Teasergrafik Altpapier vom 05. Juni 2020: Porträt Autor Ralf Heimann
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Das Altpapier am 05. Juni 2020 Wie betrunken war die gelbe Presse?

05. Juni 2020, 12:19 Uhr

Ein vor 13 Jahren verschwundenes Mädchen löst die Pandemie als Boulevard-Thema Nummer eins ab. Der PR-Rat rügt die Agentur Storymachine wegen unprofessionellen Verhaltens. Und Snapchat fällt Mark Zuckerberg in den Rücken. Was ist da nur wieder los? Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Maddie oder die perfekte Geschichte

Das Bildblog hat am Donnerstag zehn Tweets veröffentlicht, die aus Kacheln mit Schlagzeilen bestehen. Im ersten Tweet des Threads steht:

"Im Talk bei ‚Bild TV‘ wurde heute darüber gesprochen, wie schlimm es doch sei, ‚mit was für Schlagzeilen‘ die Eltern von #MaddieMcCann im Laufe der Jahre ‚konfrontiert waren‘. Schlagzeilen? Welche Schlagzeilen, @BILD.de?

Im Folgenden ist zu sehen, mit welchen Schlagzeilen Maddies Eltern bei Bild.de konfrontiert waren. Es sind 300, unter anderem:

"Wie betrunken waren Maddies Eltern?“

"Das Verhalten der Eltern war immer ungewöhnlich.“

Oder:

"Eltern gelten immer noch nicht als unschuldig.“

Im Altpapier haben wir uns schon einige Jahre nicht mehr mit dem Thema beschäftigt. Ich weiß auch nicht, ob wir es jemals getan haben. So weit reicht das Archiv nicht zurück. Aber kurz zur Erklärung: Die damals vierjährige Madeleine McCann verschwand im Jahr 2007 aus einer Ferienwohnung in Portugal, während ihre Eltern wenige Meter weiter in einen Restaurant mit Freunden aßen. Etwas viel Schlimmeres kann Eltern nicht passieren. Wenn man sich dagegen die Berichterstattung der gelben Presse in den vergangenen Jahren ansieht, bekommt man den Eindruck: Für den Boulevard gilt das genaue Gegenteil.

Der Anlass für die aktuelle Berichterstattung sind neue Erkenntnisse. Das Bundeskriminalamt gab am Mittwochabend zusammen mit der Staatsanwaltschaft Braunschweig bekannt, dass es einen Mann gibt, der unter Mordverdacht steht (hier nachzulesen bei der FAZ). In den "Bild“-Medien hat das seitdem die weltweite Pandemie als Thema Nummer eins abgelöst.

Barbara Supp analysiert für den Spiegel die "Schwächen des Journalismus. Sie fragt, was diesen Fall den überhaupt so außergewöhnlich macht und erklärt:

"Es war der perfekte Kriminalfall: Whodunnit? Wer war’s? Die Geschichte funktioniert, weil sie eine archaische Angst aktiviert, sie funktioniert über den Schock-Moment: das leere Bett. Das verschwundene Kind. Sie funktioniert, weil sie tief verwurzelte kulturelle Stereotypen anspricht: der unheimliche Fremde. Die mörderische Mutter. So wollen es ja die Stereotypen: Dass man schnell an die Mutter denkt.“

Im Verlauf der vergangenen Jahre gab es immer wieder neue Theorien. Die Eltern gerieten unter Verdacht, auch weil die Mutter nicht weinte und der Vater redete wie ein Bürokrat. Es schien vieles ins Bild zu passen, was sich später als falsch herausstellte – oder zumindest als zweifelhaft. In einem Krimi könnte es sich dabei um erzählerische Finten handeln, die das Publikum in die Irre führen sollen. Die Aufgabe von Journalisten ist, diese Muster zu durchschauen, um zu einer möglichst zuverlässigen Einschätzung zu kommen.

Barbara Supp:

"(…) Journalistenpflicht ist es, sich der eigenen Haltung bewusst zu sein – und herauszufinden, worauf die eigene Einschätzung basiert: Wie sehe ich diese Frau, diesen Mann, und warum?

Wie perfekt eine Geschichte ist, hängt aber immer auch davon ab, welche Elemente Teil der Erzählung sein dürfen.

"Nächste Pflicht ist es (…), den Spielverderber zu suchen. Zu fragen, welche Zweifel es daran gibt. Das Lästige mitzuerzählen, die Zwischentöne. Das geschah in der Berichterstattung zum Fall McCann – manchmal. Gelegentlich“,

schreibt Barbara Supp und rät:

"Wenn sie zu gut wird, die neue Geschichte, muss man rechtzeitig daran denken, sie in Zweifel zu ziehen.“

Behalten wir das für einen Moment im Hinterkopf. Aber machen wir uns nichts vor: Den Boulevard wird das alles nicht erreichen, denn dort geht es eben nicht um ein möglichst differenziertes Bild von der Wirklichkeit. Dort geht es um die perfekte Geschichte.

Storymachine oder die Geschichte hinter der Geschichte

Im Falle der Heinsberg-Studie des Bonner Virologen Hendrik Streeck kam der Punkt, an dem die Geschichte zu gut wurde, im Grunde schon vor ihrer Veröffentlichung – als nämlich die Zeitschrift Capital ein internes Konzeptpapier enthüllte, das den Eindruck vermittelte: Hier sollen die Forschungsergebnisse nur ein Vehikel sein, um eine politische Botschaft zu transportieren. Der Deutsche Rat für Public Relations hat deshalb nun eine Rüge gegen die verantwortliche Agentur Storymachine ausgesprochen, und zwar "wegen der Rufschädigung des Berufsstandes durch unprofessionelles Verhalten“.

In der Pressemitteilung des Rates steht dazu eine überraschende Passage. Das an potenzielle Sponsoren versandte Dokumentationskonzept habe den Eindruck vermittelt,

"dass es sich hier um eine Maßnahme handelte, bei der ein vorformuliertes Narrativ in der Öffentlichkeit gesetzt werden sollte. Dadurch entstand der Eindruck einer manipulativen Darstellung, die ein überwunden geglaubtes Negativbild von PR und Kommunikationsmanagement bedient.“

Dass der Eindruck, PR setze in der Öffentlichkeit ein "vorformuliertes Narrativ“, überwunden sein könnte, wusste ich, bis ich die Pressemitteilung las, ehrlich gesagt nicht. Ich hätte vermutet: Das ist das Kernelement von PR. Aber gut, das Missverständnis kann unterschiedliche Ursachen haben. Entweder ich habe es falsch verstanden, oder viele Unternehmen handhaben es mit den Regeln des Deutschen Rates für Public Relations so wie die "Bild“-Medien mit denen des Presserats.

Kai Diekmann, einer der drei Storymachine-Chefs, hat in seiner Zeit als "Bild“-Chef hier einige Erfahrungen gesammelt. Daher hätte die Vermutung nahegelegen, dass man von der Rüge nach der Veröffentlichung einfach nichts mehr hören wird. So kommt es aber nun nicht. Storymachine-Anwalt Christian Schertz hat "rechtliche Schritte“ angekündigt, wie unter anderem Horizont dokumentiert. Schertz unterstellt dem Rat – ich formuliere das mal mit meinen Worten –, er habe ein vorformuliertes Narrativ in die Öffentlichkeit gesetzt. Zu zwei Vorwürfen, die letztlich fallen gelassen wurden (Intransparenz bei Absenderkennzeichnung und Sponsorenennung), habe man Storymachine angehört, zum Inhalt der Rüge nicht. Mit einem fairen Verfahren habe das nichts zu tun, zumal man angeboten habe, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. 

Den besten Überblick über den Fall gibt Hans-Martin Tillak für Stern.de. Er hat auch recherchiert, für wen das mittlerweile 180 Mitarbeiter große Unternehmen Storymachine so alles arbeitet. Spoiler: unter anderem für den Bundesverband der CDU, Ursula von der Leyen, Vodafone, VW sowie in der Vergangenheit für den DFB und den dubiosen Laden von Carsten Maschmeyer.

Medien und Trump – eine unendliche Geschichte

Die Frage, wie Twitter und Facebook mit Donald Trumps Gewaltfantasien umgehen, hat uns hier in den vergangenen Tagen bereits beschäftigt (Altpapier). Momentaner Zwischenstand: Facebook möchte es sich ungern mit den Republikanern verderben und lässt daher erst mal alles weiter so laufen. Twitter würde schon gern durchgreifen, traut sich aber so richtig nicht.

Ein Beleg für diese These wäre: Der Twitter-Account SuspendThePres hat Ende Mai ein Experiment gestartet, wie unter anderem die Nachrichtenseite Mashable berichtet. Ziel des Experiments war es, herauszufinden, wie lange es dauert, bis ein Accout gesperrt wird, der nichts anderes macht, als Donald Trumps Tweets im Original-Wortlaut zu verbreiten. Die Antwort: 68 Stunden.

Inzwischen ist der Account wieder freigeschaltet (Stand Freitag 9 Uhr). Doch der Verdacht liegt nahe, dass dies nicht passierte, weil ein Missverständnis vorlag, sondern einfach, weil über das Experiment berichtet wurde.

Auch Snapchat hat sich mittlerweile positioniert. Das Unternehmen will Trumps Profil in seinem Discover-Bereich ab sofort nicht mehr vorschlagen, berichtet Simon Hurtz für die SZ.

Einen Eindruck davon, welche Form der Debatte das nun nach sich zieht, vermittelt ein Zitat von Trumps Kampagnen-Manager Brad Parscale:

Simon Hurtz schreibt:

"Parscale greift den Snapchat-Chef direkt an: ‚Der radikale Evan Spiegel würde eher linksextreme Gewaltvideos bewerben und seine Nutzer ermutigen, Amerika zu zerstören, als die positive Botschaft von Einheit, Gerechtigkeit und Recht und Gesetz des Präsidenten zu teilen.‘“

Hurtz ordnet das auch ein:

"Diese angeblich positive Botschaft klingt zum Beispiel so: Wenn die Menschen, die vor dem Weißen Haus protestierten, die Absperrung durchbrochen hätten, schrieb Trump, wären sie ‚mit den bösartigsten Hunden und den bedrohlichsten Waffen begrüßt worden, die ich je gesehen habe’.“

Hier scheint auch die Kommunikationsstrategie der Trump-Kampagne durch. Trump selbst wie auch seine Leute streuen Hinweise auf den Verdacht, die Wahlen würden von unterschiedlicher Seite manipuliert. Sascha Lobo deutet das in seiner aktuellen Spiegel-Kolumne als Vorbereitung auf einen Staatsstreich.

Aber zurück zu Snapchat. Mit seiner Ankündigung setzt Evan Spiegel Facebook-Chef Mark Zuckerberg unter Druck, analysiert Simon Hurtz. Zuckerberg  muss sich zurzeit nicht nur mit Trump auseinandersetzen, sondern auch mit streikenden und rebellierenden Mitarbeitern, die seiner trumpfreundlichen Haltung nicht so viel abgewinnen können. Bislang bleibt Zuckerberg bei seiner Meinung. Aber Hurtz beobachtet immerhin ein bisschen Bewegung. Er schreibt: 

"Der Widerstand scheint auch Zuckerberg zu beeindrucken. Das Thema löse intern 'viel Energie' aus, sagte er laut einem Audiomitschnitt, der Medien zugespielt wurde. Da womöglich eine ‚längere Phase ziviler Unruhen‘ bevorstehe, werde Facebook prüfen, ob es seine Regeln anpasst. Politikern, die mit staatlicher Gewalt drohen, könnten dann Konsequenzen drohen.“

Wenn man nun für einen kurzen Moment versucht, die vergangenen vier Jahre zu vergessen, erscheint der letzte Satz noch etwas absurder, als er ohnehin schon ist. Steigern lässt sich das im Grunde nur noch, wenn man sich vor Augen führt, wie die Debatte gelaufen wäre, wenn ihr Inhalt die Frage gewesen wäre, ob amerikanische Politiker bei Facebook Fotos von weiblichen Brüsten veröffentlichen dürfen.

Und damit zum…

Altpapierkorb (Buhrow und Bild, Freie und Hartz IV, Renner und Rezo, Verlage und Google, Schweiger und Schweinsteiger)

+++ Beim letzten Mal hat Tom Buhrow sich vom Krankenbett zuschalten lassen, diesmal meldet er sich vom Feldbett. Der WDR-Intendant hat einen Beitrag für die "Bild“ über die Situation in den USA verfasst. Stefan Niggemeier schreibt für Übermedien über seinen Versuch, herauszufinden, wie das passieren konnte. Dazu hat er der WDR-Pressestelle mehrere Fragen gestellt: Die lapidare Antwort in zwei Sätzen: "Herr Buhrow ist angefragt worden. Da er sich als ehemaliger USA-Korrespondent dem Land und seinen Menschen sehr verbunden fühlt, ist er dieser Bitte nachgekommen, ohne Honorar.“ Niggemeier schreibt: "ARD und ZDF sind seit Jahren Ziel von Kampagnen der ‚Bild‘-Zeitung. Die ‚Bild‘-Zeitung ist seit Jahrzehnten Symbol für Verantwortungslosigkeit im Journalismus. Der WDR-Intendant und amtierende ARD-Vorsitzende aber hat kein Problem damit, sich unentgeltlich in den Dienst dieses Mediums zu stellen.“ Seine Arbeitszeit kostenlos zur Verfügung stellen kann Buhrow zudem unter anderem, weil er sich wegen seines Intendantenjobs um Geld keine größeren Sorgen machen muss. Den "Bild“-Medien muss man zugestehen, dass sie einen geschickten Weg gefunden haben, Buhrows mit Rundfunkbeiträgen finanzierte Arbeitszeit für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Geld verdienen sie mit dem Artikel nicht nur über Werbung. Er steht dazu auch noch hinter der Bezahlschranke.

+++ Freie Journalisten hat die Corona-Krise hart getroffen. DJV-Chef Frank Überall nennt die Entwicklung laut epd Medien "dramatisch. Eine Erhebung des DJV zeigt, dass "der durchschnittliche monatliche Gewinn der Freien seit der Corona-Krise um rund zwei Drittel eingebrochen“ ist. Im Schnitt verdienen freie Journalisten laut der Erhebung damit nur noch 780 Euro statt wie vorher 2.470 Euro. Besonders hart trifft es danach Frauen. Aber auch sonst leben viele Freie zurzeit von Hartz IV.

+++ Der ZDF-Journalist Arndt Ginzel und sein Kameramann sind am Donnerstag in Berlin am Rande einer Gerichtsverhandlung angegriffen worden. Wie die taz schreibt, "bedrängte eine Gruppe von etwa 15 angegriffenen Personen um den halleschen Rechtsextremisten Sven Liebich“ die Journalisten. Ginzel berichtet von "Schlägen gegen sich und die Kamera“. Es ist nicht das erste Mal, dass er bei der Arbeit bedroht wird. Im vergangenen Jahr stellte sich ihm der als "Hutbürger“ bekannt gewordene LKA-Mann in den Weg. 

+++ Kai-Hinrich Renner hat sich für die Berliner Zeitung ausführlich mit der Methodik beschäftigt, nach der Rezo in seinem Video "Die Zerstörung der Presse“ (Altpapier) die Medienberichterstattung, wie sagt man heute, zerlegt. Dabei entdeckt Renner Unkorrektheiten in Rezos Analyse. Faktenfehler, die Rezo bemängelt, die bei genauerem Hinsehen aber keine seien. Strittige Berechnungsmethoden. Nicht ganz klar wird Renner auch, wie Rezo die Texte, die er untersucht, ausgewählt hat. ("Wegen gerade mal sechs vermeintlich fehlerhafter Texte von insgesamt über 100 Artikeln der Berliner Zeitung, in denen er namentlich genannt wird, kommt Rezo im Falle unseres Blattes auf eine "Falschbehauptungs-Quote“ von 55 Prozent. So richtig nachzuvollziehen ist das nicht.“) Dazu Stellung genommen hat Rezo bislang noch nicht.

+++ Die deutschen Verlage haben ihre Klage gegen Google vor dem Landgericht Berlin zurückgezogen. Das berichtet unter anderem Zeit Online. Die Verlage wollten das deutsche Leistungsschutzrecht juristisch durchsetzen und auf diese Weise Google dazu zwingen, für kurze Vorschautexte in den Suchergebnissen zu zahlen. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs im vergangenen Jahr war allerdings klar, dass sich das geltende deutsche Leistungsschutzrecht gar nicht anwenden lässt. Die Niederlage vor Gericht war absehbar. Enden soll der seit sieben Jahren andauernde Rechtsstreit damit aber nicht. Die Verlage wollen es jetzt über das europäische Urheber- und Leistungschutzrecht versuchen. Schön ist die Formulierung der Meldung in der FAZ, die selbst flammende Befürworterin des Gesetzes ist. Dort klingt der Rückzug nach einer sehr netten Geste: "Die Verwertungsgesellschaft VG Media will nicht weiter auf der Basis des derzeit noch gültigen Presseleistungsschutzrechts in Deutschland gegen Google vorgehen.

+++ Und noch ein Film-Tipp: Falls Sie sich am Wochenende auf keinen Fall eine Sport-Doku anschauen möchten, dann ist Til Schweigers Film über Bastian Schweinsteiger vielleicht etwas für Sie. Jürn Kruse rät bei Übermedien sehr dringend von der Doku ab. Er schreibt: "Das Problem dieses Films steht kurz vor dem Ende weiß auf schwarz auf einer Texttafel: 'Für Ana & Bastian'.“

Haben Sie ein schönes Wochenende!

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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