Teasergrafik Altpapier vom 21. Dezember 2020: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 21. Dezember 2020 Fehlende Liebe zum Detail

21. Dezember 2020, 12:56 Uhr

In Sachen "BAMF-Skandal" liefert der NDR eine wichtige Bestandsaufnahme, vergisst dabei aber die Medienkritik. Außerdem: Drosten (mal wieder) gegen die Bild-Zeitung! Hessens FDP für ein "privatisiertes" ZDF! Böhmermann jetzt noch journalistischer! Ein Altpapier von René Martens.

Selbstkritik ist ein schwieriges Geschäft

"Der Elefant im Raum" lautete am vergangenen Mittwoch die Überschrift an dieser Stelle, und sie bezog sich darauf, dass ein Großteil von Journalisten beim Schreiben über die Gründe für den Anstieg von Covid-19-Infektionen das Geschehen an Produktionsstätten und anderen Geschäftswelt-Standorten ausblendet, die nie im Lockdown waren und es auch jetzt nicht sein werden.

Ein Tag nach Erscheinen des besagten Altpapiers lief bei "Panorama" ein in mancher Hinsicht zu lobender Beitrag zum aktuellen Stand des sogenannten BAMF-Skandals, bei dessen Betrachtung sich erneut die Metapher vom Elefanten im Raum aufdrängte. Für Neueinsteiger nun aber erst mal die Basisinfos; in der Textfassung zu dem TV-Beitrag heißt es:

"Die Bremer Staatsanwaltschaft hatte die ehemalige Leiterin der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Bremen sowie zwei Anwälte beschuldigt, Flüchtlingen zu Unrecht Asyl gewährt zu haben."

Jetzt hat das Landgericht Bremen diese Anklage zerpflückt, und "Panorama" greift das entsprechende Dokument auf. Die Wertung des Magazins fällt folgendermaßen aus:

"Bemerkenswert an dem über 60-seitigen Dokument ist nicht nur, dass es die Anklage in der Bremer BAMF-Affäre größtenteils abweist, sondern auch, in welcher Detailiertheit und Deutlichkeit das geschieht. Den Richtern erscheinen manche Annahmen der Staatsanwaltschaft demnach ‚gänzlich fernliegend’. Andere Vorwürfe hält die Strafkammer für ‚von vornherein denklogisch ausgeschlossen‘. Viele der vorgeworfenen Taten in der Anklage seien ‚strafrechtlich nicht relevant‘."

Die politische Dynamik, die diese Beschuldigungen entwickelten, ist aber vor allem auf die Berichterstattung über das Thema zurückzuführen (siehe etwa Message Online und unter anderem dieses Altpapier), und davon ist in dem Beitrag nicht die Rede. Damit wären wir dann bei der Elefanten-Metapher. Der Strafrechtsprofessor Henning Ernst Müller kritisiert in seinem neuesten von vielen In-Sachen-BAMF-Beiträgen im Beck-Community-Blog:

"Zwar hat die AfD den Skandal (wie nicht anders zu erwarten) zu ihrer Sache gemacht, aber die Angelegenheit zuerst aufgebauscht und ‚Skandal‘ gerufen haben im April 2018 die Journalisten vieler Print- und Rundfunkmedien. Sie haben, anders als nachträglich behauptet, nicht nur sachlich über ein Ermittlungsverfahren berichtet (…)"

Und:

"Die Medien haben von April bis in den Sommer hinein die Politik vor sich her getrieben mit Korruptionsvorwürfen, die sich bei wirklich kritischer Recherche schon damals als wenig substantiell erwiesen hätten; der NDR spielte zu Beginn eine führende Rolle. Die wesentlichen (und relativ leicht aufklärbaren) Fehlmeldungen habe ich in meinem früheren Beitrag benannt. (Es wäre m.E. vertrauensbildend gewesen, wenn Panorama die anfänglichen Fehler in ihrem neuen Beitrag zumindest angesprochen hätte.)"

Nun ist der NDR ein sehr großes Gebilde, und Volker Steinhoff beispielsweise, der Redaktionsleiter von "Panorama", hat auf einer zumindest branchenöffentlichen Veranstaltung - bei einer Diskussion im Rahmen der Jahrestagung des Netzwerks Recherche im Juni 2019 - die Berichterstattung des eigenen Hauses in Sachen BAMF scharf kritisiert.

Aber sonst hat Müller Recht. Natürlich ist es formal unüblich, in einem Politikmagazin-Beitrag die Berichterstattung des eigenen Senders zu kritisieren. Aber es hätte ja die Möglichkeit gegeben, einen Medienkritiker von außen oder einen unter medienkritischen Aspekten mit der Sache befassten Experten (wie Müller) zu interviewen. Wie auch immer: An einer Analyse der ideologischen Motive der Journalisten, die die Skandal-Erzählung in die Welt gesetzt haben, fehlt es weiterhin.

"Die nicht endenden Angriffe auf seriöse Wissenschaftler"

Zu den vielen freien Mitarbeitern des MDR, die in der Öffentlichkeit a bisserl bekannter sind als die Autoren des Altpapiers, gehört der Mikrobiologe Alexander Kekulé, den sich der Spiegel {€) in seiner aktuellen Ausgabe vorknöpft.

Jörg Blech zitiert diverse Kollegen Kekulés (unter anderem Vertreter seiner Fakultät an der Uni Halle), die dessen Forschungstätigkeit für zu gering halten. Seit 1999 seien in der maßgeblichen Datenbank PubMed "etwa 20 Beiträge von Kekulé zu finden. Der Virologe Christian Drosten kommt auf mehr als 400 Artikel – und das obwohl er 14 Jahre jünger ist", heißt es in dem Artikel. Und:

"Auch in der Virologenzunft kann man den Verdruss der Hallenser verstehen. Bernhard Fleckenstein war lange der Leiter des Instituts für Klinische und Molekulare Virologie der Universität Erlangen-Nürnberg und ist Ehrenmitglied der Gesellschaft für Virologie. Fleckenstein sagt: ‚Unsere Fachgesellschaft ist leistungsorientiert, und Herr Kekulé hat in den zwei Jahrzehnten seit seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Mikrobiologie und Virologie an der Universität Halle-Wittenberg keine ernsthaften wissenschaftlichen Leistungen im Fach veröffentlicht. Er gibt leider das traurige Bild einer Fehlberufung auf einen universitären Lehrstuhl ab.’"

Blech erwähnt in dem Zusammenhang, dass Christian Drosten im Mai "per Twitter öffentlich machte, dass Kekulé zwar gern die Fachartikel anderer kommentiert, aber selbst nicht so viel vorzuweisen hat: 'Kekulé selbst könnte man nicht kritisieren, dazu müsste er erst mal etwas publizieren.'"

Was nicht in dem Text steht: Was Drosten - in einer anderen Phase der Pandemie, nämlich Mitte November - ebenfalls gesagt hat:

"Was Alexander Kekulé sagt, ist fast immer richtig. Und er sagt das Gleiche wie ich. Aber das ist nicht der Eindruck der Leute, die nur Überschriften lesen." 

Salomonische Einschätzung: Falls es stimmen sollte, dass Alexander Kekulé gern den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, heißt das möglicherweise noch lange nicht, dass er falsch liegt mit dem, was er zu aktuellen virologischen Fragen sagt.

Der erwähnte Christian Drosten war am Wochenende unter anderem damit beschäftigt, den Hashtag #SchwereSchuld zu popularisieren. Versehen hat er damit folgenden Tweet, der sich auf die Berichterstattung der Bild-Zeitung und von bild.de bezieht:

"Wolfram Henn und Ralf Bartenschlager wollen Menschenleben retten, sonst nichts. Die nicht endenden Angriffe auf seriöse Wissenschaftler und die stetige Verballhornung ihrer Aussagen werden in diesem Winter noch Tausende das Leben kosten."

Drostens "Coronavirus-Update"-Kollegin Sandra Ciesek greift das ebenfalls auf, Hashtag inclusive. #SchwereSchuld ist also eine Art freundlichere Variante des schon länger kursierenden, aktuell aber auch gerade mal wieder verbreiteten Hashtags #HaltdieFresseBild.

Volksmusik, Intendantengehälter und liberale Privatisierungsideen

Am kommenden Mittwoch erscheint zwar das letzte reguläre Altpapier 2020, aber zumindest an der medienpolitischen Front gibt es in diesem Jahr bekanntlich keine Weihnachtspause. Die sozusagen spannende Frage ist ja, wie das Bundesverfassungsgericht auf die Eilanträge der öffentlich-rechtlichen Anstalten reagiert, mit der diese die  aufgrund der Blockade in Sachsen-Anhalt nicht zustande gekommene Beitragserhöhung durchsetzen wollen. Dazu meint Volker Nünning in der Medienkorrespondenz:

"Da bis zum 31. Dezember 2020 nicht alle 16 Ratifikationsurkunden in Berlin, beim derzeitigen Vorsitzland der Ministerpräsidentenkonferenz, hinterlegt sein werden (es fehlt eben die aus Sachsen-Anhalt), wird der Staatsvertrag automatisch gegenstandslos und damit auch die Beitragserhöhung. Insofern müsste es Anliegen der Anstalten sein, dass das Gericht diese Verfallsklausel verlängert, damit die Zustimmungen von 15 Landtagen zur Beitragserhöhung bestehen bleiben. Was Karlsruhe in den Eilverfahren mit Blick auf Sachsen-Anhalt konkret anordnen wird, bleibt indes abzuwarten. Das Gericht hat hier große Spielräume."

Auch anderswo ist der Rundfunkbeitrag samt vielen seiner diskursiven Wurmfortsätze weiterhin Gegenstand umfangreichster Textbeiträge. Robert D. Meyer zum Beispiel hat fürs ND den unter Medienjournalisten unter anderem wegen seiner Newsletter bekannten MDR-Rundfunkrat Heiko Hilker interviewt - unter anderem zu der Frage, ob es "inzwischen tatsächlich ein zu großes Gewächs an TV-, Radio- und Webangeboten gibt, wo keiner mehr einen Überblick hat". Nicht zu vergessen: "Wer kontrolliert das?" Hilker sagt dazu:

"Die Länder (dürfen) den Auftrag der Sender bestimmen. Das haben sie dieses Jahr auch mit einem neuen Medienstaatsvertrag getan. Da hat kein Landtag widersprochen. Jedes Fernseh- und jedes Radioprogramm, das die Sender bieten, wurde von der Landespolitik beschlossen."

Darauf hat zum Beispiel auch der CDU-Politiker Ruprecht Polenz kürzlich verwiesen, also jemand, der aus einem anderen politischen Spektrum kommt als Hilker, der einst medienpolitischer Sprecher der Linken im sächsischen Landtag war (ohne Mitglied der Partei zu sein). Im Interview sagt dieser weiter:

"Jedes einzelne Fernsehprogramm findet man sogar mit seinem Namen im Staatsvertrag. Wer sich also beschwert, dass 20 öffentlich-rechtliche Fernsehprogramme zu viel sind, wer zum Beispiel Phoenix und Tagesschau24 zusammenlegen will, der muss den Medienstaatsvertrag ändern. Gleiches gilt für die über 70 Radioangebote. Der Landesgesetzgeber, alle Länder zusammen haben die Macht, Programme zu streichen und dadurch den Finanzbedarf zu reduzieren und den Beitrag zu senken."

Ich selbst bin in einem recht langen Beitrag für die Friedrich-Ebert-Stiftung auch auf diesen Aspekt eingegangen:

"Wer zum Beispiel meint, die ARD-Kanäle tagesschau24 oder One seien überflüssig, hätte das in den Landtagsdebatten ins Gespräch bringen können. Der Verdacht, dass die Politik solchen Detailfragen nur bedingt Aufmerksamkeit schenkt, liegt allerdings nicht fern: Das Programm One taucht im Medienstaatsvertrag noch unter dem alten, seit September 2016 nicht mehr gültigen Namen Eins Festival auf."

Sagt ein Politiker: Es gibt zu viele öffentlich-rechtliche Programme!!11elf - dann kommt das gut an bei sehr vielen (potenziellen) Wählern. Schlüge ein Politiker dagegen vor, das Programm One einzustellen, könnte er damit aber wohl kaum punkten. Die Reaktion wäre: One? Watten datten?

Zum Thema Intendantengehälter äußert sich Heiko Hilker in dem ND-Interview dann auch noch:

"Zur Ehrlichkeit gehört (…), dass kein Intendant sein Gehalt selbst beschließt. Darüber entscheidet der Verwaltungsrat des jeweiligen Senders. Allein in den neun Verwaltungsräten der ARD-Anstalten sitzen 18 Mitglieder der CDU/CSU. Dazu gehören Landesvorstandsmitglieder sowie frühere Staatskanzleichefs und Fraktionschefs von Landtagsfraktionen. Bisher hat die CDU nicht ihre Mitglieder in den Gremien aufgefordert, die Vergütung zu reduzieren."

Viele Politiker, die die Öffentlich-Rechtlichen kritisieren, hätten es also selbst in der Hand, dazu beizutragen, die von ihnen wahlkämpferisch angeprangerten Missstände zu beseitigen, wenn sie das Thema Medienpolitik ein bisschen professioneller angingen. Oder sie könnten parteiintern bei jenen Gesinnungsgenossen, die näher dran sind an den entsprechenden Entscheidungsprozessen, auf solche Änderungen hinwirken. Was man in den vergangenen Wochen vor allem von CDU-Politikern zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu hören bekam, erinnert an das auch gar nicht so wenig verbreitete Phänomen von Regierungsparteimitgliedern, die sich äußern, als wären sie in der Opposition.

Wer hat sich außerdem zu Wort gemeldet? Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) mit einer Stellungnahme, auf die heute die SZ eingeht:

"Aufhorchen lässt der Passus, in dem steht: Das Verfahren zur Festlegung der Finanzierung der Öffentlich-Rechtlichen dürfe 'in seiner Struktur nicht den Unsicherheiten medienpolitischer Debatten ausgeliefert' sein."

Das könne man, so die SZ, so interpretieren, dass Grütters "ein Teil-Index-Modell" favorisiere, "bei dem der Beitrag längere Zeit automatisch steigen und nicht ständig zum Politikum werden würde". Dieses Modell - siehe auch dazu meinen oben verlinkten Text für die Ebert-Stiftung - hätte den Vorteil, dass nicht bei jeder Erhöhung fruchtlose Diskussionen anstehen, in denen gefühlt jeder zweite Politiker oder Journalist sagt, was er schon immer mal über die Öffentlich-Rechtlichen sagen wollte.

Die FAZ hat zum Thema Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen in den vergangenen Tagen gleich mehrere Beiträge veröffentlicht. Reinhard Bingener und Timo Steppat haben mit SWR-Intendant Kai Gniffke und dem sachsen-anhaltischen CDU-Generalsekretär Sven Schulze (siehe ein Altpapier aus dem August und einen Altpapier-Jahresrückblick) gesprochen. Das Interview (€) steht heute vorn im Politikteil (Seite 4). Worauf Bingener/Steppat unter anderem zu sprechen kommen:

"Die CDU weist (…) auf eine verbreitete Unzufriedenheit mit der Berichterstattung über die ostdeutschen Länder hin. Diese würden hauptsächlich als Krisenregionen dargestellt, heißt es."

Gniffke entgegnet darauf, dass "dieser Vorwurf durch permanente Wiederholung nicht richtig" werde. "Ich kenne nichts, was das untermauert. Wir sprechen hier lediglich über ein Gefühl."

Was Schulze unter anderem sagt:

"Die Volksmusik gehört zum Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen."

Wenn ausgerechnet die CDU das bestritten hätte, wäre das ja auch sehr überraschend gewesen.

Vom Ende der vergangenen Woche stammt noch ein Vorschlag der hessischen Freidemokraten, das ZDF zu privatisieren - nachdem kurz zuvor ein CDU-Gremium angeregt hatte, das doch gleich mit dem gesamten öffentlich-rechtlichen Laden so zu handhaben (Altpapier). Die FAZ zitiert dazu den FDP-Mann Wolfgang Greilich, und der ist nun, anders als etwa die zuletzt Handelnden in Sachsen-Anhalt, gewiss kein medienpolitischer Amateur, er sitzt nämlich im Verwaltungsrat des HR. FAZ-Herausgeber Carsten Knop ist der liberale Vorschlag einen Kommentar wert:

"Das ZDF könnte sich als klare private Alternative zur ARD positionieren; natürlich mit demselben hohen journalistischen Qualitätsanspruch, aber schärfer in der Abgrenzung. Und die ARD hätte einen Herausforderer, der das Geschäft beleben könnte."

Das kann man ja meinen, wenngleich ich kein Indiz dafür finden kann, dass es ein privatwirtschaftlich finanziertes ZDF in irgendeinem qualitätsjournalistischen Sinne besser machen würde als das jetzige. Was so eine Privatisierung - beziehungsweise, wie es Greilich formuliert, die "Herauslösung des ZDF" aus dem bisherigen öffentlich-rechtlichen System - für die vom ZDF mit der ARD gemeinsam betriebenen Angebote Phoenix und funk und die unter anderem mit der ARD gemeinsam betriebenen Programme 3sat und Arte bedeutete, wäre ja noch mal eine ganz andere Frage. Im allergünstigsten Fall entstünden dann Public-Private Partnerships, aber viel wahrscheinlicher wäre ja, dass ein privatwirtschaftlich finanziertes ZDF sich an diesen Angeboten gar nicht beteiligen würde (abgesehen vielleicht von funk) und sie somit nicht weiter existieren könnten.

Über einen Remix nachkriegsdeutscher Rechtfertigungsliteratur

Vor zwei Wochen hat das Reporter-Forum sechs Mitarbeiter des Handelsblatts in der Kategorie Investigation ausgezeichnet, weil das Team herausgefunden hatte, dass Georg Berger, der Vater des recht medienprominenten Unternehmensberaters Roland Berger, keineswegs ein Opfer des Nazi-Regimes war (wie der Sohnemann gern behauptet hatte), sondern ein "hoher Funktionär in der Hitler-Jugend und Profiteur von Arisierungen". Sehr missfallen hat dieser frisch prämierte Beitrag einem recht medienprominenten Historiker: Michael Wolffsohn. Was dieser dazu in der Welt (und in einem einige Monate zuvor veröffentlichten Gutachten) schreibt, nimmt nun wiederum Moritz Hoffmann für Übermedien {€) auseinander:

"Vollends irritierend wirken das große Verständnis und die verharmlosende Rhetorik, die Wolfssohn, der mehrere einschlägige Untersuchungen über die deutsche ‚Vergangenheitsbewältigung‘ verfasst hat, Georg Berger gegenüber äußert. Indem er als Täter ‚Hitler, Himmler, Eichmann und Konsorten‘ nennt, argumentiert Wolffsohn, dass es im ‚Dritten Reich‘ eben doch nur wenige Täter, dafür viel mehr ‚Mitmacher‘ oder ‚Profiteure‘ gegeben habe (…) Nicht einmal, dass (Berger senior) zwei Jahre vor der Machtübernahme Mitglied der NSDAP wurde, ficht ihn an: Georg Berger war Wolffsohn zufolge, 'ein Funktionsträger, der die Funktionsweise des NS-Systems nicht verstand oder nicht verstehen wollte.’ Dieser oft verwendete Variante des ‚Wir haben doch von nichts gewusst‘ begegnen Historiker:innen häufiger in nachkriegsdeutscher Rechtfertigungsliteratur, bei einem prominenten Zeithistoriker kommt sie eher unerwartet."

Die Prognose, dass wir angesichts des derzeitigen politischen Zeitgeists bald noch öfter mit solchen Remixen der "Rechtfertigungsliteratur" konfrontiert sein werden, ist wohl nicht abwegig.

Zum Tod eines taz-Gründers

In der vergangenen Woche ist der taz-Mitgründer Benedict Maria Mülder verstorben, der seit 2008 unter der Nervenkrankheit ALS (Amytotrophe Lateralsklerose) gelitten hatte. Die taz hat zwei Nachrufe auf den ehemaligen Kollegen veröffentlicht, der von der Zeitung bald zum Fernsehen wechselte. Wolfgang Zügel, ebenfalls in der Gründungsphase der taz und auch danach noch recht lange mit dabei, schreibt:

"Der Verlauf der Krankheit zeichnete ihn schwer. Anfangs konnte er sich noch mit einem Rollator helfen, dann war Benedict auf den Rollstuhl angewiesen, aber mit der Arbeit aufhören, das kam für ihn nicht infrage. Er produzierte Beiträge für das Fernsehmagazin ‚Kontraste‘. Im Frühjahr 2012 verschlechterte sich sein Zustand so stark, dass er künstlich beatmet werden musste, um weiterleben zu können."

Zügel verweist darauf, dass sich Mülder journalistisch mit seiner Krankheit auseinander gesetzt hat und dabei "vehement" gegen "die Legalisierung der Sterbehilfe" argumentierte. Wie Mülder und seine Familie mit der Krankheit lebten - das war in einer im August in der ZDF-Reihe "37 Grad" ausgestrahlten Doku zu sehen.


Altpapierkorb ("ZDF Magazin Royale" jetzt noch politmagaziniger, Luisa Neubauers Podcast, die Geschichte der Literatursendungen, das missratene Presseförderkonzept aus dem Wirtschaftsministerium)

+++ "Ist das noch Satire? Polit-Magazin? Beides?" Das fragt sich Markus Ehrenberg im Tagesspiegel angesichts der aktuellen Ausgabe des "ZDF Magazin Royale" zum Thema Geschäftsmodell Querdenken. Weil für einen großen Teil der Recherchen dieses Mal netzpolitik.org zuständig war, hat Ehrenberg darüber mit dessen Chefredakteur Markus Beckedahl gesprochen. An der journalistischen Qualität von Jan Böhmermanns Sendung habe Redaktionsleiterin Hanna Herbst einen großen Anteil, sagt Beckedahl. Zu der mit der aktuellen Ausgabe vergleichbaren Sendung über Wirecard, bei der Böhmermanns Leute Ende November mit dem Handelsblatt kooperierten, siehe Altpapier.

+++ Die taz bespricht Luisa Neubauers im November gestarteten Podcast "1,5 Grad": "Was Neubauer und ihre Gesprächspartner*innen sagen, (…) ist, wenn man es an sich heranlässt, anstrengend, es kann einem die – in der Coronakrise eh schon rar gesäte – gute Laune rauben oder wütend machen. Denn auch wenn Corona gerade die Nachrichten beherrscht und die Aufmerksamkeit vieler Menschen in Beschlag nimmt: Die Klimakrise dauert an."

+++ Über die Geschichte der Literatursendungen im Fernsehen habe ich für die Medienkorrespondenz mit dem früheren SFB-Redakteur und -Moderator Jürgen Tomm gesprochen. Er war unter anderem verantwortlich für die durchaus legendär zu nennende Literaturgesprächs-Sendung "Autor-Scooter", die um 20.15 Uhr (!) in der damaligen Nordkette (Drittes Programm) lief. Eine "Autor Scooter"-Folge mit Jörg Fauser ist im Internet zugänglich. Ein Thema des Interviews: Dass nach mehr als drei Jahrzehnten gerade die Geschichte des "Bücherjournals" im NDR Fernsehen zu Ende gegangen ist.

+++ Ein Thema, das uns im kommenden Jahr ganz bestimmt weiter beschäftigen wird: das Presseförder- "Konzept" aus dem Bundeswirtschaftsministerium, das der Bundestag im Sommer beschlossen hat und das die Verteilung von 220 Millionen Euro an Verlage vorsieht. (siehe diverse Altpapiere, unter anderem dieses): Die Wochenzeitung Kontext, die gedruckt stets samstags in der taz erscheint, hat dazu Margit Stumpp, die medienpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, interviewt, und die ist auf Zinne: "Für lokale und kleine Verlage bleiben höchstens Krümel. Und nicht mal Krümel fallen für gemeinnützige Medien ab; sie bleiben gleich ganz außen vor (…) Die großen Verlage, die ohnehin gut aufgestellt sind, kriegen noch was oben drauf. Ein Beitrag zur medialen Vielfalt wird nicht geleistet, alles, was sich sonst noch im Digitalen abspielt, eben gerade Non-Profit-Journalismus, alles, was wir dringend angehen müssen, ist kein Thema."

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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