Teasergrafik Altpapier vom 10. Juni 2020: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 10. Juni 2020 Kartoffeln, erklärt euch!

10. Juni 2020, 12:40 Uhr

Weiße Journalistinnen und Journalisten müssen lernen, dass es "nicht die Verantwortung der Unterdrückten ist, zu erklären, was sie umbringt". Außerdem: Inwieweit ist die Wahrnehmung realer Polizeiarbeit - und damit auch rassistischer Brutalität - geprägt von der Wahrnehmung fiktiver Polizeiarbeit in Fernsehkrimis? Ein Altpapier von René Martens.

Als ein mutmaßlicher Falschparker bei einem Polizeiangriff Angst um sein Leben hatte

Wie sind die journalistischen Beiträge einzuschätzen, die seit dem Samstag zur Gewalt deutscher Polizisten gegen in Sachen Black Live Matters auf die Straße gegangenen Demonstrantinnen und Demonstranten erschienen sind. Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) meint

"Ein Großteil der aktuellen Berichterstattung über den letzten Samstag betreibt und fördert einen Diskurs der Täter-Opfer-Umkehr. Oft wurde unkommentiert die polizeiliche Darstellung reproduziert."

Aktuell ein Gegengewicht zu diesem "Großteil" schafft zum Beispiel die taz, die die tatsächlichen Opfer zu Wort zu kommen lässt - und zwar in diesem Artikel ("Vier der am Samstag Festgenommen haben der taz ihre Erlebnisse erzählt. Subjektiv, aber gestützt auf Bild- und Videomaterial"). Und der NDR geht auf ein Video aus Hamburg-Horn ein, das zwar aus dem August 2019 stammt, aber in den aktuellen Kontext passt. Die Bilder ähneln denen vom Mord an George Floyd; der mutmaßliche Falschparker, dem der Polizeiangriff gilt, hat allerdings überlebt. Doch er hatte Angst um sein Leben, wie der an den Haupttäter gerichtete Ausruf "Tu vas me tuer" („Du wirst mich umbringen“) zeigt.

Die "monoperspektivische Verengung auf die Wahrheit der Ermittlungsbehörden" im TV-Krimi

Warum ist "ein Großteil der aktuellen Berichterstattung" (ISD) über Polizeigewalt so, wie er ist? Weil der deutsche Journalismus strukturell rassistisch ist? Das ist gewiss ein Grund. Auf einen anderen wird man aufmerksam, wenn man einen Essay Sandra Becks für 54books liest. Sie stellt folgende Frage: Inwieweit ist die Wahrnehmung realer Polizeiarbeit - und damit auch rassistischer Brutalität - geprägt von der Wahrnehmung fiktiver Polizeiarbeit in Fernsehkrimis, die ja in aller Regel „police procedurals“ sind? Beck schreibt:

"Kriminalliterarisches Erzählen in den ungemein beliebten police procedurals (erzählt) kaum von Korruption, systemischem Rassismus und Polizeigewalt (…) Obwohl diese Leerstellen von TV-Produktionen wie 'When They See Us' (2019, Netflix) oder dezidiert multiperspektivischen Erzählformaten wie 'American Crime' (2015–2017, ABC) nach und nach gefüllt werden, folgt die Masse der in Serie gegangenen Kriminalerzählungen einer anderen Logik. Ihre Erzählstruktur ist darauf zugeschnitten, Zuschauer*innen zu überzeugen, sie würden als Teil der Polizei ähnlich denken, fühlen und handeln."

Die Autorin konstatiert des Weiteren eine

"monoperspektivische Verengung auf die Wahrheit der Ermittlungsbehörden und die sie narrativ absichernde Affektpolitik. Vom einstigen Streben der (spät-)aufklärerischen Kriminalerzählung, die 'innere Geschichte' der Verbrecher*innen im empathisch gespannten Blick auf die Umstände der Tat zu entschlüsseln, ist wenig geblieben (…) Statt die Wahrheit der Täter*innen in prototypischen Beicht- und Geständnisszenarien aufzuzeichnen und die Umstände der Tat zu bedenken, wendet sich das Genre einseitig der Aufklärungsgeschichte und den Techniken der Wahrheitsfindung zu. Die Schuldigen sind allenfalls noch anwesend in den von ihnen verursachten materiellen Einprägungen in die Objektwelt, die es als Spuren der Tat zu deuten gilt. Nur die Ermittler*innen dürfen in diesen Erzählungen 'echte' Menschen sein, die Gejagten und zu überführenden Schuldigen sind reine narrative Mittel."

Nicht zuletzt sind die Krimis angesiedelt

"in einer fiktiven Welt, in der Polizeibeamt*innen durch juristische Regelungen oder die Intervention von Journalist*innen und Vertreter*innen von Interessengruppen oder inkompetente Vorgesetzte in einem schwerfälligen bürokratischen Apparat an der effizienten Ausübung ihres Jobs gehindert werden. In diesem Erzählkosmos ist eine peinliche Einhaltung der Dienstvorschriften der Wahrheitsfindung ebenso abträglich wie öffentlicher Druck."

Und das kann durchaus zum Teil erklären, warum große Teile der Öffentlichkeit kein Problem mit Regelverstößen der realen Polizei zu haben scheinen.

Aufrufe zu Kritischem Weißsein

Der Journalist Malcolm Ohanwe macht in einem Gastbeitrag für den Spiegel auf einen im umgangssprachlichen Sinne perversen Umstand aufmerksam, der seine aktuelle tägliche Arbeit betrifft:

"Als Journalist, der von Berufs wegen Dinge einordnet, hat mein Telefon selten so viel geklingelt und vibriert wie in den Tagen nach dem 25. Mai, als George Floyd in Minneapolis ums Leben kam. Ich mache beruflich Konjunktur, weil eine Person derselben Race wie ich (‚Rasse‘ als soziales zugeschriebenes Konstrukt, und nicht als biologisches Faktum) medienwirksam öffentlich hingerichtet wurde."

So wichtig es sei, "schwarzen Autor*innen (…) weiterhin Deutungshoheit über Anti-Schwarzen Rassismus" zu geben:

"Wir müssen den Arbeitsaufwand irgendwie outsourcen, verteilen."

Und zwar auch, damit Schwarze nicht ständig über sich selbst schreiben müssen, sondern auch über die ganz normalen Themen schreiben können. Ohanwe weiter:

"Da kommt ihr Weißen ins Spiel! Weiße Journalist*innen und weiße Privatmenschen! Es ist toll, wenn ihr die Gedanken von Schwarzen Vordenkerinnen wie May Ayim, Tupoka Ogette, Josephine Apraku, Natasha Kelly, Anne Chebu, Fatima El-Tayeb, Sharon Dodua Otoo in eure Rhetorik und Argumentation übernehmt und in größere Räume tragt: Aber nur das nachzusprechen, was euch andere Betroffene zuvor gesagt haben und womöglich nicht mal die Quelle zu nennen, reicht nicht."

Seine konkrete Forderung:

"Macht Stücke und führt Gespräche, in denen ihr euch ganz explizit als weiß markiert; ihr werdet merken, wie verdammt knifflig es ist, einen klugen, leicht verständlichen und pointierten Essay oder einen guten Gesprächsbeitrag zur eigenen ethnischen Identität zu formulieren. Schwarze müssen das regelmäßig. Erklärt und rechtfertigt euch selbst in dieser Gesellschaft, anstatt Schwarze Menschen immer wieder zu fragen, was sie durchlaufen, als ob sie euch ihre Existenz und ihre Erfahrungen beweisen müssen."

Seine Kampagne #KritischesWeißsein hatte Ohanwe am Montag bei Twitter gestartet. Eine ähnliche, bis zum 6. Juli terminierte "Challenge" hat bei Instagram die von Ohanwe erwähnte Josephine Apraku ausgerufen.

Schon bevor Ohanwes Spiegel-Text erschienen war, hatten Sara Pichireddu und fünf weitere Redakteurinnen und Redakteure des Kölner Stadt-Anzeigers seine Forderung in einem Sammelbeitrag umgesetzt. Pichireddu schreibt zum Beispiel:

"Auf Instagram wurden vergangene Woche schwarze Bilder gepostet, um Solidarität auszudrücken. Ein leichter Weg, um die liberale Begehrlichkeit zu stillen. Klingt einfach genug. Aber wem hilft das wirklich? Nachdem Tausende ihr schwarzes Quadrat mit dem #BlackLivesMatter in die Welt gebrüllt hatten, war es einmal mehr an den Betroffenen, den schwarzen Männern und Frauen, die Weißen darauf hinzuweisen, woran sie nicht gedacht hatten. Die Besänftigung ihres Schuldgefühls hatte Überhand genommen und die wichtigen Informationen, die unter dem Hashtag geteilt wurden, aus den Algorithmen verdrängt. Wir verlassen uns einmal mehr darauf, dass die marginalisierten Gruppen uns erklären, wie wir ihnen beistehen sollen. Dabei haben wir alle Möglichkeiten der Welt, uns selbst zu bilden, zu recherchieren, nachzudenken. Es ist nicht die Verantwortung der Unterdrückten, zu erklären, was sie umbringt. Wenn so viele Menschen dem Hashtag bereits vorher gefolgt wären, hätten sie sehen können, welche Inhalte darüber verbreitet werden. Sind sie aber nicht. Weil es keine Rolle für sie spielte. Für mich auch nicht, dachte ich."

Ob Critical Whiteness überhaupt produktiv ist, ist allerdings eine ganz andere Frage, die in Teilen des linken Milieus schon seit einigen Jahren diskutiert wird.

"Panorama 3" zur rassistischen Medienerzählung in Sachen #Göttingen

Wie es dazu kommen konnte, dass in den vergangenen Tagen eine rassistische Erzählung zu muslimischen "GroßfamilIien" in Göttingen kursierte, denen verschiedenen Medien die starke Verbreitung des Corona-Virus in der Stadt anlasten - das rekapituliert das NDR-Magazin "Panorama 3" in seiner aktuellen Sendung.

Autor Jörg Hilbert und Moderatorin Susanne Stichler thematisieren, wie sich in der Berichterstattung "Vorwürfe verselbständigten" - was auch möglich wurde dank irreführender Angaben der Stadt Göttingen, die erst jetzt langsam hinterfragt werden. Instruktiv ist auch der Hinweis Stichlers darauf, dass die mutmaßlich auf katholische bzw. freikirchliche Gottesdienste zurückzuführende Virus-Ausbreitungen in Stralsund und Bremerhaven weitaus weniger mediale Aufmerksamkeit nach sich zogen als der "Fall" in Göttingen.

Der NDR reagiert mit dem Beitrag auf Stellungnahmen, in denen die von der Berichterstattung Betroffenen "der Presse", unter anderem dem ZDF, Falschdarstellungen bzw. "Hetze" vorwerfen - siehe dazu Beiträge des Roma Discrimanation Networks und der taz.

Was wurde eigentlich aus dem sog. BAMF-Skandal?

In der Beck-Community, also dem vom Verlag C.H. Beck verantworteten "Expertenforum rund um die Themengebiete Recht, Steuern und Wirtschaft" wirft der Regensburger Rechtswissenschaftler Henning Ernst Müller die Frage auf, was eigentlich aus der juristischen Aufarbeitung des 2018 von diversen Qualitätsmedien inszenierten BAMF-Skandals geworden ist (siehe sehr viele Altpapiere, zuletzt dieses aus dem August):

"Es ist inzwischen still geworden um den (anfangs) großen BAMF-Skandal in Bremen. Seit fast einem Jahr steckt die Anklage im Zwischenverfahren vor dem LG Bremen fest. Das ist, ich drücke es sachlich aus: bemerkenswert. Denn alle mit Strafverfahren bewandten Juristen wissen, dass das Zwischenverfahren normalerweise eher eine Durchwinkstation ist. Und je eingehender und besser die Staatsanwaltschaft die Anklage vorbereitet hat (hier waren bis zu 50 Beamte über ein Jahr lang beschäftigt und kristallisierten - offenbar unter großen Mühen - 121 Fälle  heraus), desto sicherer ist normalerweise die Anklage."

Unter Bezug auf eine kurze Meldung auf der Website des Radio-Bremen-Regionalmagazins "buten un binnen", wonach die Richter, die "von anderen Verfahren weitgehend freigestellt" worden sind, sich "seit Januar" in das Flüchtlingsamts-Verfahren einarbeiten und "das Landgericht Bremen bis zum Sommer mit einer Entscheidung" rechne, schreibt Müller:

"Soll das bedeuten, dass man (seit Erhebung der Anklage im September 2019) zunächst drei Monate gewartet hat, bevor man sich überhaupt mit der Akte beschäftigt hat? Und jetzt noch einmal für die intensive Prüfung im Zwischenverfahren sechs bis neun Monate benötigt (…) Spricht dieses zeitintensive und offenkundig wiederum personalintensive Zwischenverfahren eher dafür, dass die Anklage trotz des großen Personaleinsatzes  die Richterinnen eher weniger überzeugt? Dass von den 2000 bzw. 1200 bzw. 975 bzw. 578 bzw. 165 bzw. 145 Fällen jetzt auch die 121 Fälle der Anklage noch einmal reduziert werden müssen?"

An medienkritischen Auseinandersetzungen mit der Berichterstattung zu diesem "Skandal" hat es (siehe unter anderem das oben verlinkte Altpapier) bisher nicht gemangelt, und angesichts dessen, was Müller schreibt, ist zu hoffen, dass das so bleibt.


Altpapierkorb (Prozess gegen Maria Ressa, 90 Jahre Theo Sommer, 25  Jahre Testcard, Musikjournalismus im Krisenmodus, medienpolitische Zukunftsvisionen)

+++ Wie sich eine Demokratie in eine Autokratie mit quasi präzivilisatorischen Zügen verwandeln kann, zeigt am Beispiel der Philippinen Marc Wieses "We hold the line", der bei Arte kürzlich unter dem Titel "Die Unbeugsamen" zu sehen war. Es ist einer der politisch relevantesten Dokumentarfilme der jüngeren Vergangenheit, und er ist erfreulicherweise noch bis zum 16. August in der Arte-Mediathek zu sehen. Ich habe den Film für die Medienkorrespondenz besprochen. Er hat nun noch einmal zusätzlich an Aktualität gewonnen. Im Mittelpunkt von Wieses Dokumentarfilm steht die Journalistin Maria Ressa, sie ist die Symbolfigur für den Kampf gegen Staatsterrorismus und Journalistenverfolgung. Das Journalistenzentrum Deutschland weist nun darauf hin, dass Ressa am 15. Juni ein Prozess bevorsteht, in dem ihr eine lebenslange Haftstrafe dort - und dass das International Press Institut (IPI), in dessen Vorstand Ressa sitzt, am heutigen Nachmittag eine Zoom-Konferenz mit ihr und ihrem Anwalt anbietet.

+++ Willi Winkler hat für die SZ (€) den früheren Zeit-Chefredakteur und Herausgeber Theo Sommer interviewt, der heute 90 Jahre alt wird. Der SZ-Autor nimmt in dem Gespräch unter anderem Bezug darauf, dass die meisten Journalisten nach 1945 sich nicht allzu offen zu ihrem beruflichen Vorleben im Nationalsozialismus geäußert haben: "Der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Günter Gaus, der ein halbes Jahr älter war als Sie, schreibt in seinen Erinnerungen, dass er bei der Nachricht, Hitler sei tot, hemmungslos geweint habe. Er ist einer der wenigen, die zugeben, dass sie ganz und gar dabei waren." Sommer tut’s nun aber auch: "Ich war auch ganz und gar dabei. Ich weiß noch, dass wir in einer Almhütte im Retterschwanger Tal die Nachricht aus Berlin am Volksempfänger hörten und dann für fünf Minuten in Trauer schwiegen."

+++ Welche Musikzeitschrift gibt’s nun auch schon 25 Jahre? Testcard aus Mainz. Thomas Hecken (pop-zeitschrift.de) konstatiert: "Die Hefte sind (…) geprägt von sehr weitreichenden, deprimierten Diagnosen oder schonungslos daherkommenden Abrechnungen mit der 'totalen Vereinnahmung' und 'realkapitalistischen Ausweglosigkeit' einerseits – und andererseits von Beiträgen oder Passagen, diein Popmusikstücken Widerstandsformen entdecken wollen, nicht nur (oder gar nicht) in deren Textbotschaften oder den (subkulturellen) Gruppen, die sie hören, sondern auch (oder gerade) in deren 'Sound' bzw. 'ästhetischem Material.'"

+++ Wie Musikjournalisten mit der Corona-Pandemie umgehen - darüber habe ich nebenan (für die MDR-Rubrik "Medien im Krisenmodus") geschrieben.

+++ "Wir brauchen eine neue Medienpolitik" lautet die Überschrift eines langen Riemens, den Hamburgs Kultusenator Carsten Brosda und Wolfgang Schulz, Direktor des Hans-Bredow-Instituts, für die FAZ-Medienseite (€) verfasst haben. Wer mag dieser schmissigen Forderung schon widersprechen? Der hölzerne, nominalstillastige Jargon des Artikels regt allerdings nicht unbedingt dazu an, sich mit dieser Forderung länger zu beschäftigen. Brosda/Schulz schreiben unter anderem: "Die Legitimation öffentlich finanzierter Medienangebote (…) bedarf einer neuerlichen gesellschaftlichen Begründung, die (…) an der strukturellen Ergänzung zweier Logiken der Produktion medialer Inhalte (ansetzt): Erst in der Gesamtschau privatwirtschaftlicher und außenplural wettbewerblich organisierter Angebote auf der einen und öffentlich-rechtlicher und binnenplural gemeinwohlorientierter Angebote auf der anderen Seite lässt sich vermuten, dass die Selbstbeobachtung einer demokratischen Gesellschaft ohne blinde Flecken gelingt. Zumal dann, wenn beide Logiken gleichermaßen kooperativ wie kompetitiv aufeinander bezogen sind." Besonders der zweite Satz ist ein krasses Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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