Teasergrafik Altpapier vom 4. September 2020: Porträt Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 4. September 2020 Fool, Britannia!

04. September 2020, 09:55 Uhr

Die BBC eiert hin und her während Fahnen im Wind geschwenkt werden. Und amazon drängt Kund*innen Weltverschwörung auf. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Killer Jokes und Sklaverei

Es gibt ja Menschen, denen ist die Instrumentalversion der inoffiziellen britischen Nationalhymne "Rule Britannia!" (von 1740) vor allem aus dem Monty Python-Sketch über den "Funniest joke in the world" geläufig... ich muss ja nicht ins Detail gehen, weil dieser Witz (zurecht) einer der bekanntesten der Truppe ist, aber ganz kurz, falls ihn doch jemand vergessen hat: Ein britischer Witzerfinder denkt sich mitten im zweiten Weltkrieg einen Witz aus, der so lustig ist, dass man sich totlacht, wenn man ihn hört. Die britische Armee lässt den Witz darum vorsichtig (Wort für Wort) ins Deutsche übersetzen, um ihn erfolgreich als fatale Kriegswaffe gegen die Krauts zu nutzen. Am Ende des erstmals in einer "Monty Python’s Flying Circus"-Folge ausgestrahlten Sketches erklingt dann jedenfalls ganz kurz "Rule, Britannia!". Ohne Lyrics.

Und dieser Vorlauf ist so lang, weil das alles erstaunlich gut zum Thema "Patriotische Hymnen – ja oder nein?" in Bezug auf die "Last Night of The Proms" (am 12.9.) passt. Wir erinnern uns: Die augenscheinlichen "Proms"-Hits (man lernt nie aus!) "Rule, Britannia!" und "Land of Hope and Glory", die anscheinend alljährlich verlässlich inselübergreifend und fähnchenschwenkend mitgegrölt werden, sollten wegen textlicher Bezüge zu Sklaverei nur als Instrumentalversion zum Besten gegeben werden. Kollege Steffen Grimberg hatte sich der Chose just angenommen, und in der taz den Zusammenhang zwischen Boris Johnsons Reaktion auf die Ankündigung der BBC, und dem Wunsch der Konservativen erklärt, bei der Gelegenheit gleich den als "linksliberal" verschrienen Sender zu zerschlagen:

"Das Ganze ließe sich als spleenig-britische Posse abtun, wenn es den Konservativen nicht so ernst mit der Zerschlagung der für sie schlicht zu unbequemen BBC wäre. Und was macht der neue BBC-Chef Tim Davie? Er springt brav über die Stöckchen, die ihm die BBC-Gegner*innen hinhalten. Davie nennt als sein Hauptziel "sicherzustellen, dass die BBC "jeden Teil unseren Landes repräsentiert". Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch so abgedriftet wie Johnson und sein durchgeknallter Top-Berater Dominic Cummings behaupten, ist die BBC nicht. Das belegen aktuelle Umfragen und Nutzungszahlen."

Lyrics ja oder nein?

Diese Seite der Debatte bezieht sich also auf das komplexe Verhältnis zwischen der BBC und den britischen Machthabenden. Aber auch der eigentliche Diskurs um die Sinnhaftigkeit der Songaufführung mit oder ohne Text geht weiter, wie die Welt berichtet:

"Nach heftiger Kritik will der britische öffentlich-rechtliche TV-Sender BBC nun doch das Singen patriotischer Hymnen bei dem Musik-Festival "Last Night Of The Proms" erlauben. "Eine ausgewählte Gruppe von BBC-Sängern" werde die beiden Lieder "Rule Britannia!" (Herrsche, Britannien!) und "Land Of Hope And Glory" (Land der Hoffnung und Herrlichkeit) singen, teilte die BBC am Mittwoch mit."

Hier ist die Original-Erklärung der BBC zu ihrer Entscheidung, die Songs nun, Überraschung, doch mit Text zu performen. Und das, obwohl man nach Kritik von (unter anderem) der Kontrabassistin und Gründerin des aus ethnischen Minderheiten bestehenden Chineke!-Orchesters etwas anderes angekündigt hatte. Erhellend sind daran vor allem die folgenden Passagen:

"The U-turn follows fierce criticism sparked by reports that the lyrics were being dropped due to associations with colonialism and slavery. Last week, the BBC said the decision to perform orchestral-only versions was prompted by Covid-19 restrictions."

Diskussion ist überfällig

Die BBC behauptet also, ihre Entscheidung habe von Anfang an gar nichts mit der Kritik zu tun gehabt. Aber dieser Drops ist vermutlich gelutscht – hier ist ein nicht uninteressantes BBC-Streitgespräch zwischen Inaya Folarin Iman, einer Politikerin der rechtspopulistischen, EU-kritischen Brexit-Party, und Kehinde Andrews, Professor für Black Studies an der Universität Birmingham.

Iman ist darin überzeugt, dass der Song inzwischen sein Image geändert habe, wofür zum Beispiel geschwenkte LGBT Flaggen während einer Aufführung ein Beweis seien, und überhaupt sollte man kein "Narrativ des Selbst-Verachtens weitergeben", "Rule, Britannia!" brächte schließlich viel Freude. Andrews dagegen konstatiert, dass die Diskussion über Lieder wie dieses (und das aus den gleichen Gründen inkriminierte "Land of Hope and Glory") längst überfällig sei: "Dass wir erst jetzt drüber reden ist der echte Skandal". Rule Britannia sei "rassistische Propaganda", weil es aus einer Zeit kommt, in der Großbritannien die größte Sklavenhalternation der Welt war.

Womit er Recht hat, insofern ist die Diskussion noch lange nicht beendet – und meine Hoffnung, diesen auch mir vertrauten Melodien vielleicht mit ein paar neuen, nicht mehr rassistisch verdächtigen Textfassungen ihre eindeutige politische Brisanz zu nehmen, ich dachte etwa an "Cool, Britannia! Britannia you’re my fave!" oder auch "Fool, Britannia! I send you to the grave", die sehe ich nicht. (Dabei könnte das Ganze gut als Beispiel für eine musikalische Dysphemismus-Tretmühle herhalten.) Hier ist für den Übergang aber noch schnell eine unverdächtige Version von "Land of Hope and Glory", nämlich von Madness (1982).

Bitte eine große Portion Kobe-Rind

Eine sehr gute Idee, ebenfalls aus dem Bereich Öffentlich-Rechtliche Sendeanstalten, beschreibt hier der journalist:

"In Sachsen-Anhalt könnte die von den Ministerpräsidenten beschlossene Erhöhung des Rundfunkbeitrags scheitern. Ob eine Mehrheit für die Beitragserhöhung zustande kommt, hängt auch davon ab, ob die Linke im Magdeburger Landtag zustimmt. Doch sie erwartet, dass die Intendanten auf künftige Gehaltssteigerungen verzichten."

Es geht natürlich unter anderem um die bereits in diesem Altpapier erwähnten fast 400 000 Euro Grundgehalt des WDR-Intendanten Tom Buhrow, ein stolzes Sümmchen, zu dem es wirklich schwer fällt, nichts zu sagen. Nur die Intendanten und Intendantinnen, die sagen momentan noch nicht soviel dazu, weiß der journalist:

"Bei den Sendern hält man sich bedeckt: Das Thema sei bei den Intendanten angekommen, ist zu hören. Heißt wohl: Im Intendantenkreis wird man in diesen Tagen darüber diskutieren, wie man mit der Forderung der Linken umgehen wird."

Uiuiui, ob da nicht gerade, genau in diesem Augenblick, irgendwo ein Intendant mit Freunden beim Essen sitzt und befürchtet, dass alle denken könnten er sei der Mega-Krösus...? Und vor Wut den Teller mit dem Kobe-Rinderfilet vom Tisch schlägt, um hernach den Ärger mit ein paar Gläsern 1907er Heidsieck herunterzuspülen, gefolgt von einem Tässchen Jamaica Blue Mountain Kaffee... ich hör ja schon auf.

Wenn Ihnen das gefallen hat, mögen Sie auch Weltverschwörung

Aber einer geht ja immer noch rein (vor allem wenn man gerade an Heidsieck dachte), darum: netzpolitik hat zum Thema Desinformation geforscht, und beweist, dass der Online-Mogul Amazon "eine Schleuder für Verschwörungsmythen" ist:

"Die Plattform preist Verschwörungserzählungen, Antisemitismus und Desinformation ebenso an wie wissenschaftlich fundierte Sachbücher. Amazon, eines der wertvollsten Unternehmen der Welt, hat diese Bücher nicht einfach nur im Sortiment, seine Algorithmen setzen sie Kund:innen auch noch prominent vor die Nase."

In diesem umfassenden Beitrag beschäftigen sich die Mitarbeiter mit der Erforschung der verschiedenen Empfehlungsebenen, und wie schnell diese ins Abstruse, Verschwörerische und Rechtsextreme abdriften. Leider lässt sich der katastrophale Zustand nicht wirklich erklären, so lange man nicht weiß, wie die Algorithmen des Konzerns angelegt sind – und inwiefern sie absichtlich in diese Richtungen programmiert wurden. netzpolitik schreibt:

"Wir haben Amazon per E-Mail die Ergebnisse unserer Recherche vorgelegt und eine Liste mit zehn Fragen geschickt. Unter anderem wollten wir wissen, ob dem Konzern das Ausmaß von rechtsextremen und verschwörungsideologischen Inhalten in seinen Suchergebnissen und Empfehlungen bekannt sei. Wir fragten auch, inwiefern Amazon die Verbreitung dieser Bücher eindämme. Keine einzige unserer Fragen wollte der Konzern beantworten."

Hoffentlich gibt es bald eine Reaktion – ich bin gespannt.


Altpapierkorb (Ex-Kanzler-Biograf, TV-Fußballexperten, "Kommentar" vs. "Meinung")

+++ Es gibt Neues im Fall Maike Kohl-Richter gegen Heribert Schwan, den Kohl-Biografen: Wie die Berliner Zeitung, der Tagesspiegel, Deutschlandfunk und diverse andere berichten, unterlag der ehemalige Memoirenschreiber, dessen Zerwürfnis mit Kohl zum Ende der beruflichen Beziehung führte, vor dem BGH der Witwe. Angeblich will sie im nächsten Schritt die Herausgabe erstreiten. "Gesagt ist gesagt" ist eben ein schwieriger Spruch, vor allem im Zusammenhang mit Politik.

+++ Der Tagesspiegel denkt des Weiteren über Sinn und Zweck von TV-Fußballexperten nach – die nächste Saison steht ja quasi vor der Tür und hofft auf echte Fans im Stadion.

+++ Und hier der Kommentar der taz zu der Umbenennung der ARD-Tagesthemen-Rubrik "Kommentar" in "Meinung" (was übrigens jetzt in einer hübschen kleinen Comic- bzw. Chat-Sprechblase daherkommt, um die Verbindung des Senders mit dem jungen Publikum zu verdeutlichen. Das wäre jedenfalls meine Meinung.

Neues Altpapier gibt es am wieder am Montag. Schönes Wochenende!

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