Teasergrafik Altpapier vom 15. Januar 2021: Porträt Autor Ralf Heimann
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Das Altpapier am 15. Januar 2021 Twitter-Chef sinniert über Twitter ohne Chef

15. Januar 2021, 13:03 Uhr

Donald Trumps Verbannung legt das Problem mit den Plattformen offen. Einzelne haben zu viel Macht. Es gibt verschiedene Ideen dazu, wie sich das ändern könnte. Eine kommt vom Twitter-Chef selbst. Doch im Moment stellt sich die Frage, ob eine Lösung nicht viel zu spät kommt. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Die Macht der Einzelnen

War es falsch, dass die Plattformen Donald Trump gesperrt haben? Und welche Folgen wird es haben? (Altpapier) So richtig beantwortet sind die Fragen noch nicht. Twitter-Chef Jack Dorsey hat sich nun in einem langen Thread dazu geäußert. Dort schreibt er einerseits:

"Ich glaube, dass dies die richtige Entscheidung für Twitter war. Wir sahen uns mit einem außergewöhnlichen und unhaltbaren Umstand konfrontiert, der uns dazu zwang, alle unsere Maßnahmen auf die öffentliche Sicherheit zu konzentrieren. Offline-Schäden als Folge von Online-Reden sind nachweislich real und das, was unsere Politik und Durchsetzung vor allem antreibt."

Andererseits sagt er:

"Das heißt, ein Konto sperren zu müssen, hat reale und erhebliche Auswirkungen. Obwohl es klare und offensichtliche Ausnahmen gibt, empfinde ich ein Verbot als ein Versagen von uns, letztendlich eine gesunde Konversation zu fördern."

An dieser Stelle könnte man natürlich die Frage stellen, ob Jack Dorsey sich die Plattform, von der er da spricht, selbst schon einmal angesehen hat. Denn wenn die Absicht von Twitter tatsächlich wäre, "eine gesunde Konversation" zu fördern, dann hätte man die Software womöglich etwas anders konzipieren müssen. Twitter hebt wie auch andere Plattformen Beiträge hervor, die besonders viele Interaktionen hervorrufen. Schon das widerspricht dieser nett klingenden Absicht, denn daraus ergibt sich ein Anreiz, der eher das Gegenteil von gesunder Konversation fördert. Hinzu kommen die spielhöllenartigen Fav-Zahlen unter den Tweets, die Zeichenbeschränkung, all das führt zu Verkürzungen und in der Folge zu emotionalen Exzessen. Wenn man so will, unterdrückt Twitter eine gesunde Konversation sogar. Es ist ein bisschen, als würde Julian Reichelt ernüchtert feststellen, der Versuch, mit der "Bild"-Zeitung eine gesunde Debattenkultur zu etablieren, sei letztlich doch wohl erfolglos gewesen. Um ein Ziel zu erreichen, müsste man wohl zuallererst schauen, ob die Mittel dazu denn überhaupt geeignet sind.

Dorsey benennt allerdings selbst einige grundlegende Probleme. Er schreibt etwa:

"Diese Maßnahmen fragmentieren die öffentliche Diskussion. Sie entzweien uns. Sie begrenzen das Potenzial für Klärung, Wiedergutmachung und Lernen. Und sie schaffen einen Präzedenzfall, den ich für gefährlich halte: die Macht, die eine Einzelperson oder ein Unternehmen über einen Teil des globalen öffentlichen Gesprächs hat."

Üblicherweise lautet das Argument gegen die ausufernde Marktmacht der Plattformen: Die Leute können ihren Kram ja auch anderswo veröffentlichen. Das stimmt einerseits, Donald Trump könnte natürlich einen Blog starten ("Donald’s World") oder versuchen, sich sein Publikum an einem anderen digitalen Ort wieder zusammenzusuchen. Doch dieses Argument unterschlägt, dass durch die Sperrung vorübergehend ein großer Nachteil entsteht.

Wenn ein Sender in einer Fernsehdebatte einen Teilnehmenden auf stumm schaltet, führt der Hinweis, er oder sie könne seine Meinung ja auch an anderer Stelle kundtun, nicht wesentlich weiter. In diesem Moment hat der Sender durch seinen Eingriff großen Einfluss auf das, was beim Publikum ankommt, und so ist es auch im Falle der Plattformen. Hier liegt enorm viel Macht in wenigen Händen. Kommt dann noch ein Herdeneffekt hinzu, wie er sich nach dem Sturm aufs Kapitol ergeben hat, wird das Problem noch sehr viel eklatanter.

Eine Möglichkeit, um Einzelnen die Macht aus den Händen zu nehmen, ist ein dezentrales System, in dem Einzelne diese Macht nicht mehr haben.

Dorsey verweist auf das Projekt Bluesky, das er vor etwas mehr als einem Jahr angekündigt hatte, und das offenbar an einer Möglichkeit arbeitet, "eine dezentrale Plattform für soziale Medien" nach dem Vorbild von Bitcoins zu entwerfen, mit einer Datenbank ohne Chefetage, einer Blockchain. Was das für Folgen hätte? Alex Wilkins schreibt für das Online-Magazin Metro.

"Für Twitter würde dies bedeuten, dass Entscheidungen, wie zum Beispiel welche Inhalte zu moderieren sind, nicht von Social-Media-Führungskräften wie Dorsey getroffen würden. In der Tat würde Dorsey die Kontrolle über die Standards seines Unternehmens anstelle von Regeln aufgeben, die von der Community vereinbart wurden."

Im Moment scheint das allerdings eher eine Vision zu sein als eine nahe Aussicht.

Die Fragmentierung der Debatte

Kurzfristig dürfte etwas anderes passieren. Damit befassen sich Jörg Lau, Paul Middelhoff, Ann-Kathrin Nezik und Heinrich Wefing in einem Beitrag für die Zeit (€). Die Kernfrage lautet: "Wer bestimmt über den Diskurs von Milliarden Menschen?" Und laut den Autoren ergibt sich hier eine der seltenen Situationen, in denen Demokraten und Republikaner einer Meinung sind, wobei dann auch doch wieder nicht so ganz.

"Trump und die Republikaner wollten gegen Big Tech vorgehen, weil sie den Social-Media-Plattformen vorwarfen, gegen Trump zu sein. Die Demokraten sehen das Problem eher in der unkontrollierten Macht der Konzerne."

Das bedeutet in diesem Fall: Die Konzerne, also die Plattformen sind nicht verantwortlich für die Inhalte. So sieht es die Section 230 vor, "quasi die Magna Charta der Netz-Konzerne. Sie regelt, dass Internet-Unternehmen nicht haften für die Videos, Bilder und Aufrufe, die Nutzer auf den Plattformen posten. Und dass man sie umgekehrt auch nicht verklagen kann, wenn sie Inhalte löschen, die sie für unangemessen halten".

Diese Grundeinstellung hat zu dem Ergebnis geführt, über das wir jetzt sprechen. Und nicht nur Jack Dorsey hätte Ideen dazu,  wie man das gegenwärtige Modell ändern könnte, auch der Politikwissenschaftler Francis "Ende der Geschichte" Fukuyama hat sich Gedanken gemacht. Er hat

"die Idee entwickelt, die Moderation und mögliche Sperrung von Inhalten sollte outgesourct werden, aus den Händen der Plattformen in die Zuständigkeit von Auditoren wandern, unabhängigen Firmen, die die Standards im Netz durchsetzen würden – ohne eigenes Interesse daran, dass möglichst viele Nutzer möglichst lang auf der Plattform bleiben".

Dieses System wäre nicht dezentral, aber es sähe zumindest eine Art Gewaltenteilung vor, die verhindern würde, dass Plattformen Regeln so entwerfen, dass sie ausschließlich ihren eigenen Nutzen maximieren.

Dieses System wäre der dritte, vierte oder fünfte Schritt. Im zweiten Schritt wandert das Publikum aber zunächst einfach dorthin, wo seine Nachfrage bedient wird. Im Zeit-Beitrag heißt es:

"Längst schon entstehen im Netz Alternativ-Angebote, auch Alt Tech genannt. Diese Dienste werben explizit damit, dass sie ihre Nutzer nicht regulieren: Das alternative YouTube nennt sich BitChute, zwischenzeitlich gab es auch Alternativen zum Online-Bezahldienst PayPal. Teilweise werden die Dienste von superreichen Spendern finanziert: Parler etwa erhielt Unterstützung von Rebekka Mercer, Spross einer Milliardärsfamilie."

Diese Entwicklung führt nun wiederum auch nicht zu einer "gesunden Kommunikation", wie Jack Dorsey es nennt, sondern zu einer weiteren Fragmentierung des Publikums. Konkret:

"Seit Trumps Rausschmiss bei Twitter boomen diese alternativen Foren. Am Dienstag berichtete die Website Axios, dass sich der Umzug der extremen Rechten auf andere Apps und Plattformen bereits messen lasse: Die Downloads von Rumble, einer YouTube-Alternative, hatten sich binnen fünf Tagen verdoppelt, die von Clouthub (eine Kombination von Twitter und Facebook) verfünffacht."

Die nächste Frage, die sich stellen wird, ist vermutlich, ob eine solche Entwicklung sich überhaupt jemals wieder rückgängig machen lässt. Dass Menschen, die das eigene Weltbild in ihrer neuen digitalen Heimat von noch sehr viel mehr Gleichgesinnten bestätigt sehen, irgendwann vielleicht doch den Rückweg antreten könnten, weil sie die Keilerei mit politisch anders gepolten Menschen vermissen, erscheint, jedenfalls auf den ersten Blick, unwahrscheinlich.

Wikipedia und die Männer

Eine weitere Plattform, die ebenfalls ein Problem mit der Kommunikationskultur zu haben scheint, wenn auch ein ganz anderes, ist die Wikipedia, die in diesem Tagen 20 Jahre alt wird. Zu diesem Anlass sind in dieser Woche mehrere Beiträge erschienen, die das Projekt zwar einerseits würdigen, aber nahezu alle auch auf ein Problem zu sprechen kommen, das offenbar recht akut ist: die Männerdominanz. Der SZ-Artikel von Simon Hurtz trägt den Titel "Weiß, westlich – und vor allem männlich" und wird bei Google News angekündigt mit der noch etwas plakativeren Überschrift "Wikipedia: Kein Ort für Frauen – das soll sich ändern". Die Bilanz bislang ist eher ernüchternd.

Hurtz schreibt:

"Auf neun Wikipedianer kommt eine Wikipedianerin. Bereits 2011 nannte Sue Gardner, damals Vorsitzende der gemeinnützigen Wikimedia Foundation, neun Gründe, warum kaum Frauen mitmachen. Vor allem schreckt sie der oft aggressive, rechthaberische und teils offen misogyne Umgangston ab. Wikipedia-Gründer Jimmy Wales wollte bis 2015 einen Frauenanteil von einem Viertel erreichen. Ein Jahr vor Ablauf der selbstgesteckten Frist gab er zu, ‚komplett versagt‘ zu haben. Wales versprach, die Anstrengungen zu verdoppeln, der Erfolg blieb bislang aus."

Auf der FAZ-Medienseite zitiert Kai Spanke in seinem Beitrag Pavel Richter, den Autor des Buchs "Die Wikipedia-Story", der selbst lange als Autor für das Projekt gearbeitet hat, ohne zunächst zu bemerken, wie das seine Art zu kommunizieren verändert hat.

"'Nachdem ich anderthalb Jahre bei Wikipedia mitgemacht hatte, war ich beim Blick auf meine Online-Persona wirklich erschüttert.' Was heißt das genau? 'Ich war besserwisserisch und zynisch. Man betrachtet das Gegenüber nur noch als anonymen Textproduzenten, nicht als Menschen. Es ist leicht, im Internet die Empathie zu verlieren.'"

Und hier werden wieder Parallelen zu Twitter sichtbar. Eine Hypothese könnte lauten: Die eindimensionale Text-Kommunikation ohne emotionale Nuancierung durch durch Gestik, Mimik und die Stimme fördert toxische Tendenzen. Vor allem bei Männern? Das wäre eine interessante Frage.

Michael Borgers fragt in seinem Beitrag für den Deutschlandfunk, wie die Enzyklopädie im Journalismus genutzt wird. Den Antworten nach mit aller Vorsicht. Vice-Chefredakteur Felix Dachsel sagt, er verstehe die Wikipedia "nicht wie die Bibel", sondern: "Eher wie ein Basislager, von dem ich Expeditionen starte: Ich folge Links, die mich zu neuen Links führen und am Ende lande ich auf einem 'Spiegel'-Artikel von 1996 oder auf der Bundesliga-Abschlusstabelle von 1981."

Alex Rühle stellt in seinem Beitrag für die SZ unter anderem die Frage, warum die Enzyklopädie so erfolgreich ist:

"Es gibt den Witz, dass sie (die Wikipedia, Anm. Altpapier) in der Praxis funktioniert, eben weil sie in der Theorie nicht funktioniert. Und es gibt die vielen Tausend freiwilligen Mitarbeiter, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, in ihrer Freizeit an diesem demokratischen Weltwissensspeicher mitzuwerkeln. Diese Autoren haben in der Masse großen Einfluss. Ihr eigener Narzissmus aber wird, anders als in den sozialen Netzwerken, nicht direkt gefüttert."

Und das ist schon ein zentraler Unterschied zu Twitter oder Facebook, wo der sichtbare Erfolg der eigenen Beiträge eben nicht ganz ohne Bedeutung ist, und was, jedenfalls scheint es so, ein zentraler Erfolgsfaktor dieser Plattformen ist. Doch offenbar funktioniert so ein System auch mithilfe von anderen Motoren. Rühle:

"Innerhalb der Wikipedia zeigen Einträge zu Wikiliebe, Wikistress und Wikipedia-Sucht, wie schwer es oft sein muss, untereinander zu einer gültigen Version und zu treffenden Formulierungen zu kommen. Diese Einträge dokumentieren aber auch ein großes Reflexionsvermögen für die eigenen Schwächen und strukturellen Gefahren. Und ganz so qualvoll dull kann das Ganze auch nicht sein: Bei einer Umfrage unter 5000 angemeldeten Benutzern nach ihren Gründen für die Mitarbeit kam als eine der häufigsten Angaben: 'It's fun'."

Wenn man das von Twitter doch auch bloß sagen könnte.


Altpapierkorb (Die Partei, China, Kartellamt, Presseförderung, digitale CDU-Wahl)

+++ Michael Hanfeld kommentiert auf der FAZ-Medienseite (€) Nico Semsrotts Austritt aus der Satire-Partei "Die Partei", gefühlt mit einer gewissen Genugtuung: "Damit dürfte das Satireprojekt der Partei 'Die PARTEI' wohl an sein Ende gelangt sein. Denn deutlicher als Martin Sonneborn (unfreiwillig) und Semsrott (freiwillig) kann man kaum demonstrieren, was engstirnige Borniertheit bedeutet, die Witze und Satire nur erträgt, wenn diese nicht auf Kosten der eigenen Weltanschauung und Peergroup gehen und wenn sie einem nicht die eigenen Vorurteile um die Ohren hauen."

+++ Weil die Berichterstattung über China für ausländische Journalistinnen und Journalistinnen immer schwieriger wird, weichen viele auf Taiwan aus. Kathrin Erdmann erklärt für den Deutschlandfunk, warum das andere Probleme mit sich bringt.

+++ Das Bundeskartellamt will Digitalkonzerne wie Google, Amazon, Facebook oder Twitter in Zukunft strenger kontrollieren, meldet unter anderem die dpa, hier hier zu lesen bei der Rheinischen Post. Das freut die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger. In einer gemeinsamen Erklärung heißt es: "'Die neuen Regelungen müssen darüber hinaus ein Impuls für die weitere Debatte in der EU zur Regulierung der Megaplattformen sein', appellieren die Organisationen der Zeitschriften- und Zeitungsverleger sowie Digitalpublisher. Aufgabe der Bundesregierung sei es, alles daran zu setzen, dass die geplante EU-Regulierung das heute verabschiedete Gesetz und dessen Umsetzung nicht in Frage stelle, sondern im Gegenteil darauf aufbaue."

+++ Christoph Sterz berichtet für das Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres über die Kritik an den Plänen der Bundesregierung zur Presseförderung. Das wird die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger wahrscheinlich nicht ganz so sehr freuen. Dazu eine Offenlegung: Der im Beitrag zitierte Christian Humborg ist wie auch ich einer der Gründer des Medienprojekts RUMS Münster.

+++ In den Australien soll Google seine Werbeeinnahmen mit örtlichen Medien teilen, möchte das aber nicht. Jan Bielicki berichtet auf der SZ-Medienseite.

+++ Dem Philosophen Alain Finkielkraut ist ein Interview zum Verhängnis geworden, in dem es um Kindesmissbrauch ging. Der Nachrichtensender "LCI" hat die Zusammenarbeit mit ihm beendet, berichtet Jürg Altwegg auf der FAZ-Medienseite (€). Finkielkraut hatte etwas gesagt, das bedeuten könnte, er gibt einem 14-jährigen Missbrauchsopfer eine Mitschuld an einer Tat. Aber er könnte auch etwas anderes gemeint haben. Dass das nicht klar ist, könnte auch ein journalistischer Fehler sein. Klären lässt sich das zurzeit nicht. Der Sender hat das Interview gelöscht.

+++ Eine Japanerin hat ihre Vorgesetzte im ARD-Studio Tokio verklagt. Für den NDR scheint die Sache klar zu sein. Der Vertrag der Vorgesetzten sei soeben bis 2023 verlängert worden, die Japanerin wolle man loswerden, schreibt Boris Rosenkranz in einem Beitrag für Übermedien. Rosenkranz: "Kann das sein? Dass sich ein Sender, zumal ein öffentlich-rechtlicher, gleich auf die Seite einer Mitarbeiterin schlägt, ohne die andere ausführlich anzuhören? Dass er nicht vermittelt, sondern viel Geld für Top-Anwälte ausgibt, um die Vorgesetzte zu verteidigen? Der NDR sagt dazu nichts."

+++ Die CDU wählt am Samstag einen neuen Vorsitzenden, unter Umständen, die es so bislang noch nicht gegeben hat. Anne Haeming erklärt für Übermedien, was das für die Bericherstattung bedeutet, wenn sich die Atmosphäre nur erahnen lässt, kaum Bilder zu bekommen sind und man die Menschen aus der Partei nicht mal abends am Büfett anquatschen kann.

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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