Teasergrafik Altpapier vom 10. August 2020: Porträt Autorin Jenni Zylka
Bildrechte: MDR / MEDIEN360G

Das Altpapier am 10. August 2020 Was ist eine Kanzelpredigt?

10. August 2020, 10:45 Uhr

Über die Debatte um "Cancel Culture“, und den Export eines ultratelegenen Formats in ein ultratelegenes Land, das keine Nippel sehen kann. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

ESC und ASC

Zunächst die gute Nachricht (oder ist es die schlechte?): Der Eurovision Song Contest (ESC), Hüter der Opulenz, Hohepriester des Camp und Kitsch, Meister der "so schlecht dass es schon wieder gut ist"-Munterkeit, und nebenbei die größte, fröhlichste, musikalischste und europäischste Queer-Party der Welt, wird in die USA exportiert. Weil: erstens funktioniert das Format. Zweitens hat Will Ferrell als Ehemann einer Schwedin angeblich seit 1999 (und damit Schwedens Sieg mit Charlotte Nilsson, na DAS war ja wirklich überhaupt kein Ohrwurm, bei aller Liebe) einen Faible für den absurd-toleranten Schlager-Eurotrash-Balladen-Rock-Folk-Move und produzierte (und spielte) darum kürzlich die putzmuntere Satire "Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga", die für Netflix ein absoluter Riesenerfolg wurde, seit letzte Jahr wird der ESC tatsächlich auch beim Streamingportal angeboten, also wieso soll man mit dem neugefundenen Interesse nicht weiterarbeiten. Und drittens but not least: Den ESC 2019 haben 140 Millionen Zuschauer*innen über europäische Fernsehsender geschaut, 40 Millionen dazu auf YouTube verfolgt. Wenn das kein amtlicher Grund ist: Hier winkt endlich mal wieder eine Möglichkeit des digitalen Lagerfeuers.

Die FAZ bleibt in ihrer Berichterstattung zu dem schreienden Thema dennoch eher nüchtern, und listet Fakten auf (wer ist verantwortlich? Schweden und ein US-amerikanischer Produzent, wie wird es aussehen? "Kunst und Schönheit von Performances auf Weltniveau", und was noch? Irgendwo in einer Pipeline stecke auch ein "Asia Song Contest"). Der Spiegel hält sich beim Kreischen ebenfalls erst einmal fürnehm zurück.

Die Berliner Morgenpost dagegen erkennt und "fühlt", wie man im American English sagen könnte, die Sache etwas stärker. Sie konstatiert trocken:

"So oder so gehen die zwölf Punkte nach Amerika."

Was tun bei "Wardrobe Malfunction"?

Stimmt genau, aber so ein Eastcoast-Westcoast-Battle oder eine Cajun-Sause gegen einen Appalachen-Song könnte schon sehr hübsch sein. Vor allem, wenn die strengen us-amerikanischen Fernsehauflagen, die 2004 (immer wieder unfassbar! So genannte Wardrobe Malfunction!) zu Janet Jacksons Nipplegate und den daraufhin von den größten US-Sendern abgesprochenen Zeitverzögerung bei Live-Übertragungen geführt hatten, sich plötzlich (hoffentlich) mit glücklichen, stolzen queeren und trans Künstler*innen konfrontiert sehen, denen vielleicht nicht nur die eine oder andere Mamille, sondern auch die eine oder andere Parole rausrutscht. Es kommt natürlich ein bisschen darauf an, wo das Spektakel letztlich zu sehen sein wird: Das US-Kabelfernsehen ist toleranter als das terrestrische. Und die Streamingportale zeigen eh alles.

Wenn schon canceln dann jawohl Mario Barth!

Jetzt aber die schlechte Nachricht (oder ist es die gute?): Wenn schon canceln dann jawohl Mario Barth! Stattdessen beziehen sich heuer alle Texte zum Thema "Cancel Culture" auf die Geschehnisse um Lisa Eckhart, kurz die Eckdaten: Die österreichische Kabarettistin ist just von einem Hamburger Literaturfestival ausgeladen worden, auf dem sie eigentlich ihren neuen Roman vorstellen wollte. Der Veranstalter spricht von Drohungen aus der autonomen Szene, die ihn zum Canceln bewegt hätten – diese Szene werfe Eckhart vor, in ihren Gags rassistische und antisemitische Klischees zu bedienen (es gab einen älteren Woody Allen-Witz, an dem sich viel entzündete – die Zeit hatte damals davor gewarnt, dass das "Kabarett zur Wutbürgerhölle verkomme", Volker Beck hatte sogar Programmbeschwerde beim WDR eingelegt, in dessen Sendung "Mitternachtsspitzen" Eckhart aufgetreten war. Auch FAZ und Spiegel kommentierten und berichteten kritisch. Samira El Ouassil warf nach einer kleinen Satireanalyse:

"Satire braucht - um als Satire funktional und eben nicht einfach nur Provokation oder Tabubruch zum Selbstzweck zu sein - bei allen Ebenen der Uneigentlichkeit und bei jeder Hintersinnigkeit ein Ziel, gegen das sich die komische Abwertung richtet.“

folgende Fragen auf:

"Über wen oder was macht sich aber Eckhart genau lustig, wenn sie das antisemitische Klischee des geldgierigen Juden evoziert? Über Antisemiten, die so denken? Über die von ihr behauptete moralische Ambivalenz, die eine Gesellschaft aushält, wenn sich Zugehörige marginalisierter Gruppen amoralisch verhalten? Mokiert sie sich über die Selbstreflektion einer progressiven Gesellschaft, die vermeintliche Redeverbote über angeblich unantastbare Bevölkerungsgruppen erteilt?“)

So war das also damals.

Ist Canceln ein Gespenst?

Den neuerlichen Verlauf um die angekündigte, abgesagte Eckhart-Veranstaltung und die sich daran entzündenden Diskussionen um Cancel Culture fasst die Zeit hier zusammen, und konstatiert:

"Die sogenannte Cancel Culture ist ein Gespenst heutiger Tage. Es besteht im Wesentlichen aus dem Gerücht, dass Menschen mit missliebigen politischen Ansichten heutzutage ausgegrenzt würden bis hin zur Vernichtung ihrer beruflichen Existenz. Wer wen warum angeblich cancelt, ist eine komplizierte Sache, ebenso wie der Nachweis, dass Cancel Culture wirklich am Werk war oder ist. Aber recht häufig wird einer wie auch immer konstituierten Linken eine heftige Cancel-Neigung unterstellt.“

Am Ende kommt man zu folgendem Schluss:

"Der Witz an Gespenstern ist nun aber dieser: Es ist völlig egal, wenn man ganz viel über sie redet, es belegt ihre Existenz nicht einen Deut mehr, es macht ihre Existenz nicht einmal wahrscheinlicher. Es spukt dann bloß in mehr Köpfen.“

Der Spiegel portraitiert Lisa Eckhart hier, nicht ohne Faszination, aber auch mit viel Zweifel. Die taz stellt sich dagegen auf den Standpunkt, dass "Satire wehtun dürfen müsse", und findet:

"Es lohnt sich, weniger in Opfer- oder Menschengruppen zu denken. Jeder ist auf seine Art borniert.“

Der Tagesspiegel positioniert sich in seiner sachlichen Beschreibung der Geschichte irgendwo dazwischen und stellt fest:

"Einen eigenwilligeren Neuzugang als die in Leipzig lebende Österreicherin hat die in Kumpeltypen ersaufende deutschsprachige Comedyszene seit Jahren nicht gesehen.“

Ganz interessant ist, dass sich die Debatte um die Inhalte für ein wie auch immer geartetes Canceln durch Diskurse wie diesen immer mehr mit der "Cancel Culture" an sich vermischt – klar, das gehört selbstredend zusammen, aber der Spiegel hatte vor einer Woche schon einmal den saubereren Umgang mit dem Begriff angemahnt:

"Begriffe wie Cancel Culture arbeiten gegen diese Realität an, sie suggerieren klare Kanten, wo es keine gibt. Wer sie weiterhin unkritisch verwendet, sorgt so genau für die Polarisierung, die er vorgibt zu bekämpfen.“

Und ich bin sicher, wenn man das Canceln einfach nicht "Culture" nennen (und ihm damit Bedeutung zuschustern), sondern Sinn und Unsinn schlichtweg in jedem Fall neu evaluieren würde, hätte man den gleichen, sogar einen transparenteren Effekt. Ohne, dass jemand eine Schippe ziehen müsste. (Und ich meine keine Schaufel.)


Altpapierkorb ( ...mit staatlichen Pressefördergeldern, schickem Insta-Protest, dem Aus des Instituts für Rundfunktechnik und einer journalistischen Hoffnung)

+++ Die taz berichtet hier umfassend über die Idee, dass die deutsche Presse Fördermittel vom Staat bekommen könnte – hochbrisant. Wird uns noch öfter begegnen.

+++ Und hier wird, auch in der taz, nochmal das seit ein paar Tagen schwelende Thema des Insta-Protests aufgegriffen, und die Frage gestellt, ob und ab wann politische Symbole zu Modeaccessoires werden. (Andererseits: manchmal denke ich, dass man auch bei amtlichen, alt-modischen (!) politischen Straßendemonstrationen nie genau wissen konnte, ob wirklich alle gleich stark hinter der Sache stehen...)

+++ Die Süddeutsche berichtet vom Aus des Instituts für Rundfunktechnik, und kommt nach Recherche zu folgender Erkenntnis: "Und hier liegt der Knackpunkt: "Technische Qualität ist längst nicht mehr so wichtig wie Inhalte. Der Zuschauer soll sehen, wofür wir sein Geld ausgeben", sagt NDR-Produktionsdirektor Sascha Molina. Heißt: Bevor man im Programm spart, spart man lieber bei der Technik."

+++ In der gleichen Zeitung wird zudem eine neue Sensibilität im Journalismus ausgemacht, und als "hyperkritisches Bewusstsein“ vor allem jüngerer Menschen analysiert. Das "institutionelle Gatekepping" könne aber vielleicht auch zu einer "Weiterentwicklung journalistischer Ideale jenseits von Fairness und Diversity" führen. Ich sag’s ja immer: Debatten lassen sich erst ad acta legen, wenn sie suffizient geführt worden sind. Und da dauert eben manchmal.

Das nächste Altpapier gibt es am Dienstag.

0 Kommentare