Teasergrafik Altpapier vom 1. Dezember 2020: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 1. Dezember 2020 Haseloff geht es nur um sich

01. Dezember 2020, 12:48 Uhr

In der Debatte um die Rundfunkbeitragserhöhung überschlagen sich dank Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff die Ereignisse. Die Regionalzeitungen leiden mittelbar unter der Konzentration im Lebensmittelhandel. Aus dem Hashtag #Baseballschlägerjahre wird eine Doku-Reihe. Ein Altpapier von René Martens.

Die wachsende Gefahr für Journalisten

Die US-Medien nach Trump - das war im Altpapier schon öfter ein Thema. Im New Yorker schreibt nun David Remnick über "The Cost of Trump’s Assault on the Press and the Truth":

"Trump may have devoted more mental energy to his degradation of the press—through lawsuits, threats, and hundreds of tweets—than to any other issue. He called reporters "corrupt," "scum,” and "some of the worst human beings you’ll ever meet.”And those words riled up his base, so much so that at his rallies reporters were often berated and menaced. Last year, the F.B.I. arrested a Coast Guard officer who had drawn up a hit list that included reporters at MSNBC and CNN, and an Army officer was arrested after allegedly conducting an online discussion in which he talked about blowing up the headquarters of a major TV network."

Nun mag aufgrund von Trumps Rhetorik (und ihren Nachwirkungen) die Gefahr für Journalisten in den USA größer sein als hier zu Lande. Aber auch in Deutschland spitzt sich die Lage zu. Gegen sechs ARD-Teilnehmer, die an einer epochal fahrlässigen Videokonferenz mit Querdenkern teilgenommen haben (Altpapier von Montag), hetzen derweil die Telegram-Gruppen "Zweite Deutsche Welle" und "Querdenken (203 - Duisburg)". Sie bezeichnen die leitenden ARD-Mitarbeiter als "Corona-Holocaust-Leugner". Keine Links zu Telegram natürlich an dieser Stelle, statt dessen eine Verlinkung auf die Screenshots des Twitter-Nutzers Christoph Stichelen, der mich auf die Sache aufmerksam gemacht hat.

Außerdem haben Rechtsextremisten für den morgigen Mittwoch einen sogenannten Medien-Marsch durch Berlin angekündigt, der zu verschiedenen Studios und Verlagsgebäuden führen soll. Darauf weist Matthias Meisner bei Twitter hin ("Im Aufruf heißt es, die Versammlung finde statt, weil man sich 'die Lügen der Presse nicht länger gefallen lassen' wolle. An jeder Station soll eine Zwischenkundgebung stattfinden").

Wird die Abstimmung in Sachsen-Anhalt abgesagt?

In der ohnehin schon nicht unturbulenten Diskussion um die Entscheidung des Landtags in Sachsen-Anhalt in Sachen Rundfunkbeitragserhöhung (siehe viele Altpapiere, unter anderem dieses und dieses) überschlagen sich gerade die Ereignisse. Am Montagabend berichtete Timo Lehmann für den Spiegel über einen Trickkistengriff des Ministerpräsidenten Reiner Haseloff:

"Um eine Pleite im Parlament und das mögliche Ende seiner Koalition zu verhindern, versucht Haseloff, es gar nicht erst zu einer Abstimmung im Landtag kommen zu lassen. Ein entsprechender Antragsbeschluss aus der Staatskanzlei für die Sitzung des Medienausschusses des Magdeburger Landtags am Mittwoch liegt dem Spiegel vor. Haseloff plant demnach, den Rundfunkstaatsvertrag wieder aufzuschnüren. In dem Antrag heißt es, die Landesregierung solle sich in der Rundfunkkommission der Länder für 'Nachverhandlungen' über die Erhöhung des Rundfunkbeitrags einsetzen. Zur Begründung werden etwa die Auswirkungen der Corona-Pandemie genannt."

Am frühen Dienstagmorgen berichtete Die Welt, die von den Unterstützern von Haseloffs Vorschlag ebenfalls mit dem entsprechenden Papier beglückt worden war, noch etwas ausführlicher.

Zur Medienstrategie von Haseloff und Co. twitterte daraufhin der grüne Wirtschaftsminister Olaf Meister:

"Das Verblüffende bei diesem breit in der Presse debattierten Papier ist, dass es außer der CDU und der Presse niemanden bekannt ist. Vor allem nicht den Koalitionspartnern."

Ebenfalls früh am Morgen brachte Haseloff dann seine Fraktion auf Kurs, weshalb die Mitteldeutsche Zeitung um kurz vor zehn melden konnte:

"Die CDU-Landtagsfraktion fordert die CDU-geführte Landesregierung auf, den Staatsvertrag zur Erhöhung des Rundfunkbeitrags von 17,50 Euro auf 18,36 Euro zurückzuziehen und neu zu verhandeln. Das haben die Christdemokraten in einer Sitzung am Dienstagmorgen beschlossen. (…) CDU-Fraktionschef Siegfried Borgwardt sagte, 'unter anderem wegen der weltgrößten Krise durch Corona' sei der Vertrag nicht entscheidungsreif."

Um kurz zwei Stichworte aufzugreifen: Für "Nachverhandlungen" ist es ja auch deshalb ein bisschen spät, weil die Erhöhung ab 1. Januar gelten soll, und man darf davon ausgehen, dass die anderen Bundesländer sich jetzt eher veräppelt vorkommen. Und was die Corona-Pandemie angeht: Die gab es auch schon im Juni, als Haseloff den Staatsvertrag, dessen Abstimmung er jetzt verhindern will, unterzeichnet hat. Und falls er und der von der MZ zitierte Parteikollege Borgwardt andeuten wollen, dass man im Sommer ja noch nicht ahnen konnte, dass die Pandemie im Winter keineswegs verschwunden sein wird - dann belegen sie damit eine kolossale Inkompetenz auf diesem Feld.

Würde die CDU mit der AfD abstimmen (danach sah es ja lange aus), stiege der Rundfunkbeitrag nicht. Wenn es der CDU nun gelingt, dass gar nicht abgestimmt wird, steigt der Beitrag auch nicht (siehe dazu einen dpa/RND-Überblick). In dieser ganz entscheidenden Hinsicht kommt das Ganze also aufs Selbe raus.

Aber um die sogenannte Sache geht es hier natürlich sowieso nicht, Haseloff geht es nur um sich, er will halt seinen Schinken retten. Ob sich der Mann nicht gerade bundesweit lächerlich macht - vielleicht sogar bei Leuten, denen sein Name vorher eher wenig sagte -, steht auf einem anderen Blatt. Dass er bei den Koalitionspartnern, der SPD und den Grünen, mit seinem Bauerntrick durchkommt, ist natürlich trotzdem nicht auszuschließen. Stand 11.32 Uhr: Die Koalitionspartner wollen ihn nicht damit durchkommen lassen.

Über Handelskonzentration und Medienförderung

Der Aufmacher der heutigen FAZ-Medienseite (€) ist ein Beitrag, der auf einer Rede basiert, die der frühere Tagesspiegel-Herausgeber Sebastian Turner beim 40. Jubiläum des Deutschen Lokaljournalistenpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung gehalten hat. Turner weist darauf hin, dass, wenn es um die "Faktoren" geht, die für die Branche "eine besonders fatale Wirkung" hätten, zwar alle über die Digitalisierung sprächen, aber kaum jemand über die Handelskonzentration:

"(Sie) hat die Anzahl der Werbetreibenden massiv reduziert und hohe Beträge in andere Werbekanäle wie das Fernsehen verfrachtet. Heute werden drei Viertel aller Kaffeepackungen und Joghurtbecher von fünf Handelsgruppen verkauft. In alphabetischer Reihenfolge: Aldi, Edeka, Lidl, Metro, Rewe. Sie sind alle bundesweit tätig und brauchen deswegen immer weniger regionale Differenzierung – sie gehen raus aus der Regionalpresse und rein ins Fernsehen. Manche gehen auch raus aus der Zeitung und bleiben gedruckt, zum Beispiel in der Prospektsammlung 'Einkauf aktuell' der Deutschen Post. 'Einkauf aktuell' ist ein direkter Anschlag des Bundesunternehmens Post auf die wirtschaftliche Basis der Regionalverlage."

Direkter Anschlag, tja. Turner weiß natürlich, dass man bei Branchentreffen-Ansprachen nicht kleckern darf, sondern klotzen muss. Einen testosteronhaltigen Kalauer ("gendersternhagelvoll") hat er auch auf Lager. Zum Schluss kommt er noch auf das Thema Presseförderung zu sprechen:

"Wer sagt denn, dass nur Verlage, die vor Jahrzehnten gegründet worden sind, Qualitätsjournalismus hervorbringen können. Ein Teil der Lösung kann auch eine neue Medien-Gründerzeit sein. Auch hier kann man etwas von den 220 Millionen Euro ausgeben, ohne die Unabhängigkeit der Presse anzugreifen."

Letzterer Satz bezieht sich auf einen Bundestagsbeschluss, der für ein großes eher negatives Hallo sorgte (Altpapier, Altpapier). Nun könnte man Turners Gedanken aber noch erweitern. Aktueller Anlass für solche Überlegungen: Die seit 2007 bestehende Website Fixpoetry (Untertitel: "Wir reden über Literatur") kündigt an, den Betrieb zum Jahresende "auf Grund mangelnder Finanzierung" einzustellen

Es bräuchte also eine wie auch immer geartete Förderung nicht nur für Medien-Gründer, sondern auch für bestehende digitale Projekte, die sich lange über Wasser gehalten "und sich offensichtlich bewährt haben" (Johannes Franzen). Siehe dazu in einem kurzen Thread auch Gedanken von Berit Glanz und Kathrin Passig.

Deutsche Tageszeitungen und ihre Autobahnen

Die Kunsthistorikerin und Bloggerin Anke Gröner hat in diesem Jahr eine Dissertation mit dem Titel "'Ziehet die Bahn durch deutsches Land.' Gemälde zur Reichsautobahn von Carl Theodor Protzen (1887–1956) im Kontext seines Gesamtwerks" vorgelegt, und diesem Umstand verdanken wir einen Beitrag, in dem Medien- und Ideologiekritik aufs Trefflichste verschränkt sind. Gröner rezensiert hier gewissermaßen eine 32-seitige Anzeigensonderveröffentlichung mit dem Titel "Die Autobahn A3 für Europa", die in den vergangenen Tagen offenbar einem Dutzend Tageszeitungen beilag - und vergleicht die Text-Beiträge und die Anzeigen mit nationalsozialistischer Autobahn-PR im weiteren Sinne:

"Markus Söder begann seinen Text so: 'Die A3 ist die fränkische Leidensstrecke – und sollte doch eigentlich die Lebensader sein, die ganz Franken verbindet.' Das Wort Lebens- oder Verkehrsader wird auch von fast allen anderen Politiker:innen verwendet, die sich in der Beilage zitieren ließen. Das erinnerte mich beides unangenehm an einen Text von Otto Reismann, Pressereferent von Fritz Todt, dem Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, der 1937 schrieb: 'Auch in der West-Ost-Richtung folgen die Autobahnen traditionsreichen Verbindungen. Es sind die gleichen Wege, auf denen die politische und kulturelle Eroberung des deutschen Ostens erfolgte, die Wege aber auch, die Osteuropa und Westeuropa verknüpfen. Reichsautobahnen sind die Pioniere neuer Siedlungen. Sie öffnen der volklichen Durchblutung in menschenarmen Gegenden und Grenzgebieten bessere Möglichkeiten (…)'"

Gröner widmet sich des weiteren einem Text des Journalisten Bernhard Heck und den "23 Großbrücken und zwei Tunnelabschnitte[n]", die dieser besingt. Die Autorin dazu:

"Zur Reichsautobahn gehörten bis 1941 ca. 9000 Brücken, drei Prozent davon waren die Großbrücken, die meist in Gemälden festgehalten wurden; sie waren damals schon beeindruckende Aushängeschilder – und scheinen es auch heute noch zu sein. Laut Heck wurde eine 'Trasse geschaffen, die in Ausführung und Eleganz in Deutschland ihresgleichen sucht.' Etwas weiter im Text: 'Dabei sind Brücken nicht nur Ingenieurbauwerke, sondern werden so geplant und ausgeführt, dass sie hervorragende ästhetische Eigenschaften besitzen und somit eine Bereicherung der ursprünglichen Landschaft, eines Tales oder eines Flusses darstellen.'"

Hier ist natürlich weniger der überkandidelte Sound an sich interessant, sondern der historische Bezug:

"Gerade diese angebliche Bereicherung der Landschaft war auch für die Nationalsozialisten ein wichtiges Thema; die Reichsautobahnen sollten die deutschen Gaue nicht auf möglichst schnellen, sondern auf landschaftlich reizvollen Wegen verbinden."

Gröner will natürlich "der Autobahndirektion Nordbayern und den ganzen Menschen, die an dem Ding gearbeitet haben, kein faschistisches Gedankengut unterstellen". Die mentalen Kontinuitäten, die sie beschreibt, sind aber allemal aufschlussreich, zumal ja auch anderswo tatsächlich noch Autobahnen gebaut beziehungsweise vorbereitet werden.


Altpapierkorb (#Baseballschlägerjahre als Doku-Reihe, Polizeigewalt gegen Journalisten in Frankreich, Lokaljournalistin gründet "Initiative gegen Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten")

+++ Mit dem Hashtag #Baseballschlägerjahre rückte der Zeit-Autor Christian Bangel im Oktober 2019 auf Twitter die neonazistische Gewalt, mit der sich Linke und migrantisch aussehende Menschen im Osten in den Jahren nach der Wende konfrontiert sahen, wieder in den Fokus einer etwas breiteren Öffentlichkeit. Aus dieser Debatte ist nun die RBB/Zeit-Online-Dokureihe "Baseballschlägerjahre – Die Wendegeneration und die rechte Gewalt" entstanden, die seit heute in der ARD-Mediathek zu finden ist. Julius Betschka empfiehlt im Tagesspiegel die multi-ausspielwegsgerecht in 6x15 Minuten portionierte Reihe: "'Zecken klatschen', das galt im Osten der Republik als legitimes Hobby. Die sogenannte "akzeptierende Jugendarbeit" machte kirchliche Jugendtreffs in Oranienburg, Magdeburg oder Neuruppin zu Neonazi-Hauptquartieren. Die rechte Skin-Kultur war für viele Jugendliche so bedeutsam wie heute der Hiphop. Was können wir 2020 daraus lernen? Was ist passiert mit den Strukturen von damals? Das sind einige der Fragen, die in der Dokumentationsreihe behandelt werden (…) Die Reporter ziehen Bezüge ins Jetzt: Zeigen Alexander Gauland, der vor der rechtsextremistischen Gruppe 'Zukunft Heimat' in Cottbus spricht, unter ihnen, laut einem Ermittler, Männer 'verbotener Kameradschaften' von früher." Auch die Märkische Oderzeitung - die in der Stadt beheimatet ist, in der Bangel aufgewachsen ist und in der die Reihe beginnt - schreibt über den Sechsteiler. Die Amadeu-Antonio-Stiftung - benannt nach den Angolaner Amadeu Antonio, der während der Baseballschlägerjahre ermordet wurde und dessen Todestag sich am Wochenende zum 30. Mal jährt -, teilt derweil mit, dass sich die Zahl der seit 1990 "aus rechtsextremen Motiven getöteten Menschen" auf 213 erhöht hat.

+++ Der aus Syrien stammende 24-jährige Fotograf Ameer al-Halbi berichtet gegenüber dem französischen TV-Sender BFM, wie ihn am Rande einer Demonstration in Paris ein Polizist schwer misshandelte. Das greift Nadia Pantel in der SZ auf. al-Halbi "habe fotografiert, 'wie ein Polizist jemanden schlägt, der am Boden liegt'. 30 Sekunden später sei er selber mit einem Schlagstock ins Gesicht geschlagen worden und dann zu Boden gegangen. Er wurde nach Angaben des behandelnden Krankenhauses mit einer gebrochenen Nase und offenem Augenbrauenbogen eingeliefert." Vor einigen Jahren noch hatte al-Halbi "für die AFP vom Krieg in seiner Heimatstadt Aleppo berichtet", so Pantel weiter.

+++ Angriffe auf Journalisten bei rechten Demos - so etwas gibt es nicht nur in Großstädten. Im Sommer wurde die freie Lokaljournalistin Beate Luber von Teilnehmern und Ordnern einer Querdenker-Demo im oberpfälzischen Weiden attackiert (@mediasres, Altpapier). Nun will sie eine "Initiative gegen Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten gründen". Darüber berichtet die Drehscheibe der Bundeszentrale für Politische Bildung.

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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