Teasergrafik Altpapier vom 23. September 2020: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 23. September 2020 Pro Pro & Contras

23. September 2020, 10:01 Uhr

Volker Herres will zurücktreten, aber nicht ohne aus der ARD-Mediathek einen "für möglichst viele Nutzer attraktiven Streamingdienst" gemacht zu haben. Die "Tagesthemen" wollen das alte Pro-und-Contra-Genre neu beleben. Ups, Presse- und Rundfunkfreiheit sind gar nicht dasselbe? Außerdem: Facebook droht bzw. macht Hoffnung, und rund um Horst Seehofers Innenministerium gibt's außer alten auch neue Aufreger. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Neue Programmdirektorin, neue Intendantin? (ARD-Personalien)

Die ARD, in deren gewaltigem Angebot auch diese Kolumne erscheint, ist eines der großen Leuchtturm-Flaggschiffe der deutschen Medienwelt. Also was Programmfarbe, -plätze und so was angeht, auf Jahre hinaus verlässlich, aber nicht gerade wendig. Im Moment jedoch tut sich so einiges. Nun hat einer ihrer wichtigsten Manager Einblicke in seine "Lebensplanung" gewährt und seinen ein bisschen vorzeitigen Rücktritt angekündigt, vor dem er jedoch noch "eine ganz wichtige Weichenstellung weiter auf den Weg" gebracht haben will.

Volker Herres, ARD-Programmdirektor seit beinahe Menschengedenken und "38 Jahre öffentlich-rechtlicher Rundfunk, davon der Großteil in wechselnden Führungsfunktionen", hört im kommenden Frühjahr auf. Und die ARD soll bis dahin "neben dem Ersten", also dem gleichnamigen lineare Fernsehprogramm, "gleichwertig" "einen für möglichst viele Nutzer attraktiven Abruf- und Streamingdienst" am Laufen haben. (Und die eine oder andere Weiche wurde bereits in eine sympathische Richtung gestellt: zum ARD-Start der neuen "Babylon Berlin"-Staffel auch mal "Filmklassiker der 20er" und frühen 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts in der Mediathek anzubieten, also überwiegend stumme Filme – sozusagen audiovisuelles kulturelles Erbe –  statt ausschließlich die eigene Krimi-Überproduktion der jüngsten Vergangenheit, ist eine gute Idee.)

Eine erste Würdigung des für klassische Medienjournalisten präsenten Wegbegleiters schrieb Claudia Tieschky für die SZ: Herres "steht für eine spannungsreiche Mischkalkulation aus Quote und gesellschaftlich-künstlerischem Auftrag im Programm - wobei in den vergangenen Jahren unter dem Rechtfertigungsdruck der Öffentlich-Rechtlichen eine stärkere Wertschätzung für gesellschaftlich wichtige Themen zu beobachten war." (Und "spannungsreich" bezieht sich vermutlich nicht auf Herres' Engagement fürs spannend gemeinte Krimi-Genre). Eher Salz streut dagegen dwdl.de, wo Alexander Krei an die tatsächlich ermittelten Einschaltquoten, an Vertragslaufzeiten sowie an Zitate wie "Mir fällt aktuell kein weibliches Pendant etwa zu Kai Pflaume ein ..."erinnert.

Außerdem verkündete dwdl.de als erstes, dass künftig ein weibliches Pendant zu Herres das ARD-Programm leiten soll. Die Nachfolge werde Christine Strobl antreten, die als Degeto-Chefin  ja für ziemlich vieles steht, was das aktuelle ARD-Publikum am ARD-Programm schätzt. Wozu wiederum passt, dass beim Bayerischen Rundfunk, bei dem der Intendanten-Posten ebenfalls etwas früher als erwartet frei geworden ist, zwar "zum ersten Mal in der Sendergeschichte ... eine Frau gute Chancen" hat, jedoch nicht mehr Strobl, von der zunächst auch die Rede war, sondern MDR-Programmdirektorin Katja Wildermuth. Das berichtet Steffen Grimberg in der taz unter der herausfordernden Überschrift "Neue*r Chef*in des Bayerischen Rundfunks". In diesem Text steckt dann noch deutlich mehr, vor allem anonym geäußerte Kritik am noch amtierenden BR-Intendanten als in den zuvor erwähnten Texten an Herres. Auf dem Leuchtturm-Flaggschiff ARD gibt es zwar zahlreiche Führungsfunktionen, aber gemütlich geht es dort nicht überall zu.

Pro & Contra, Presse- & Rundfunkfreiheit

Im linearen Programm tut sich auch einiges, und nicht nur, dass die ARD einen der ganz großen alten weißen Männer des Fernsehens für frische Ideen ("... spricht mit Promis und anderen Gästen ...") wieder vor ihre Kameras holt.

Außerdem verdichteten sich die bereits rundgegangenen Andeutungen, dass bei den "Tagesthemen" ein neues "'Pro & Contra'-Format" eingeführt wird. "'Hin und wieder wird ein Thema aus zwei unterschiedlichen Richtungen beleuchtet'" sagte der der zweite ARD aktuell-Chefredakteur Helge Fuhst dem epd, was der Tagesspiegel zum Anlass einer kleinen Glosse nahm. Pro und contra, da war doch was? Jawoll: Vorige Woche ging es in René Martens' Altpapier "Journalismus ist kein Rhetorikseminar" um die Frage, ob "Pro und Contra"-Formate überhaupt noch zeitgemäß sind. Ein Anlass dafür war Diemut Roethers Kommentar in der aktuellen epd medien-Ausgabe, der inzwischen online steht. Nicht zeitgemäß, meint sie:

"Sie verhindern Differenzierung, denn die Autoren müssen sich ja entscheiden, ob sie dafür sind oder dagegen. Dabei zeigt doch die journalistische Erfahrung, dass die meisten Dinge nicht so schwarz-weiß sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen."

Um rasch die Contra-Position zu beziehen: In vielen journalistischen Medien, zumal in kurz getakteten wie den "Tagesthemen", spielt Differenzierung eher keine Hauptrolle. Ein gepflegtes Pro und Contra zu sinnvollen Themen könnte bestens in die Gegenwart passen, schon weil die Idee, dass es zu vielen Themen ohne Weiteres zwei oder noch mehr unterschiedliche, aber legitime Meinungen geben kann, deutlich mehr öffentliche und öffentlich-rechtliche Präsenz vertrüge als sie lange Zeit bekam.

Was noch in dieses Themenfeld passt: der medienpolitik.net-Gastbeitrag "Rundfunkjournalisten berufen sich zu oft auf die Pressefreiheit", auf den gerade Heiko Hilkers DIMBB-Newsletter aufmerksam machte. Der Rechtsanwalt Ortlieb Fliedner schreibt

"Presse- und Rundfunkfreiheit decken sich, soweit es darum geht, staatliche Einflüsse auf die Inhalte und Programme der Presse und des Rundfunks abzuwehren. Darüber hinaus bestehen aber zwischen beiden Grundrechten fundamentale Unterschiede. Für die Presse gilt der sogenannte Tendenzschutz, das heißt, dass der Verleger eine publizistische Tendenz festlegen kann, der sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterordnen müssen",

und der gilt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerade nicht. Zu den Pflichten, die dieser im Gegenzug für seine Rechte wie den Rundfunkbeitrag erfüllen muss, zähle "die verschiedenen in der Gesellschaft bestehenden Meinungen in ihrer Breite und Bedeutung darzustellen."

Fliedners natürlich streitbar gemeinter Text verdient diskutiert zu werden. Und der Gedanke, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk etwas anderes ist als die individuelle Lieblingszeitung, auch wenn beides sich formal immer weiter annähert und längst auf denselben Geräten genutzt wird, gehörte häufiger betont.

Facebook droht (oder macht Hoffnung)

Spannend baut sich in der Medienjustiz auch auf EU- bzw. sogar globaler Ebene auf. In Irland sind auf Druck des Europäischen Gerichtshof nach langer Anlaufphase (vgl. FAZ kürzlich) inzwischen Gerichtsverfahren mit mindestens europaweiter Bedeutung angelaufen, die gemäß EU-Recht dort losgehen müssen, weil die meisten kalifornischen Konzerne das Land als ihren EU-Sitz gewählt haben. Mit hinein ins komplexe Feld spielen das vom EuGH für unzulässig erklärte "Privacy Shield"-Abkommen zum angeblichen Schutz europäischer Daten in den USA und die von Max Schrems exemplarisch gegen den Datenkraken Facebook angeleierten Prozesse.

Nun hat Facebook eine 22-seitige eidesstattliche Versicherung (Dropbox/PDF) vorgelegt, in der es droht, sich aus dem aus dem Europa-Geschäft zurückziehen könnte. Bzw.: Ist das eine Drohung oder eher eine verlockende Aussicht? Es ist natürlich bloß ein strategischer Schritt des Facebook-Konzerns im Laufe eines vermutlich noch lang andauernden Verfahrens, das irgendwann in Luxemburg landen dürfte. Aber es ist spektakulär. Heute berichten Helmut Martin-Jung im Wirtschaftsressort der SZ und auf englisch der Guardian.

Seehofer wieder (taz-Klage-Frage, "lebenslange Personenkennziffer")

Horst Seehofer geht ... pardon: Horst Seehofer geht immer. Eigentlich ahnen bis wissen ja alle, dass Seehofer zu alt und/oder klug und/oder müde und/oder erfahren ist, um sich in den Shitstürmchen aufzureiben, die sich um ihn verlässlich entwickeln. Zumindest hat er die Mechanismen der Medien kennengelernt. Doch wenn Seehofer Stöckchen schmeißt, wird dankbar gesprungen. Nun hat der Tagesspiegel "interne Dokumente des Ministeriums, die auf Antrag des Tagesspiegels nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) jetzt erstmals freigegeben wurden", durchgelesen. Und enthüllt der Öffentlichkeit bislang womöglich unbekannt geblieben Überlegungen des Innenministeriums zum gewiss doofen, aber ja auch nicht in die Tat umgesetzten Plan, die taz oder Hengameh Yaghoobifarah wegen der doofen und veröffentlichten Kolumne "All cops are berufsunfähig" zu verklagen. Gibt's denn nix Wichtiges rund ums Innenministerium? Doch!

Einer der gestern hier erwähnten Big Brother Awards ging an "die Innenministerkonferenz der Bundesrepublik Deutschland", zwar "vertreten durch ihren Vorsitzenden Georg Maier, Innenminister von Thüringen", aber dass man diesen Namen beim Berichten gut durch den zugkräftigeren Seehofers ersetzen kann, hat der (gestern bereits verlinkte) Digitalistan-Bericht gezeigt. Der Negativpreis gilt Plänen, "auf der Basis der Steuer-Identifikationsnummer eine lebenslange Personenkennziffer einzuführen". Und genau das will "Innenminister Seehofer ... diese Woche beschließen", berichtet netzpolitik.org.

Seehofer "plante den Unterlagen zufolge den großen öffentlichen Aufschlag bei der Innenministerkonferenz in Erfurt", schreibt der Tagesspiegel zur taz-Klage-Frage. Vielleicht. Vielleicht aber haben klüger denkende Menschen im Innenministerium auch geplant, der Hauptstadtpresse eher irrelevante Aufreger zum Spielen zu geben, um das, was ihnen wichtiger –  aber anfechtbar – ist, ungestörter verwirklichen zu können.


Altpapierkorb (Somuncu "knallderb", "Verrat der Linken"?, Daphne Caruana Galizia-Buch, Online-Gewalt gegen Frauen, Linda Teutebergs Gesicht. Können Kickboxer Presseverlagen helfen? 104 Mio. Tiktok-Videos)

+++ Nach dem großen Aufregungserfolg der "Schroeder & Somuncu"-Startfolge ist die zweite Folge des Podcasts erschienen. Kann "Polizei, Trump, Fußball und Corona" das Niveau halten? Reingehört haben die Berliner Zeitung (die der ersten Folge übrigens eine Art Pro & Contra widmete, Links dazu im Artikel) und Michael Hanfeld für die FAZ ("Wer Serdar Somuncu tatsächlich für einen Rassisten und Sexisten und nicht für einen zwar knallderb auftretenden, aber klugen, bewusst sprechenden Kabarettisten und Menschen hält, der hat ihm noch nie richtig zugehört").

+++ Ermordete Journalisten I: Im FAZ-Feuilleton berichtet Jürg Altwegg vom Prozess gegen die Helfer der islamistischen Mörder der Charlie Hebdo-Redaktion und den Debatten in Frankreich: Der Anwalt der Zeitschrift, Richard Malka, "spricht vom großen 'Verrat der Linken': 'Solange es gegen die bourgeoisen Katholiken ging, unterstützte sie 'Charlie Hebdo'. Heute inszeniert sie ihren Gesinnungsterror und schreit nach Zensur'".

+++ Ermordete Journalisten II: Das Buch "Sag die Wahrheit, auch wenn deine Stimme zittert" mit Texten ihrer Mutter, das die Söhne der ermordeten maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia herausbrachten, bespricht die SZ-Medienseite.

+++ "Twitter versagt beim Schutz von Frauen vor Online-Gewalt" kritisiert Amnesty International, und Deutschlandfunks "@mediasres" sprach mit der ZDF-Journalistin Nicole Diekmann darüber.

+++ Frische uebermedien.de-Kolumen: Samira El Ouassil seziert das (auch in Form von Phoenix-Screenshots gewürdigte) große Kino in Linda Teutebergs Gesicht während der Parteitagsrede des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner (und bringt hinter der Bezahlschranke "Die Passion der Jungfrau von Orléans", also den Stummfilm von 1928, ins Spiel). +++ Und Michalis Pantelouris, der bei der Zeitschrift GQ ja selber für einen klassischen Presseverlag arbeitet, eruiert anhand wahrer Begebenheiten die Frage, ob erfolgreiche Kickboxer Presseverlagen neue Impulse geben können.

+++ Dokumentationen-Tipps: Heute empfehlen Annette Ramelsberger in der SZ und auch die FAZ die BR-Dokumentation "Ermittlungen? Eingestellt. Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen". Gestern empfahl die FAZ die MDR-Doku "Machtpoker um Mitteldeutschland". Beide laufen außer in den Dritten Programmen auch in der ARD-Mediathek.

+++ Und: "Die Kurzvideo-Plattform Tiktok hat im ersten Halbjahr gut 104 Millionen Videos aus seinem Dienst entfernt, weil sie gegen die Regeln der Plattform verstießen. Diese die Summe auf der ganzen Welt angebende Zahl stelle aber nur weniger als ein Prozent der insgesamt auf Tiktok hochgeladenen Videos dar ..." (aus einer dpa-Meldung im FAZ-Wirtschaftsresort).

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

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