Teasergrafik Altpapier vom 04. Juni 2020: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 04. Juni 2020 Muss die Französische Revolution annulliert werden?

04. Juni 2020, 12:56 Uhr

Viele deutsche Journalisten sind geil auf Gewalt. Jedenfalls interessieren sie sich eher für die Gewalt von Protestierenden als für die Hintergründe der Gewalt. Amerikanische Journalisten bekommen in der historisch einmaligen Situation, in der sich ihr Land derzeit befindet, die Folgen der Pandemie noch härter zu spüren als vorher. Ein Altpapier von René Martens.

"Die medial präsenteste Krise der vergangenen 15 Jahre"

Ja, wer hätte das gedacht? "Journalismus versagt in der Corona-Krise nicht." Mit dieser Schlagzeile-der-Woche-verdächtigen Formulierung weist die Universität Münster auf eine kommunikationswissenschaftliche Studie hin, die "mehr als 100.000 Posts, die von Anfang Januar bis zum 22. März über den Social-Media-Kanal Facebook veröffentlicht worden waren", ausgewertet hat - darunter "rund 18.000" von "78 Nachrichtenmedien verbreitete" Beiträge zur Lungenkrankheit Covid-19.

Der einzige Kritikpunkt des Teams um Leiter Thorsten Quandt ist laut der universitären Pressemitteilung (siehe auch dpa/Stuttgarter Nachrichten) ein teilweise zu beobachtendes "sogenanntes Horse-Race-Reporting – also eine Darstellung von Infektionszahlen und Verstorbenen wie bei einem Sportwettbewerb".

Ein bisschen nach Sportberichterstattung klingt freilich auch ein Text von horizont.at über eine Untersuchung des Analysedienstes APA-Comm zur Präsenz des Themas Corona in österreichischen Medien:

"Die Pandemie (ist) (…) die medial präsenteste Krise der vergangenen 15 Jahre (…) In den jeweils analysierten fünf Monaten in den Jahren 2008, 2015 und 2020 verzeichnete die Finanzkrise 13.914 Beiträge, die Flüchtlingskrise 36.841 und die Coronakrise 76.984. COVID-19 ist damit mehr als fünfmal so häufig in den heimischen Zeitungen präsent, als es die Finanzkrise zwölf Jahre zuvor war und mehr als doppelt so stark wie das Flüchtlingsthema vor fünf Jahren."

Wie man einen Bogen schlägt von der Pandemie zu den aktuellen Protesten in den USA, zeigt ein CNN-Beitrag zur Arbeitsüberlastung amerikanischer Journalisten. Der Text skizziert folgende Ausgangslage:

"Local news publications have been hard hit by financial pressure stemming from the pandemic, with many operating newsrooms gutted by layoffs and furloughs. Now, local journalists are juggling coverage of twin crises — the pandemic and the protests roiling the country — with even fewer resources."

Dabei geht es nicht nur um die Folgen von mehreren tausend Entlassungen, sondern auch um von den Verlagen verordneten unbezahlten Urlaub. Ein Beispiel:

"On Sunday, Amber Hunt, investigative reporter at The Cincinnati Enquirer, wrote about the protests in her community (…) But as of 12 a.m. on Monday, Hunt must halt her coverage: she's on furlough for a full week. The Cincinnati Enquirer is owned by newspaper conglomerate Gannett, which implemented furloughs for staffers who make at least $38,000 a year, forcing them take one week per month of unpaid leave in April, May and June. Hunt (…) wasn't even scheduled to work on Sunday. She had been on vacation for the past week, but after seeing what was happening over the weekend, she decided to work. ‚I knew the people who have been running around covering the pandemic have been covering it nonstop and now we have this, so they much be exhausted.‘ Hunt told CNN Business. ‚I volunteered because somebody has to sleep sometime.‘"

Gelobt sei der Binnenpluralismus beim Spiegel!

Dass es in Deutschland ein Ungleichgewicht in der Berichterstattung über die Proteste gibt, hat Margarete Stokowski in ihrer Spiegel-Kolumne ausgemacht:

"Die Nachrichten und sozialen Medien sind voll von Weißen, die sich mehr über die Proteste gegen Rassismus aufregen als über den Rassismus selbst."

Hausinterne Kritik formuliert Stokowski auch:

"Man muss es nicht gut finden, wenn Gegenstände im Zuge von Protesten beschädigt werden, aber die Frage ist, worauf man den Fokus seiner Kritik legt. Arno Frank schreibt in einem Spiegel-Kommentar, Plünderungen seien ‚der Moment, in dem der politische Protest unweigerlich kippt - und seine moralische Berechtigung verliert‘. Sicher? ‚Der politische Protest‘, also der gesamte Protest, verliert seine Berechtigung? Wie soll das gehen? Muss dann auch die Französische Revolution für ungültig erklärt werden, weil da auch dies und das passierte? Noch mal zurück, noch mal gesittet von vorne?"

Ein paar andere Fragen formuliert Stokowski ebenfalls:

"Warum gibt es so wenige journalistische Kommentare, in denen gefordert wird, rassistische Polizeigewalt endlich als Problem zu erkennen? Weil das so offensichtlich ein Problem ist? Ist das die Idee? Dass es falsch ist, einen Menschen zu töten, und das ja alle wissen - dass man aber einem trauernden, wütenden, verängstigten Kollektiv erklären muss, dass Plündern eigentlich gar nicht erlaubt ist, weil die das ja vielleicht gar nicht wissen?"

Über Rassismus mag Maischberger kaum sprechen

Wo Stokowskis Kritik selbstverständlich nicht angekommen ist: bei Sandra Maischberger und ihrer Redaktion. Auf das Gespräch mit der US-amerikanischen Germanistikprofessorin Priscilla Layne in der gestrigen Sendung geht Quentin Lichtblau (SZ) folgendermaßen ein:

"Die nun zugeschaltete Professorin Layne kann (…) zwei Fragen lang ihre Eindrücke aus der Perspektive einer Betroffenen schildern: Ihr Leben lang seien die Erfahrungen mit Polizisten in den USA immer schlecht gewesen, oftmals eine Frage von ‚Leben oder Tod'. Unter Trump würde extremistisches Denken nun von oben befördert und angefeuert. Anstatt hier tiefer einzusteigen, fragt Maischberger nun lieber nach ‚linksterroristischen Gruppen‘, welche die Proteste laut Trump für Krawall nutzten - ob er damit denn nicht ‚einen Punkt‘ habe?

Auch Inga Barthels (Tagesspiegel) greift diese Passage auf:

"Man wolle nun über Rassismus sprechen, kündigte Maischberger an, fragte dazu aber dann recht wenig. Stattdessen wollte Maischberger von Layne wissen, ob sich die Community eigentlich bewusst sei, wie kontraproduktiv Plünderungen sein können und was sie von den Theorien von US-Präsident Donald Trump halte, dass sie von linksradikalen Gruppen wie der Antifa organisiert würden." 

Wenn Maischberger es für möglich hält, dass der Anti-Antifaschist Trump mit den von ihr aufgegriffenen Äußerungen "einen Punkt" hat, stellt sich natürlich die Frage, ob man mit dieser Journalistin jemals wieder eine ernsthafte Diskussion führen kann.

Der bereits zitierte Quentin Lichtblau geht auch auf die Vorgeschichte der späten Einladung Laynes ein - und die Kritik, die diese vor der Sendung formulierte:

"Layne (kritisierte auf Twitter) (…) die Vorgehensweise der Maischberger-Redaktion: Eine schwarze Person einzuladen, war für sie offenbar ein Last-Minute-Gedanke". Außerdem sei der Redaktion wohl nicht bewusst gewesen, dass Rassismus und Polizeigewalt keineswegs nur ein US-Phänomen seien. Dass sich nicht erst seit der vergangenen Woche viele schwarze Deutsche mit der nötigen Mischung aus Fachwissen und eigener Betroffenheit zu Wort melden, hat die Redaktion wohl verschlafen."

Eine besonders wichtige Passage aus Laynes Kritik ist meiner Meinung nach folgende:

"They don't know anything about Black German activism, organizations or scholars, so they wouldn’t know who to invite (…) They chose me, because I was a fellow at the American Academy and that comes with a certain privilege and recognition."

ZDF: "Moderner Fünfkampf" vs. "obszöner Geschichtsrevisionismus"

Zu Talkshows wie der von Maischberger gibt es bekanntlich regelmäßig Sendungs-Nacherzählungen, vereinzelt auch Rezensionen, und vorab kursieren schon Exegesen von Ankündigungen von Gästelisten. Anders verhält es sich mit der "Anstalt" des ZDF. Zur aktuellen Sendung habe ich nur eine Besprechung gefunden, der Tagesspiegel hat sie veröffentlicht.

Die Grimme-Preis-verdächtige Sendung war dieses Mal eine Mischung aus Mockumentary und herkömmlicher "Anstalt", sie zeichnete sich aus durch einen spielerischen, mehrbödigen Umgang mit Kritik und Selbstkritik und einen außergewöhnlich großen Formenreichtum.

Markus Ehrenbergs Fazit im Tagesspiegel:

"Was Fallhöhe, Informationsvermittlung und Differenzierungsvermögen betreffen, ist die 'Anstalt', sagen wir, Moderner Fünfkampf, die 'heute-show' eher Kugelstoßen (mehr will sie auch gar nicht sein)."

Die "heute-show" hat sich, um im Bild zu bleiben, aber gerade erst die Kugel ins Gesicht gestoßen - jedenfalls bei Facebook:

"Trump hat sich ein einem Bunker im Weißen Haus vor Protesten geschützt. Wir Deutsche können aus Erfahrung sagen: Ab diesem Zeitpunkt geht es meist bergab."

Hier ist ja nun einfach alles falsch, weil sich Hitler im Bunker nicht "vor Protesten geschützt" hat und es in Deutschland schon etwas früher, tja, "bergab" ging als zum von den Mainzer Witzbolden benannten Zeitpunkt. Neues-Deutschland-Redakteur Thomas Blum ärgert sich bei Facebook daher darüber, "dass derlei obszöner Geschichtsrevisionismus und reiner Scheißdreck heute in Deutschland als 'Satire'" gilt".

Hitler-Vergleiche dienen in Deutschland ja immer zur Entlastung von der eigenen Geschichte. Sollte man also eine adäquate Einordnung der Entwicklungen in den USA amerikanischen Journalisten überlassen?

Adam Weinstein schreibt für The New Republic - unter ausführlichem Bezug auf einen seherischen Umberto-Eco-Essay von 1995:

"Trumpism-Republicanism has long possessed most of Umberto Eco’s 14 loose characteristics of Ur-Fascism, which he outlined in his 1995 New York Review of Books essay (…) There is no doubt that Trump’s fascism has already been bloody and barbaric to many human beings. But, until the past few days, it was not clear whether the White House could mobilize its armed supporters en masse for violence."

Und nach einem Rückblick auf die Anfangszeit des deutsche Nazi- und italienische Faschistenregimes konstatiert Weinstein:

"It is time to embrace the parallels, to be unafraid to speak a clear truth: Whether by design or lack of it, Donald Trump and the Republican Party operate an American state that they have increasingly organized on fascist principles."


Altpapierkorb (Die Wiederentdeckung des Hörspielautors Fred von Hoerschelmann, das "Nachleben" des linken Publizisten Wolfgang Pohrt, Vogue-Titelbilder, "Sportschau"-Quoten)

+++ Zur (Wieder-)Entdeckung eines "heute weitgehend vergessenen" Hörspiel- und Romanautors lädt die Medienkorrespondenz ein: "In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts war der Name des Schriftstellers Fred von Hoerschelmann (1901-1976) einem Millionenpublikum geläufig. Zur besten Sendezeit versammelte es sich abends vor den Radioapparaten, um den neuesten Hörspielen zu lauschen, die von den westdeutschen Rundfunkanstalten produziert wurden. Hoerschelmann gehörte neben Günter Eich, Heinrich Böll, Marie Luise Kaschnitz, Siegfried Lenz, Martin Walser oder Erwin Wickert zu den produktivsten und im In- und Ausland meistgesendeten deutschen Autoren." Anlass des Artikels: eine 2019 erschienene Werkausgabe. Anregend ist unter anderem folgende Passage: "Nach dem Ende des Nazi-Regimes plant (von Hoerschelmann) ausgehend von einem umfangreichen, handbuchartigen Artikel zur französischen Literatur der 1920er bis 1940er Jahre, eine französische Literaturgeschichte. Das Buchprojekt scheitert an der Währungsreform, aber der damalige NWDR Hamburg springt ein und sendet von 1948 bis 1950 eine Serie von fünf Features über Valéry, Proust, Bernanos und den Surrealismus." Wenn heute ein Verlag - sagen wir mal: aufgrund der finanziellen Folgen der Pandemie - ein ambitioniertes literaturhistorisches Projekt abblasen müsste: Würde dann ein öffentlich-rechtlicher Sender "einspringen"? Angesichts der fortschreitenden Verflachung und Entkernung der ARD-Hörfunkprograme (diverse Links dazu siehe den ersten Absatz in dieser Altpapier-Passage) wohl eher nicht.

+++ Werkausgaben (II): Dass der linksradikale, allerdings mit ungefähr allen Linken radikal ins Gericht gehende und auch sonst "rücksichtslos gegen die Welt und gegen sich selbst" agierende Publizist Wolfgang Pohrt (1945-2018) in seinem "Nachleben" möglicherweise mehr Diskussionen auslöst als zu Lebzeiten - darüber spekuliert Dietmar Dath in der FAZ (€). Unter Bezug auf die 1980er Jahre schreibt Dath: "Seine Wirkung musste Pohrt sich selbst bauen, was in gewisser Weise das Gegenteil von ‚Wirkung‘ überhaupt darstellt. Eine Zeitlang ließ er aus komplizierten Gründen, statt Artikel zu schreiben, in der Zeitschrift Konkret, zu deren Hausautoren er lange gehörte, Interviews mit sich drucken – damit die Interviewfragen auch scharf genug waren und auf Pohrt so wenig Rücksicht nahmen wie er auf alle andern, stellte er sich diese Fragen gleich selbst; es wurden daraus lehrreiche Zwiegespräche eines hellen Kopfes mit seinen besten Einwänden gegen die solidesten eigenen Ansichten." Aus der Werkausgabe, auf die sich Dath bezieht, kenne ich bisher nur Band 4 - und aus diesem wiederum nur eine Handvoll Texte. Ich empfehle die Artikel zur "intellektuellen Verwahrlosung", die 1983 in der Feuilleton-Rezeption von Peter Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" zum Ausdruck kam.

+++ Wie agieren Printmagazine in Zeiten der Pandemie? Einen Aspekt beleuchtet heute Aurelie von Blazekovic in der SZ: "Die neue britische Vogue zeigt (…): kein Model, keine Sängerin, keine Schauspielerin und kein perfekt inszeniertes Fashion-Piece, sondern Frauen in systemrelevanten Berufen. Zu sehen sind auf den drei Versionen der Juli-Ausgabe die Hebamme Rachel Millar, die Zugführerin Narguis Horsford und Anisa Omar (oben), eine Supermarkt-Mitarbeiterin. Der Chefredakteur Edward Enninful schreibt in einem Editorial dazu, er könne sich kein besseres Frauentrio vorstellen, um Millionen Menschen in Großbritannien zu repräsentieren: ‚Unsere Helden sind heute andere. Es gab eine Veränderung, zu wem wir aufschauen, wen wir bewundern und diese Menschen müssen gefeiert werden.’" Unter anderem darüber, wie die deutsche Vogue in Zeiten der Pandemie agiert, habe ich kürzlich für Zeit Online geschrieben.

+++ Zum Schluss noch zum Sport: Dass das Interesse der Zuschauer der ARD-"Sportschau" an Fußballspielen ohne Stadionpublikum relativ gering ist, geht aus einer dpa/FAZ-Meldung hervor: "Die Marktanteile der Sendungen nach dem Neustart rutschten jeweils unter 20 Prozent – rund fünf Prozentpunkte weniger als vor der Zwangspause." Und dass man die Veranstaltungen im leeren Stadion "aus unerfindlichen Gründen ‚Geisterspiele‘ nennt", bemerkt Norbert Schneider in der Medienkorrespondenz.

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

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