Teasergrafik Altpapier vom 15. Mai 2020: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 15. Mai 2020 Die Trafficwelle des Verschwörungscontents

15. Mai 2020, 12:45 Uhr

Verschwörungserzählungen schmiegen sich aktuell smooth in die öffentlichen Aufmerksamkeitsmechanismen ein. Wie können Redaktionen damit umgehen, ohne kruden Behauptungen noch mehr Raum zu geben? In der Diskussion über eine differenzierte Berichterstattung über Demos gegen die Corona-Maßnahmen liegt der Ball nicht allein im Feld von Journalist:innen. Auch Demonstrant:innen sind mitverantwortlich für das Bild, das von ihnen gezeichnet wird. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Diskursives Deplatforming von Verschwörungsideologen

Eines der präsentesten Themen dieser Kolumne war in der laufenden Woche die Diskussion über Verschwörungserzählungen und ihre Verknüpfung mit den aktuellen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen. Was die mediale Diskussion prägt, prägt in der Regel auch unsere Medienkolumne, klar. Aber wie viel Raum sollte dem Thema vernünftigerweise in der journalistischen und metamedienjournalistischen Auseinandersetzung gegeben werden? Oder wird damit all diesen absurden Erzählungen nur noch mehr Raum freigeboxt?

An diesem Paradox haben wir uns schon in verschiedensten Themenfeldern abgearbeitet: Mit Blick auf Provokationen und Aufmerksamkeitshacks durch populistische Politiker:innen, der Frage, ob redaktionelle Medien die AfD hochgejazzt haben, die Verbreitung von Falschinformationen.

Samira El Ouassil widment sich dieser Zwickmühle in ihrer lesenswerten "Wochenschau" bei Übermedien. Was die angesprochenen Verschwörungserzählungen zu Covid-19 und eine mediale Angst vor "verschwörerischen Lagerbildungen" angeht, rät sie "den Ball gerne so flach [zu] halten wie im besten Fall die virale Kurve" und weist auf Diskrepanzen zwischen Medienrealität und repräsentative Umfragewerten hin, die Deutschland aktuell hohe Werte bei der Zuversicht künftigen Herausforderungen gegenüber und beim Wissenschaftsvertrauen bescheinigen. Dennoch erreichten Verschwörungserzählungen eine mediale Relevanz – auch wegen des "diskursiven Dagegenhaltens".

"Im Zusammenspiel mit den notwendigen Gegenstimmen zu solchen Aussagen, schaukeln sich derartige krude Verschwörungsschwurbeleien in den Spiralen der Aufmerksamkeitsökonomie hoch, bis ein Kipppunkt erreicht ist, der aus vielen Fliegen, die in den Berichterstattungen vielleicht nur einen Tag überlebt hätten, einen raumfüllenden Elefanten machen. (…) Weil sich genügend Leute über diesen Unsinn wundern, aufregen oder mokieren, entsteht eine Art Potemkinsches Dorf, durch das eine scheinbar ebenso bedeutsame Masse an Widerständigen marschiert."

Das Phänomen ist so problematisch und imho auch ein für den Medienjournalismus unvermeidliches Thema, weil Verschwörungserzählungen sich aktuell so wunderbar in Aufmerksamkeitsmechanismen und letztendlich auch journalistische Nachrichtenwert-Kriterien einschmiegen: Verschwörungserzählungen erleben in Deutschland Aufwind, sind damit neu, gefühlt viel näher als man sie sonst bei irgendwelchen Spinnern in den USA vermutete.

Die Ideologien von einer Neuen Weltordnung, geplanter Dezimierung der Weltbevölkerung, Zwangsimpfung, Kontrolle durch eingepflanzte Chips und was da noch so alles umherwabert sind kurios, extrem, bergen viel Konfliktpotenzial und Dramatik, erzeugen Gefühle wie dankbare Zustimmung oder vehemente Ablehnung – vor allem in Krisenzeiten. Auch die Tragweite ist wegen einer befürchteten Spaltung der Gesellschaft erheblich. Durch Prominente, die diese Schwurbeleien teilen, lässt sich das Thema leicht personalisieren und erhält wegen der Bekanntheit dieser Akteure weitere Aufmerksamkeit. E-Ouassil kommt deshalb zu der Überlegung:

"Ein journalistischer Trick könnte daher sein, ihre Aussagen genauso zu behandeln wie die Kommentare von Privatpersonen, um hier ganz bewusst den Nachrichtenwert der Prominenz auszuhebeln."

Puh, könnte mal jemand den Funkes, Springers, und all den Websites beliebigestadt24.de durchstechen. El Ouassil fordert außerdem die "nachrichtliche Selbstbeherrschung"

"diese Gruppen und Personen nicht stattfinden zu lassen – ohne sie komplett zu verdrängen: also ein wachsames diskursives Deplatforming zu Gunsten einer leisen Mehrheit voller Zuversicht."

Verschwörungs-Vokabeln

Ein komplettes Ignorieren wäre wohl ebenso fahrlässig wie ein Reiten auf der Trafficwelle des Verschwörungscontents. Darauf weist auch die Politikwissenschaftlerin, Netzaktivistin und Autorin Katharina Nocun hin. Heute erscheint ihr gemeinsam mit der Sozialpsychologin Pia Lamberty veröffentlichtes Buch "Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen". Im Interview mit der Schweizer Wochenzeitung plädiert Nocun mit Blick auf die Demos gegen die Corona-Maßnahmen für Differenzierung (siehe auch Altpapier gestern) und Wachsamkeit:

"Während in einigen Städten Rechtsextremisten die Demonstrationen fluten, nehmen in anderen eher Leute aus dem esoterischen Umfeld teil. Auch sie können Verschwörungsideologien vertreten, aber das ist eine ganz andere Nummer als ein strammer Reichsbürger, der glaubt, Deutschland sei eine GmbH. (...) Das Zusammenwachsen von diesen Milieus ist ein neues Phänomen, das wir sehr genau beobachten müssen. Es gibt aber auch Menschen, die zu den Demos gehen, weil sie einfach nur über das Agieren der Politik verärgert sind, und mit diesen Gruppen nichts zu tun haben."

Das sei notwendig und legitim. Bei diesen Demonstrant:innen sieht Nocun allerdings auch eine Verantwortung, sich klar von Rechten und Verschwörungsideologen abzugrenzen. Zwar könne man bei der Anmeldung einer Demonstration kaum kontrollieren, wer dann letztendlich teilnehme, sagte Nocun bei SWR aktuell. Man könne aber eine gemeinsame Erklärung unterzeichnen, Rechtsextremisten Hausverbot erteilen und das gemeinsam mit der Polizei umsetzen.

Medien müssen an dieser Stelle sicherlich genau hinschauen. Wenn aber von Demonstrantenseite keine aktive Abgrenzung stattfindet, kann man auch nicht erwarten, in der Berichterstattung komplett unabhängig von Extremisten besprochen zu werden.

In ihrem Buch liefern Nocun und Lamberty außerdem Differenzierungen was Begrifflichkeiten angeht, die auch für Medienmenschen sinnvoll wären. Den Ausdruck "Verschwörungstheorie" vermeiden sie,

"da man hierbei nicht von Theorien im wissenschaftlichen Sinn sprechen kann. Eine Theorie ist eine wissenschaftlich nachprüfbare Annahme über die Welt. Wenn sich diese als falsch herausstellt, wird sie auch wieder verworfen. Die Verschwörungserzählung zeichnet sich aber eben genau dadurch aus, dass sie sich der Nachprüfbarkeit entzieht. Egal wie viele Gegenbeweise es gibt, der Verschwörungsideologe beharrt auf seiner Meinung. Kritikwürdig ist außerdem, dass bei der Nutzung des Theoriebegriffs jede noch so verrückte Idee als Theorie ausgewertet werden würde." (S. 21)


Altpapierkorb (Maßnahmen gegen Fakes, Pandemie-Auswirkungen auf den Journalismus, Sparmaßnahmen beim NDR, Correctiv startet Jugendredaktion)

+++ Jokos und Klaas‘ gegen ProSieben gewonnene "15 Minuten"sind mal wieder viral gegangen – mit einer Sendung über sexuelle Belästigung gegen Frauen im Netz und im analogen Alltag. U.a. FAZ, Tagesspiegel und Süddeutsche loben die Sendung vom Mittwochabend. In der FAZ wirft Elena Witzek allerdings auch ein: "Man hätte sich noch mehr Raum für solche Frauen gewünscht, die aus anderen Lebenswelten berichten, andere Hautfarben haben, eine andere sexuelle Orientierung oder eine körperliche Beeinträchtigung (da wird die ungefragte Ansprache der Männer nämlich besonders ekelhaft). Aber das wäre dann vielleicht doch etwas zu rebellisch geraten für einen ProSieben-Sendeplatz." Eine andere Frage ist auch: Warum braucht es Joko und Klaas, um diesen Missstand, mit dem Frauen täglich konfrontiert werden, so prominent in die Primetime zu tragen? Bei den Öffentlich-Rechtlichen (unter deren Dach auch diese Kolumne erscheint) werden entsprechende Dokus oft spätnachts gesendet.

+++ Welche Maßnahmen könnten Social-Media-Plattformen gegen Fakes ergreifen und wo wird es eher kontraproduktiv für die freie Meinungsäußerung? Diesen Fragen geht Christoph Sterz bei Deutschlandfunks "@mediasres" nach.

+++ Wie sollte man mit Verschwörungsgläubigen umgehen, fragt Daniel Laufer bei netzpolitik.org verschiedene Expert:innen. Sabine Riede von Sekten-Info NRW rate etwa, "danach zu fragen, woher die Informationen stammen und sie zusammen aufzurufen, auch über die Quellen zu sprechen. Dazu gehört unter Umständen auch sich anzusehen, welche Inhalte auf der entsprechenden Website oder auf dem YouTube-Kanal darüber hinaus zu finden sind. Aus dem Zusammenhang kann den Angehörigen dann klar werden, dass sie einer Lüge aufgesessen sind – etwa weil es sich bei den Verfasser:innen der Artikel um bekannte Verschwörungsideolog:innen handelt, die sich selbst bereichern wollen." Dass Medienkompetenz aber nicht das Allheilmittel ist, macht der umfangreiche Text auch deutlich.

+++ Das International Center For Journalists (ICFJ) und das Tow Center for Digital Journalism an der Columbia University haben eine weltweite Studie zu den Auswirkungen der Pandemie auf den Journalismus (Link zur Umfrage) gestartet. "We aim to find out what is needed to keep journalism viable: What does the field require in both short-term and long-term support and training? How are journalists responding creatively to the challenges of reporting during the time of coronavirus? What can be done to help protect journalists and defend media freedom during the pandemic?", heißt es beim NiemanLab dazu.

+++ Zu den NDR-Sparmaßnahmen (Altpapier) hat René Martens für die taz einige Fakten und Bedenken zusammengetragen. Dort kritisiert er: "Auf taz-Nachfrage zu den konkrete anvisierten Einsparsummen bei den betroffenen Sendungen sagt Sprecher Jahn: ‚Eine Einzelbetrachtung der anfallenden Kosten bestimmter Formate könne ‚leider nicht erfolgen, auch weil es sich in Teilen um Auftragsproduktionen handelt. Mit einer Veröffentlichung von Zahlen würden Geschäftsgeheimnisse Dritter berührt‘ – obwohl das für die Magazine aus dem Spätprogramm nun gerade nicht gilt."

+++ Correctiv hat gestern seine Jugendredaktion "Salon 5" gestartet. Produziert wird ein Webradio und ein Podcast, bei dem alle interessierten jungen Menschen mitarbeiten können. Die Macher:innen sehen das Projekt auch als "Zentrum für Medienkompetenz".

+++ Buzzfeed steht in England und Australien vor dem Aus, berichtet die Süddeutsche.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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