Teasergrafik Altpapier vom 12. Mai 2020: Porträt Autor Klaus Raab
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Das Altpapier am 12. Mai 2020 Je Dezibel, desto Medienpräsenz

12. Mai 2020, 10:49 Uhr

Der ARD-Vorsitzende wird zu Beitragserhöhungen befragt, der RTL-Inhaltechef darf dagegen auch seine Lieblingsplatte vorstellen. Die YouTuber von Ultralativ nehmen sich das Phänomen der "falschen Gleichgewichtung" vor. Und eine Studie zeigt, dass die deutsche Journalismusbranche personell "weit davon entfernt" ist, die gesellschaftliche Realität abzubilden. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Inwiefern ist Leise das neue Laut?

Die Debatte um die Rundfunkbeitrag geht weiter - mit einem Brief einiger Unionsabgeordneter an die Ministerpräsidenten, um eine Erhöhung um 86 Cent zu verhindern. Der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow hat ein anderes Interesse. Er hat der FAZ ein großes Interview gegeben. Es geht um viel – von A wie Altersversorgung (deren Leistungen "beruhen auf tariflichen Vereinbarungen. Hier haben wir nicht das Recht, ‚weniger zu überweisen‘") über B wie in Plan B ("Nach elf Jahren ohne Beitragserhöhung brauchen wir jetzt diese moderate Anpassung. Ich gehe deshalb nicht von einem Plan B aus") und L wie Live-Rechte ("Die Live-Rechte für die Bundesliga liegen beim Pay-TV und es gibt keine Verhandlungen mit Sky über eine Änderung") bis Z wie Zuspruch.

Und nichts gegen solche Experteninterviews. Muss ja. Aber die besten Passagen in Interviews mit ranghohen Medienleuten sind doch die, in denen sie glaubhaft zu versichern verstehen, dass sie Mensch geblieben sind. Ich fand es schön, als Tom Buhrow einst der dpa sagte: "Ich schwöre: Ich habe nie ein Haarteil getragen! Das Geheimnis lautet: Mildes Licht." Ich war dankbar, von Friede Springer im Interview (€) mit der Süddeutschen Zeitung zu erfahren, dass sie zum Frühstück gerne Müsli esse (Altpapier). Und Stephan Schäfer, der Chief Content Officer der Mediengruppe RTL Deutschland, kurz: RTL-Inhaltechef, hat nun Horizont ein Interview gegeben und darin das Album "Quiet Is The New Loud" von den Kings of Convenience empfohlen.

Dieses Album ist im Frühjahr 2001 erschienen, es ist also schon etwas älter, was aber nicht schlimm ist; Schäfer arbeitet ja nicht bei ProSiebenSat.1, wo die "Mitarbeiter jeden Tag dahin" sollen, "wo sie noch nie waren – in die Zukunft". Ich frage mich nur, ob es stimmen kann, was Stephan Schäfer über den Albumnamen sagt: "Der Titel passt doch zur Zeit." Inwiefern genau passt "Quiet Is The New Loud" zur Zeit?

Mein Gefühl sagt, dass Laut derzeit besonders viel lauter ist als Leise. Die Formel scheint mir sogar ziemlich einfach: Je Dezibel, desto Medienpräsenz.

Die nötige Sensibilität für falsche Gleichgewichtung

Früher mussten angehende Medienjournalistinnen und -en lernen, wie man IVW-Zahlen liest. (Vom Aussterben bedrohte Merksätze: "Vergleiche die Auflagezahlen des dritten Quartals nie mit denen des zweiten, sondern stets mit denen des vorjahrsdritten!"). Heute gehört der Blick für False Balancing zum noch notwendigeren Handwerkszeug.

Das sagen jedenfalls die Leute von Ultralativ, die es ganz sicher wissen müssen, sonst hätten sie ja wohl keinen eigenen YouTube-Kanal für Medienfachbetrachtungen. (Kleiner Scherz, sie könnten auch als irgendwelche Hanswürste einen Kanal starten, aber sie haben einfach trotzdem Recht.) Es geht in ihrem neuen Video um dieses False Balancing, zu deutsch: Falsche Gleichgewichtung. Ihre Definition:

"Eine öffentliche Diskussion gleicher Verhältnisse mit einer Person, die einen Standpunkt vertritt, der bei Weitem kein ebenbürtiges Verhältnis hat, ist falsche Gleichgewichtung, und lässt völlig unabhängig von dem Ausgang der Diskussion die Unterzahl größer und legitimer wirken, als sie eigentlich ist."

Sie stellen erstaunt fest, dass das deutsche Suchwortpaar "Falsche Gleichgewichtung" keine ernstzunehmenden Ergebnisse bei YouTube zeitigt. Man findet darunter tatsächlich praktisch nur das neue Ultralativ-Video. Mit dem Suchpaar "Falsche Ausgewogenheit" verhält es sich nur geringfügig anders. Und den Wikipedia-Eintrag zum Thema hat auch erst am Montag jemand angelegt, kurz nach der Veröffentlichung des Videos.

Was die Ultralativ-Macher sagen wollen, ist klar: Man findet auf YouTube praktisch jeden Unsinn –"Ich hab’ da mal einen nichtvirologischen Arzt in einem schlecht ausgeleuchteten YouTubeVideo gesehen, der ist da ganz anderer Meinung" –, aber nicht zwangsläufig auch jeden Nicht-Unsinn. Was schon deshalb ein Problem ist, weil der eine oder andere seinen Medienkonsum weitgehend auf YouTube beschränkt.

Wobei YouTube natürlich als Verblödungsmaschine nicht angemessen beschrieben ist, auch jetzt nicht, da dieser ganze Corona-Verschwörungsbullshit so gern herumgereicht wird. Seit Rezo scheint sich durchaus eine differenzierte Betrachtung von YouTube-Inhalten durchzusetzen. Auf den "Geld&Mehr"-Seiten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (die allerdings kein gutes Beispiel für Starrköpfigkeit gegenüber Internetzeug ist) war am Wochenende in einem größeren Text über YouTube (0,55 € bei Blendle) zum Beispiel von Fitnessvideos, Kirchenvideos, Politikervideos, Entertainervideos und Schulvideos die Rede. Dass es auch "allerlei Falschmeldungen und Verschwörungstheorien" gibt, ist freilich unstrittig, weshalb "der Konzern" mehr denn je "damit beschäftigt" sei, "'fake news' von seiner Plattform fernzuhalten."

Die Aufwertung von Verschwörungstheorien

Es geht trotzdem nicht um ein YouTube-Problem, sondern um eine nicht auf eine Plattform beschränkte Repräsentations- und Themenabbildungsfrage. Es geht generell um die Aufwertung von Herumgemeine, das manchmal nur unfundiert ist, oft aber auch böswillig falsch. Sebastian Leber fasst nach u.a. einer Mailkorrespondenz mit Leserin Marion K. die Effekte im Tagesspiegel kommentierend zusammen:

"Verschwörungsgläubige verdienen kein Mitleid, sondern entschiedene Ablehnung. Es heißt, man müsse ihre Sorgen ernst nehmen, ihnen auf Augenhöhe begegnen. Doch sie werten jede Diskussionsbereitschaft als Zugeständnis ihres Gegenübers und Anerkennung, ja als Indiz dafür, ihr Unsinn wäre eine akzeptable Position. 'Auf Augenhöhe diskutieren' bedeutet hier, dass beide Seiten ihre Argumente vortragen und am Ende stolz sind, dass sie wenigstens im Gespräch waren. Das führt zu 'false balance' – einer Fehlannahme, die Außenstehende im schlimmsten Fall glauben lässt, die Wahrheit liege schon 'irgendwo in der Mitte'. Das tut sie nicht."

Ben Krischke rät Journalisten in einem Kommentar bei Meedia dagegen, nicht in "die Pegida-Falle" zu gehen. Er betreibt quasi eine False-Balance-Betrachtung von einer anderen Richtung: Wenn man die Verschwörungstheoretiker-Aktionen aufgreife, müsse man auch thematisieren, dass nicht nur Extremisten demonstrierten. Er schreibt: "die Berichterstattung über die Regierungskritik fokussiert sich vermehrt auf die 'Hygiene-Demos' oder die Gruppierung 'Widerstand2020' und in diesem Rahmen auf die Extreme, die dort (auch) anzutreffen sind. Journalisten müssen nun aufpassen, dass die Folgen ihrer Berichterstattung nicht die gleichen sind wie einst bei Pegida: Wer pauschal runterschreiben will, der schreibt mitunter nämlich hoch – und reißt neue Gräben auf, wo gar keine sein müssten."

Noch mehr zum Thema steht im Altpapierkorb.

Eine neue Studie zu Diversity im Journalismus

Die Frage nach der angemessenen Gesellschaftsrepräsentation bleibt Corona-unabhängig aktuell. Der Verein "neue deutsche medienmacher*innen" (NdM) hat einen 68-seitigen Bericht vorgelegt, "Viel Wille, kein Weg – Diversity im deutschen Journalismus". "Schwerpunkt der Untersuchung ist dabei das Thema Migrationshintergrund, andere Aspekte von Diversität klingen eher am Rande an", schreibt etwa die Süddeutsche Zeitung.

Aufmerksamkeit wird dem Bericht durchaus zuteil; ein Aspekt, der im Titel des Berichts schon anklingt. Der Tagesspiegel schreibt:

"Der Wille scheint da zu sein: Nicht einmal zehn Prozent der befragten Führungskräfte lehnten redaktionelle Diversität als Ziel ab (…). In Gesprächen mit der WDR-Integrationsbeauftragten und den Chefredakteuren von ZDF, Welt, dpa und Märkischer Oderzeitung zeigte sich auch ein teils hohes Problembewusstsein der Chefs für die auch soziale Gleichförmigkeit ihrer Redaktionen (…)."

Allein: "Anders sieht es mit konkreten Maßnahmen aus."

Ernüchternd seien die Zahlen vor allem für die Besetzung der "Chefetagen der Massenmedien" seien, so der Tagesspiegel. Dort, "folgern die NdM, sei Deutschland noch immer kein Einwanderungsland – 'nach immerhin sechs Jahrzehnten Arbeitsmigration aus den Mittelmeerstaaten und mehr als vier Jahrzehnten Fluchtmigration nach Deutschland'."

Besonders prägnant in der Aussage ist die taz, die das Thema konsequent besetzt: "Die deutsche Journalismusbranche ist weit davon entfernt, die gesellschaftliche Realität abzubilden", schreibt Erica Zingher. Sie findet aber weniger die Ergebnisse "erschreckend" – die seien nicht überraschend –, als

"dass es bislang wenig bis keine validen Untersuchungen und Zahlen gab, die Aufschluss über die Zusammensetzung von Redaktionen hätten geben können. Hier zeigt sich etwas, das im Zusammenhang mit Diskriminierungsstrukturen häufig auftritt. Untersucht wird eben meist, wer den Untersuchenden am nächsten ist. Das ist in Deutschland immer noch eine weiße, deutsche Mehrheit ohne Einwanderungsgeschichte. Der Tenor war lange Zeit: Weshalb sollte man sich um etwas bemühen, das einen selbst nicht betrifft?"


Altpapierkorb (Jerry Stiller, KKR, mehr aus dem Feld Corona/Verschwörungstheorien)

+++ Die Zugänge zum Thema Corona-Verschwörungstheorien sind vielfältig. Weitere Fragen, die – neben den oben genannten – verhandelt werden:

Wie die Öffentlich-Rechtlichen auf sie reagieren können. Auch für ARD/ZDF/Deutschlandradio ändert sich in der Dynamik der Pandemie ja die Lage (siehe auch Altpapier vom Donnerstag). Sebastian Leber schreibt: "Am Anfang der Pandemie explodierte die Nachfrage nach verlässlichen, von etablierten Institutionen geprüften Nachrichten. Die 'Tagesschau' erreichte 17 Millionen Zuschauer, das entsprach einem Marktanteil von fast 60 Prozent. Doch je länger der Kampf gegen die Pandemie dauerte, je beschwerlicher er schien und in je weitere Ferne sein Ende rückte, desto attraktiver wurden einfache Antworten und klare Schuldige."

Und wie man die Theorien bezeichnen sollte. Stefan Fries lehnt bei @mediasres im Sprachcheck den Begriff "Verschwörungstheorie" ab: Es handle sich nicht um Theorien, sondern um "unbelegte Erzählungen, deren Wahrheitskern erst mal ungeprüft ist – um Ideologien, die keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhalten – oder um Mythen, bei denen erfundene Gruppen am Werk sind".

+++ Jerry Stiller ist 92-jährig gestorben, Darsteller in "Seinfeld" und "King of Queens". Neben Meldungstexten gibt es Nachrufe (SZ, zeit.de).

+++ Das Handelsblatt berichtet, der Investor KKR kaufe rund fünf Prozent der Anteile an ProSiebenSat.1. Zwischen 2006 und 2014 war KKR dort schon einmal Aktionär.

Neues Altpapier erscheint am Mittwoch.

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