Teasergrafik Altpapier vom 13. März 2020: Porträt Autor Ralf Heimann
Bildrechte: MDR / MEDIEN360G

Das Altpapier am 13. März 2020 Wirklich - zu kurz gedacht

13. März 2020, 12:30 Uhr

Der Virologe Christian Drosten zeigt im NDR-Podcast „Corona Update“, wie man in unübersichtlichen Situationen souverän kommuniziert. Falsche Einschätzungen korrigiert er. Doch die Rolle von Journalisten schätzt er nicht ganz richtig ein – und das Medienangebot in Deutschland auch nicht. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Wie man eine falsche Einschätzung korrigiert

Der Virologe Christian Drosten hat am Donnerstag im NDR-Podcast „Corona Update“ etwas ziemlich Außergewöhnliches gemacht. Er hat einen Fehler zugegeben. Er hat eingestanden, dass er eine Situation falsch eingeschätzt hat. Dann hat er die Information korrigiert und seine neue Einschätzung begründet. Er sagt: 

Ich hab da wirklich (…) gestern zu kurz gedacht.

Um kurz zu erklären, worum es geht: Am Mittwoch hatte Drosten in der vorherigen  Podcast-Folge gesagt, wenn man die Schulen schließen würde, um die Corona-Verbreitung zu verlangsamen, würde man das Problem damit nur verlagern, denn dann träfen die Kinder sich eben privat. Nun korrigiert Drosten,

dass in sozialen Netzwerken Schüler Brückenfunktionen ausüben zwischen verschiedenen Altersgruppen, also Ältere und Jüngere beschäftigen sich mit Schülern, und mein Argument, das ich gestern gebracht habe: Na ja, die Schüler treffen sich dann zum Daddeln sowieso, das hinkt, weil dieses Daddeln, das findet zwar statt, aber das sind kleinere und redundantere Kontaktkreise, also Kontaktkreise, wo immer wieder derselbe denselben trifft, und man kann sich ja nur einmal infizieren.“

Die Faktenlage ändert sich, damit sieht plötzlich alles anders aus. Alte Einschätzungen stimmen nicht mehr. Wie geht man damit um?

In einer Ausnahmesituation wie der gegenwärtigen passiert so etwas jeden Tag. Ich selbst zum Beispiel hätte Anfang März nicht für möglich gehalten, was zwei Wochen später in Deutschland los sein würde, obwohl ich es hätte wissen können. Ich habe die Corona-Epidemie mit der Grippe verglichen, auf Basis dessen, was ich wusste. Inzwischen sehe ich: Das war nicht viel. Die Situationen sind nicht vergleichbar.

Natürlich ist es immer besser, sich die Dinge erst einmal gründlich anzusehen, bevor man sich äußert. Und in meinem Fall wäre das sicher möglich gewesen. Aber im täglichen Journalismus ist es das oft nicht. Die Lage ist meistens unübersichtlich. Journalisten sehen nur einen Ausschnitt. Trotzdem ist der übliche Weg, mit falschen Einschätzungen umzugehen, sie einfach nicht mehr zu erwähnen und neue zu formulieren, als wäre man immer dieser Ansicht gewesen. Wenn Redaktionen faktische Fehler machen, die sich nur schwer leugnen lassen, ringen sie sich manchmal zu einer Korrekturmeldung durch. Bei Einschätzungen passiert das in der Regel nicht. 

Wie das in der Praxis aussieht, hat Boris Rosenkranz in einem Tweet dokumentiert. Vor einem Monat zitierten die „Bild“-Medien einen Chefarzt („Chefarzt spricht Klartext“) mit der Aussage:

„Corona auf keinen Fall gefährlicher als Influenza.“

Am Mittwoch sah das plötzlich ganz anders aus:

„Der zweite Fakt ist, dass diese Krankheit viel tödlicher ist als die Grippe, mit der naive Politiker und schlecht informierte Journalisten sie noch immer vergleichen.“

Dass Journalisten sich so verhalten, hat strukturelle Gründe. Falsche Einschätzungen sind im Rückblick Fehler und damit Makel für die eigene Reputation. Aber sie sind keine Ausnahme, sie sind der Normalfall. Um anders mit ihnen umgehen zu können, wäre jedoch ein anderes Verständnis nötig. Journalisten denken, wie sie arbeiten – von Beitrag zu Beitrag. Sie vermitteln den Eindruck dass ihr Werk bei der Veröffentlichung eine vollständige Darstellung wäre. Müssen sie einen alten Beitrag korrigieren, erscheint es, als hätte sie unsauber gearbeitet (was möglicherweise so ist, aber nicht so sein muss).

Christian Drosten sagt in seinem Podcast, er wisse nicht alles, er lese jeden Tag, er erfahre jeden Tag Neues. Damit macht er seine Arbeitsweise transparent. Nach diesem Verständnis kommt nie der Punkt, an dem alles richtig ist, weil sich im nächsten Moment schon etwas ändern kann. Daher ist eine Korrektur auch keine Schande. Das Verstehen und Erklären ist hier kein Prozess, der mit der Veröffentlichung endet, sondern einer, der sich dem Ziel, die Wirklichkeit darzustellen, immer weiter annähert, ohne es jemals erreichen zu können.

Es gibt dazu ein schönes Zitat des Ökonomen John Maynard Keynes, das lautet:

„When the facts change, I change my mind. What do you do, Sir?"

Allerdings habe ich gerade noch mal nachgesehen. Bei Wikiquote steht: Genau so hat er das wahrscheinlich nie wirklich gesagt.

Falsche Fragen und falsche Perspektiven

Weiter mit der Christian-Drosten-Sonderedition des Altpapiers heute. In einem Interview mit dem NDR-Medienmagazin „Zapp“ hat Drosten Journalisten kritisiert, allerdings nicht Journalisten generell, sondern vor allem die politischen.

„Ich finde es nicht nur neutral, sondern ich finde es kontraproduktiv, wie politische Journalisten im Moment fragen. Ich beispielsweise habe es als Zeitverschwendung empfunden in der Bundespressekonferenz, als politische Journalisten ständig gefragt haben, was denn jetzt mit dem CDU-Parteitag ist - oder immer wieder so auf so eine stichelnde Art und Weise über Fußballspiele anfingen, wo es doch so viele eigentlich inhaltliche Informationen zu transportieren gibt an so eine breite Presseveranstaltung. Und diese Zeit ist einfach nicht genutzt worden.“

Das ist die Perspektive des Mediziners. Und einerseits hat Drosten recht, andererseits aber auch nicht. Die Begründung liefert er in der zwölften Folge des Corona-Update-Podcasts selbst, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Dort sagt er mit Blick auf Politiker, die Perspektive der Wissenschaftler sei natürlich eingeschränkt.

Recht hat Drosten damit, dass das Ziel, möglichst viele Leben zu retten, zurzeit die größte Priorität hat. Doch dann wird es kompliziert, denn die Annahme, dass Journalisten seine Gewichtung übernehmen und genau die Fragen stellen müssen, die er für wichtig hält, ist falsch, wenngleich seine Einschätzung zu den von ihm gewählten Beispielen zu verstehen ist.

Auf den ersten Blick sind die medizinischen Fragen wichtig und die zu leeren Fußballstadien unwichtig. Es ist der alte Dissens zwischen Journalisten und Wissenschaftlern. Wissenschaftler möchten am liebsten pure Informationen transportieren und haben oft wenig Verständnis, wenn Journalisten auch vermeintliche Nebensächlichkeiten vermelden. Journalisten schauen aus unterschiedlichen Gründen auch auf die Aspekte, die für Menschen interessant sind, denn nur so können sie sich im Wettbewerb um Aufmerksamkeit durchsetzen. Wenn man so will, können sie nur auf diese Weise überhaupt Menschen erreichen, um sie zu informieren.

So gesehen ist theoretisch sogar der Fall denkbar, dass es im Sinne des Mediziners Drosten wäre, wenn Journalisten die medizinischen Aspekte, die er für wichtig hält, gar nicht erwähnen. Die Signalwirkung der Nachricht, dass alle Fußballspiele und der CDU-Parteitag ausfallen, bringt möglicherweise mehr Menschen dazu, die Öffentlichkeit zu meiden und sich vorsichtig zu verhalten, als die Informationen, dass sich das Virus durch Niesen oder Handkontakt übertragen lässt.

Hinzukommt, dass die medizinischen Fragen sich aus dem Ganzen nicht einfach herauslösen lassen. Wirtschaftliche Folgen mögen im Moment angesichts der vielen zu erwartenden Todesfälle nicht ganz so wichtig erscheinen. Wenn die gesellschaftliche Ordnung in Gefahr gerät, weil die Wirtschaft zusammenbricht, kann allerdings auch das über Umwege dazu führen, dass Menschen sterben.

Gute Adressen für Wissenschaftsjournalismus

Nachdem wir Christian Drosten eingangs sehr gelobt haben, müssen wir nun noch einmal kritisieren. In dem schon erwähnten „Zapp“-Interview äußert er sich auch zum  Wissenschaftsjournalismus und zu Bezahlmodellen von Tageszeitungen in Deutschland.

Zum einen sagt er:

„Was wirklich gut an den deutschen Medien ist, dass wir noch Tageszeitungen haben, die sich Wissenschaftsredaktionen leisten.“

Und er sagt:

„Ich glaube aber, dass wir im Moment da aber auch vielleicht an einem Bezahlmodell arbeiten müssen. Denn wir haben eine wirklich interessierte Bevölkerungsschicht in Deutschland, gebildete Leute, die gerne viel lesen würden, und die auch dann in ihrer Umgebung Multiplikatorfunktionen auslösen. Und die machen aber die Erfahrung, wenn ich das jetzt alles lesen will in den großen überregionalen Zeitungen, dann muss ich die jeweils abonnieren, und zwar alles, nicht nur diese Berichterstattung, sondern die gesamte Politikberichterstattung, alles andere. Und ich kann das ja nicht alles lesen. Was ich lesen will, ist speziell das, was die Wissenschaftsredaktion schreibt, und zwar mehrere Wissenschaftsredaktionen.“

Das ist beides richtig, aber unvollständig. Es ist gut, wenn sich Tageszeitungen Wissenschaftsredaktionen leisten. Doch Zeitungen sind nicht das einzige leicht zugängliche Informationsangebot, wenn es um Wissenschaftsjournalismus geht. Und: Es wäre im Sinne vieler Menschen, wenn es eine Art Spotify für die überregionalen Zeitungen, Zeitschriften und Magazine geben würde. Damit benennt Drosten intuitiv ein Problem, das existiert. Aber wenn er einen Überblick über die bestehenden Angebote hätte, würde er seine Einschätzung wahrscheinlich korrigieren.

Hier ein paar Vorschläge:

Der Zeitungskiosk Blendle verkauft einzelne Zeitungsartikel aus überregionalen Medien wie der SZ, der FAZ oder dem Spiegel. Es ist möglich, sich durch Alerts über Veröffentlichungen von bestimmten Autoren oder zu bestimmten Themen benachrichtigen zu lassen. Wie Sie vielleicht gesehen haben, nutzen wir den Dienst hier gelegentlich auch im Altpapier.

Der Dienst Readly bietet mit Titeln wie Spektrum der Wissenschaft, Bild der Wissenschaft oder Wissen gleich mehrere Magazine zu einem Preis. Wer dennoch zweifelt, kann ein kostenloses Probeabo abschließen. 

Ein in Deutschland nicht ganz so bekannter Dienst ist Pressreader. Über einen Browser oder die Pressreader-App bekommen Nutzer Zugang zu etwa 7000 internationale Zeitungen und Magazinen, darunter genau 311 aus dem Bereich Wissenschaft. Man findet auch Titel wie den Tagesspiegel, den Guardian oder die Washington Post. Und ganz interessant: Viele deutsche Bibliotheken und Stadtbüchereien bieten einen kostenlosen Zugang an. Ob das auch in Ihrer Stadt möglich ist, können Sie auf dieser Seite nachsehen.

Dazu gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Adressen zum Wissenschaftsjournalismus, teilweise kostenlose. Ich selbst folge bei Twitter auch einzelnen Journalisten, etwa dem Spektrum-Redakteur Lars Fischer, der auch zur Corona-Epidemie hervorragende Beiträge liefert, wie im Übrigen das Magazin generell. Bei Twitter habe ich gestern Abend die Frage gestellt, wo man darüber hinaus guten Wissenschaftsjournalismus findet. Ein paar Tipps finden Sie in diesem Thread. Vielleicht haben Sie ja auch noch einen. 

Altpapierkorb (Rundfunkbeitrag, Minecraft und Pressefreiheit, Bundesliga, NetzDG)


+++ Der Rundfunkbeitrag soll zum 1. Januar 2021 um 86 Cent steigen. Das hatte die den Finanzbedarf der Länder ermittelnde KEF-Kommission vorgeschlagen. Die Länderchefs haben das nun am Donnerstag bei einem Treffen in Berlin einstimmig abgenickt, schreibt unter anderem Joachim Huber für den Tagesspiegel. Jetzt müssen alle 16 Länderparlamente dem Beschluss zustimmen.

+++ Christian Meier hat für die Welt mit dem Staatsrechtler Christoph Degenhart über den Rundfunkbeitrag und über Möglichkeiten gesprochen, die öffentlich-rechtlichen Sender zu reformieren. Meier fragt zum Beispiel, ob man den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht einfach für die digitale Welt komplett neu planen könnte. Degenhart: „Nun, ARD und ZDF könnten beispielsweise aus meiner Sicht sehr wohl zusammengelegt werden, das wäre wohl auch verfassungsrechtlich zulässig. Doch täuschen Sie sich nicht, so groß wäre das Einsparpotenzial vielleicht auch gar nicht. Ein erheblicher Teil des Budgets geht beispielsweise für Altersrückstellungen drauf (….).

+++ Die Organisation Reporter ohne Grenzen hat im Computerspiel Minecraft eine Bibliothek mit Texten eingerichtet, auf die man in Ländern ohne Pressefreiheit sonst nicht zugreifen könnte. Das berichtet unter anderem der Spiegel. Das Computerspiel ist in vielen dieser Länder nicht verboten. Ganz unproblematisch ist das Angebot allerdings nicht, weil Betreiber von Minecraft-Servern die Bibliothek erst hochladen müssen, um sie bereitzustellen. Auch das könnte ihnen zum Verhängnis werden.

+++ Der Bezahlsender Sky überträgt die Bundesliga an zwei Spieltagen gratis. Caspar Busse erklärt auf der SZ-Medienseite, warum dahinter auch eine strategische Erwägung stehen könnte. Spoiler: Der Sender ist bei der Vergabe der Rechte für die Champions League leer ausgegangen und könnte nun mit Blick auf die Bundesliga-Rechte-Auktion 2021/22 ein bisschen Werbung für sich machen wollen.

+++ Das liebevoll Netz-DG genannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz soll Hass im Netz eigentlich eindämmen. Der Medienrechts-Professor Wolfgang Schulz befürchtet, dass es tatsächlich die Meinungsfreiheit in anderen Ländern gefährden könnte. Zur Möglichkeit, das Gesetz für die Beschränkung von Meinungen einzusetzen, sagt er im Interview mit Raphael Markert für die SZ-Medienseite: „Man darf nicht unterschätzen, welchen Einfluss es hat, wenn sich Regierungen darauf beziehen können, dass es ein solches Gesetz auch in Deutschland gibt. Deutschland hat international einen exzellenten Ruf in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Befolgung der Menschenrechte. Dabei fällt unter den Tisch, dass in den genannten Ländern die Gerichte nicht so frei sind wie hier und die Regierungen repressiver vorgehen.“

+++ Nina Rehfeld berichtet auf der FAZ-Medienseite (55 Cent bei Blendle) über den Schauspieler Jussie Smollett, der vor einem Jahr von dem Vorwurf freigesprochen wurde, einen Angriff aus rassistischen und homophoben Motiven gegen sich inszeniert zu haben, und der nun erneut vor Gericht steht. Vorgeworfen wird ihm, bei der Polizei falsche Aussagen gemacht zu haben.

Neues Altpapier gibt‘s wieder am Montag. Schönes Wochenende!

0 Kommentare