitätsberichterstattung die Herkunftsnennung seit der Richtlinien-Änderung 2017 entwickelt hat. Es gab ein wenig Resonanz auf die entsprechende Studie; vor allem am Wochenende aber folgten noch einige Einordnungen:
“Eine Studie der Hochschule Macromedia hat nun ermittelt, wie dankbar die Medien die liberaleren Grundlinien umgesetzt haben“, schreibt Harald Staun auf der Medienseite der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: “Im Rahmen einer Langzeitstudie hat die Hochschule Fernseh- und Zeitungsbeiträge Gewaltkriminalität aus dem Jahr 2019 untersucht und mit den Daten aus den Jahren 2014 und 2017 verglichen.“
Der Anteil der Herkunftsnennungen ist demnach stark angestiegen. In der Expertise von Studienautor Thomas Hestermann gibt es drei maßgebliche Punkte:
- “2019 verweist fast jeder dritte Fernsehbeitrag über Gewaltkriminalität auf die Herkunft der Tatverdächtigen (31,4 Prozent). Gegenüber 2017 (17,9 Prozent) hat sich der Anteil fast verdoppelt. Die überregionalen Tageszeitungen verweisen noch häufiger auf die Herkunft von Tatverdächtigen (44,1 Prozent).
- “Die Herkunft wird meist nur dann erwähnt, wenn die Tatverdächtigen Ausländer sind.“
- Und: “Verglichen mit der Polizeilichen Kriminalstatistik, ergibt sich daraus ein stark verzerrtes Bild: Während die Polizei 2018 mehr als doppelt so viele deutsche wie ausländische Tatverdächtige erfasste, kommen in Fernsehberichten mehr als 8 und in Zeitungsberichten mehr als 14 ausländische Tatverdächtige auf einen deutschen Tatverdächtigen.“
Der Mediendienst Integration, der die Studie vergangene Woche vorgestellt hat, schrieb:
“Die Herkunft wird (…) vor allem dann genannt, wenn die Tatverdächtigen Ausländer sind. 'Die Berichterstattung kehrt die Erkenntnisse der Polizei komplett um‘, schreibt Hestermann. (…) Die Verzerrung der statistischen Daten werde insbesondere am Beispiel sogenannter Messerdelikte deutlich.“
Was schon insofern erwähnenswert ist, als sogenannte Messerdelikte unter der besonderen aufmerksamkeitsökonomischen Obhut gewisser politischer Kräfte stehen: “Das Erste, was sie morgens mache, bekannte AfD-Fraktionschefin Alice Weidel, sei, bei Google nach den Wörtern 'Mann‘ und 'Messer‘ zu suchen“, schreibt Markus Feldenkirchen in seiner Spiegel-Kolumne (€). Aber: “Dass Weidel und Kollegen bei ihrer Mediensuche immer häufiger auf ausländische Straftäter stoßen, liegt nicht daran, dass Migranten immer krimineller würden.“
Sondern eben an einer – nicht im Einzelfall, aber in der Summe – verzerrenden medialen Darstellung. Feldenkirchen meint:
“Ein größeres Zerrbild der Wirklichkeit lässt sich kaum zeichnen. Aus der Kölner Silvesternacht haben viele Medien in vorauseilendem Gehorsam die falschen Schlüsse gezogen. Man wollte der AfD keine neuen Anlässe für Verschwörungstheorien bieten. Doch die Beflissenheit, mit der heute die Herkunft von Tätern hinausposaunt wird, ist die größte Hilfe, die die Partei sich wünschen kann.“
Der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl vertritt eine ähnliche Position, im Tagesspiegel: “Kaum von der Hand zu weisen ist der Verdacht, dass solche Schlagseite Ausländerfeindlichkeit nährt.“
Ich würde Ihnen hier auch andere Meinungen präsentieren, konnte aber im ernstzunehmenden journalistischen Spektrum seit der Veröffentlichung der Studie keine finden. (Meinungen pro Herkunftsnennung standen etwa 2017 im Altpapier.) Am ehesten zur Verteidigung der Nationalitätsnennung tendiert aktuell Russ-Mohl, wenn er schreibt: “Wir sollten auch nicht vorschnell die Journalisten verurteilen: Verschweigen sie die Herkunft bei ausländischen Verdächtigen, heizt das die Gerüchteküche an und führt zu 'Lügen-‚ oder 'Lücken‘-presse-Vorwürfen.“
Ich verstehe sein Argument durchaus. Aber die Frage, die sich zumindest mir aufdrängt, scheint mir eine rhetorische zu sein: Sollen Journalisten ein verzerrtes Bild zeichnen, damit ihnen niemand Lüge vorwirft?
Altpapierkorb (Holger Friedrich, Kalle Ruch, ARD-Jahrespressekonferenz, die Dritten)
+++ Harald Staun hat für die FAS (€) die Stasi-“Opferakte“ von Holger Friedrich gelesen (zuletzt Thema im Altpapier vom vergangenen Donnerstag), bei voller Transparenz über die Umstände: “Am 29. November erhielt Friedrich die Akte von der Behörde und gab sie, außer Birthler und Kowalczuk, auch ein paar Journalisten zu lesen, unter anderem mir.“ Staun schreibt, die Akte sei “für die moralische Bewertung seiner IM-Tätigkeit weitgehend irrelevant, weil sich so ein Urteil nicht aus einer Opfer-Täter-Bilanz ergibt. Ganz abgesehen davon, dass man den Erkenntnissen der Stasi keine Beweiskraft zugestehen kann, ohne ihre Methoden anzuerkennen. Nein, Friedrichs Opferakte ist kein Beweis für seine Unschuld; aber eine Vorgeschichte, die man berücksichtigen muss, ist sie schon.“
+++ Die taz hat mit einer Sonderausgabe ihren langjährigen Geschäftsführer Kalle Ruch in den Ruhestand verabschiedet. Für die Transparenz: Ich habe wenige Zeichen beigesteuert.
+++ Altpapier-Kollege Christian Bartels widmet seine Betrachtungen in der Medienkorrespondenz diesmal der ARD-Jahrespressekonferenz.
+++ Hans Hoff hat die Dritten Programme der ARD gesehen und formuliert bei DWDL eine Idee: “Man könnte die wenigen bemerkenswerten und deshalb erhaltenswerten Sendungen der Dritten ohne Probleme in zwei Stunden am Tag über die Sender bringen.“
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.
Klaus Raab am 17.12.2019
Sehr geehrter FrankSuhl, die Argumente stehen im Text: Die Nationalität der nicht deutschen Tatverdächtigen wird mittlerweile in einem Maß benannt, das die Realität verzerrt. Kurz, der Daniel wird im Verhältnis zu selten benannt. Insofern erübrigt sich Ihre Forderung meines Erachtens. Viele Grüße, KR
FrankSuhl am 16.12.2019
Herkunftsnennungsjournalismus? Keine Argumente?
Schlagen Sie mal x-Beliebiges Altpapier oder digitales "Neuland" aka Onlinemedium auf, und Sie werden Herkunftsnennungsjournalismus (so es denn um Taten zB. in den USA geht) zu Hunderten finden. Namen und Fotos der "Suspects", gerne auch Minderjährig, die routinemäßig von der Polizei veröffentlicht werden. Aber im Inland Beißhemmung? Sind die US-Bürger dem Haltungsjournalisten weniger wert als der hiesige "arabische Messermann"?
Zur angesprochenen Studie: Da steht ein unschlagbares Argument drin.
„Die häufigsten Vornamen der Tatverdächtigen sind Michael, Daniel und Andreas. Im deutschen Fernsehen dagegen heißen die Messerstecher Sayed, Alaa oder Ahmad“, schreibt Hestermann. Handelt es sich um deutsche Gewalttäter, werde die Herkunft in kaum einem der untersuchten Fernseh- und Zeitungsbeiträge erwähnt. "
Die Forderung muss sein, den Alaa genau so zu benennen, wie den Daniel.