Teasergrafik Altpapier vom 11. Juni 2020: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 11. Juni 2020 Zwischen Mitleid und Dämonisierung

17. Juni 2020, 14:07 Uhr

Die Berichterstattung über Kindesmissbrauch scheint sich durch die vermehrt bekanntgewordenen Fälle etwas zu verändern. Schablonenhafte Bilder und problematisches Framing gibt es aber weiterhin. Auch die Angewohnheit, aus Meinungsumfragen übereilte Schlüsse zu ziehen, scheint nicht zu verschwinden. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Missbrauchs-Berichterstattung: Stereotype und Framing

Ein Thema dominiert seit vergangenem Wochenende das Nachrichtenkarussell: Seit Bekanntwerden der Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern in Münster ist das teils tabuisierte und sensible Thema sehr präsent. Caroline Fetscher und Maria Fiedler kritisieren in einem Text für den Tagesspiegel:

"Berichterstattung über Missbrauch und Misshandlung von Kindern findet immer dann statt, wenn schwere Taten öffentlich werden. Das vermittelt den Eindruck, es handle sich um schlimme Einzelfälle. Tatsächlich aber sind Missbrauch und Misshandlung für viele Tausend Kinder weltweit Alltag, auch in Deutschland. 2019 wurden laut Kriminalstatistik jeden Tag durchschnittlich 43 Kinder Opfer von sexueller Gewalt."

Sensationalisierung und Stereotypisierung gehören laut Nicola Döring und Roberto Walter von der TU Ilmenau zu häufigen Problemen der Berichterstattung über sexuelle Gewalt gegen Kinder.  In dem Artikel "Medienberichterstattung über sexuellen Kindesmissbrauch: Ein Modell themenspezifischer Qualitätskriterien" (€) definieren die Psychologin und der Kommunikationswissenschaftler zehn Kriterien für eine gute Berichterstattung zu dem sensiblen Thema.

Dazu gehören unter anderem:

  • thematisches Framing

  • Verzicht auf Stereotypisierung

  • Brücksichtigung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen

  • Verzicht auf Sensationalisierung

  • angemessene Begrifflichkeiten

Den ersten Punkt kann man teilweise auf die Kritik im Tagesspiegel beziehen. Aktuell lässt sich oft ein episodisches Framing beobachten: Wenn ein Missbrauchsfall öffentlich wird, wird das Thema im Nachrichtenzyklus groß. Dabei geht es dann eben oft um eine ereignisorientierte Herangehensweise und den aktuell bekanntgewordenen Fall. Das größere Problem des statistisch gesehen recht weit verbreiteten Kindermissbrauchs (ein bis zwei Kinder pro Schulklasse) wird mittlerweile durch die vermehrt bekanntgewordenen Straftaten allerdings auch etwas genauer eingeordnet.

Dabei kommen aber weiterhin oft schablonenhafte Bilder von Täter:innen und Opfern zum Einsatz. Betroffene werden oft eindimensional als bemitleidenswerte Opfer dargestellt. Eine realitätsbezogene Berichterstattung über Menschen, die Missbrauch bewältigen und ein selbstbestimmtes Leben führen, ist im aktuellen Nachrichtenzyklus eher selten zu beobachten.

Beim Blick auf Täter:innen geht es außerdem oft vorrangig um Strafen. Andere wichtige Themen wie frühes Erkennen von pädosexuellen Neigungen und wirksame Prävention kommen Erhebungen zufolge seltener vor. Letzteres spielt mittlerweile, wahrscheinlich durch die Häufung der bekanntgewordenen Fälle, in einem recht großen Teil der Berichterstattung eine Rolle. Allerdings werden dabei weniger die Täter:innen, sondern vor allem die Kinder in den Blick genommen (Was tun bei Verdacht auf sexuelle Gewalt? Welche Anzeichen zeigen Kinder? etc).

Täter:innen werden weiterhin oft dämonisiert, was eine genauere Betrachtung verhindert. Dementsprechend gibt es im aktuellen "Fall Münster" so gut wie keine Berichterstattung über Empfehlungen für Menschen, die Vermutungen zu einem potentiellen Täter haben. Frauen als Täterinnen in Betracht zu ziehen ist in Deutschland weiterhin tabuisiert, wohl durch die Zuschreibungen fast schon mythischer gesellschaftlicher Weiblichkeits- und Mutterbilder.

Schiefe Vergleiche, problematische Begriffe

Zu einer guten Berichterstattung gehört auch, Begrifflichkeiten genau zu prüfen und nicht auf jedes griffige Zitat anzuspringen. So sprach z.B. der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig, mehrfach von "pandemischen Ausmaßen", die sexuelle Gewalt gegen Kinder in Deutschland habe. Das ZDF übernahm den Begriff in einer Überschrift, der WDR machte sich das Wort "pandemisch" im Text zu eigen und auch die Welt band es prominent für die Beschreibung der Situation ein.

Der Vergleich ist allerdings schiefer als die Hamburger Oberhafen-Kantine. Gemeint ist zwar der Umfang der Taten. Der Bezug zur Pandemie suggeriert aber auch, sexueller Missbrauch sei auf irgendeine Art und Weise ansteckend. Das grenzt an Verharmlosung und Relativierung. Die Vorstellung, der Hang zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder sei ansteckend, spricht einerseits den Täter:innen die Verantwortung ein Stück weit ab. Andererseits relativiert es das Leid und die Folgen für die Kinder, weil sie in einem solchen Szenario lediglich passive Leidtragende sind, die unter dem Ausbruch einer Krankheit leiden. Dass sie aktiv verletzt/missbraucht/traumatisiert wurden, gerät in den Hintergrund.

Auch den weiterhin verbreitete Begriff "Kinderschänder" ist problematisch. Darin steck einerseits Emotionalisierung und andererseits die Vorstellung, ein Kind sei geschändet worden und habe es nun mit einer Schande zu tun bzw. an Ansehen verloren. Was als "Schande" gesehen wird, ist historisch und kulturell sehr unterschiedlich. Der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch ist aber in Gesetzen und Konventionen als allgemeingültig festgeschrieben und nicht verhandelbar.

Umfragen und übereilte Schlüsse

Aus Umfragewerten übereilte Schlüsse zu ziehen gehört wohl zu den häufigsten Übersprungshandlungen im Journalismus. Aktuelles Beispiel: die AfD. Mely Kiyak wirft in ihrer aktuellen "Deutschstunde"-Kolumne bei der Zeit einen Blick auf die Berichterstattung über eine Kantar-Umfage vom vergangenen Wochenende:

"es klang wie Entwarnung. 'Die Wutmaschine funktioniert nicht mehr' (Tagesspiegel), 'verliert an Zuspruch', (Süddeutsche Zeitung), 'verliert an Anziehungskraft' (Stuttgarter Zeitung), nahezu überall konnte man ähnliche Wasserstandsmeldungen nachlesen, 'abgeschlagen', 'Partei ohne Kompass' und so weiter."

Emotionalisierung, Überinterpretation, Blick in die Glaskugel, Floskelfeuerwerk: Alles check.

Im Kontrast zu rassistisch motivierten Morden und Straftaten (Halle, Hanau, Lübcke) wirkten diese Abfragewerte wie Beschwichtigungsversuche, kritisiert Kiyak:

"Mag sein, dass im Moment die AfD seltener gewählt werden würde, aber über das Verhältnis der Wähler gegenüber Flüchtlingen, Muslimen, Juden, Schwarzen oder anderen Minderheiten sagen diese Zahlen nichts aus. Weniger Mandate in Parlamenten bedeuten nicht weniger Menschenfeindlichkeit im Bürgertum. Die Zahl der rechtsradikalen Anschläge, Attentate und Beleidigungen nimmt nicht ab."


Altpapierkorb (Bento wird eingestellt, Leuchtturm-Preis, Rezo, Liste mit Beiträgen zur Corona-Berichterstattung)

+++ Ende für Bento: Der Spiegel stellt sein junges Portal ein. Bei der taz berichtet Volkan Agar: "Das Zielpublikum unter 30 Jahren möchte der Spiegel-Verlag von da an mit einem neuen Angebot bedienen, das derzeit noch den Arbeitstitel 'Spiegel Start' trägt." Bento sei auch durch Verluste in der Corona-Krise "nachhaltig in die Verlustzone geraten", schreibt Alexander Krei bei dwdl.de.

+++ Der Leuchtturm-Preis des Netzwerks Recherche geht in diesem Jahr an Andrea Röpke, Julian Feldmann und Anton Maegerle für ihre Recherchen zur rechten Szene: "Besonders beeindruckend ist für uns, dass alle drei Preisträger/innen als Freie, also ohne den Schutz einer Redaktion, sich durch all diese Anfeindungen der rechten Szene nicht einschüchtern lassen und so uns allen immer wieder wichtige Einblicke in diese gefährliche Szene ermöglichen". Einen Sonderpreis bekommt das Science Media Center für die Unterstützung von Journalist:innen bei der Berichterstattung über wissenschaftliche Themen.

+++ Neue Geschäftsideen: Ein Zeitungsverlag in Ostwestfalen kooperiert in der Corona-Krise mit lokalem Handel und liefern Waren aus. Michael Borgers berichtet für "@mediasres".

+++ Freie Fotojournalist:innen fordern von der Fotoagentur Imago Images, ihre Bilder nicht an rechte oder rechtspopulistische Medien zu verkaufen, berichtet Florian Sturm bei Übermedien. Bisher ohne Erfolg.

+++ Für epd Medien habe ich eine Liste mit Texten, Videos und Audios zu verschiedenen Aspekten der Corona-Berichterstattung zusammengestellt. Es geht um Medienkritik, Medienforschung, Wissenschafts- & Datenjournalismus, Verschwörungstheorien & Desinformation, Pressefreiheit & internationale Berichterstattung und ökonomische Aspekte des Journalismus in der Pandemie.

Neues Altpapier gibt‘s am Freitag.

Hinweis: Wir haben einen Absatz am Ende dieses Artikels entfernt, der die Nachrufe zum Tod von Christoph Sydow erwähnte. Der "Altpapierkorb" ist eine wichtige Rubrik dieser Kolumne, in der die Autorinnen und Autoren Texte des Tages zusammenstellen, die trotz ihrer Relevanz nicht im Hauptteil der Kolumne betrachtet werden konnten. Allerdings wurden wir darauf hingewiesen, dass die Erwähnung der Nachrufe in diesem Rahmen als unpassend angesehen werden kann. Wir bedauern dies und bitten um Entschuldigung. 

(Anm. d. Redaktion vom 17. Juni 2020)

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