Das Altpapier am 26. Oktober 2017 Die Ideologie der Unterforderung

Geht in der Schweiz bald die öffentlich-rechtliche Welt unter? Waren die Zeitschriften hierzulande auch 1983 schon fast alle schlecht? Außerdem auf der Agenda: ein neuer Spitzenjob für einen medienpolitischen Strippenzieher; "Racial Profiling" in der deutschen Theaterkritik. Ein Altpapier von René Martens.

Normalerweise sind Zitate im Altpapier recht spoilerreich, wir picken uns gern Kernaussagen und Resümees heraus. Angesichts zweier aktueller Debattentexte zu #MeToo verfahren wir heute zu Beginn mal anders und versuchen, Neugierde zu wecken, ohne allzu viel zu verraten. Tomasz Kurianowicz steigt bei Zeit Online folgendermaßen in seinen Beitrag ein:

"Dies ist die dritte Version eines Textes über Sexismus, den ich, als weißer Mann im Alter von 33 Jahren, zu schreiben versuche. Ich habe drei Mal neu angesetzt, weil mich jedes Mal der Zweifel überkam, ob ich mir das Recht herausnehmen darf, mich in die Debatte einzumischen. Erst dachte ich 'ja', dann wieder 'nein', und jetzt denke ich: 'vielleicht'. Dieser Text ist das Protokoll eines Selbstzweifels, eines intellektuellen Zauderns, das am Ende doch eine Art Position sein könnte."

Sibel Schick widmet sich in der taz einem anderen Aspekt:

"Wie kann ich noch Menschen anflirten, kennenlernen, oder eine*n Partner*in finden, wenn Komplimente als Sexismus betrachtet werden? Wie komme ich überhaupt in Kontakt mit anderen Menschen, ohne dass sie sich sexuell belästigt fühlen? In der aktuellen Debatte über #MeToo, über sexualisierte Gewalt und Sexismus, zeigt sich die Verwirrung um die Grenze zu sexueller Belästigung. Dabei steht der Kampf gegen den Sexismus dem Flirten nicht im Weg. Wir zeigen Lösungen für einige der drängendsten Problemfelder."


Die drohende "totale Deregulierung" in der Schweiz

Den Öffentlich-Rechtlichen hierzulande ging es möglicherweise schon mal besser, gemessen daran, dass künftig ein bisschen gespart werden muss (Altpapier von Montag) und Kritik am System derzeit deutlicher zu spüren ist als je zuvor. Den Öffentlich-Rechtlichen hierzulande geht es allerdings glänzend, wenn man ihre Situation mit der der SRG in der Schweiz vergleicht. In der Zürcher WoZ malt Kaspar Surber die Dystopie aus, die bevorsteht, wenn das Volk im März der sogenannten No-Billag-Initiative, also der Abschaffung der Fernseh- und Radiogebühren (siehe Altpapier), zustimmt:

"1,6 Milliarden Franken beträgt heute der Umsatz der SRG. Drei Viertel davon stammen aus den Fernseh- und Radiogebühren, ein Viertel aus Werbeeinnahmen. Fallen die Gebühren weg, stürzt die SRG, wie wir sie heute kennen, in sich zusammen. 5900 Vollzeitstellen stehen beim Radio und Fernsehen auf dem Spiel. Über Gebühren finanzieren sich auch die Radiostationen in Berggebieten und die Alternativradios, ebenso die Regionalfernsehsender: Macht weitere 900 Arbeitsplätze. Sollte die Initiative angenommen werden, ginge der Einsturz in einem horrenden Tempo vor sich. In nur einem Jahr müsste die Initiative umgesetzt, müssten die Redaktionen geschlossen werden."

Man könnte Kaspar Surber vielleicht als eine Art Anti-Hanfeld der Schweiz bezeichnen. In dem Text heißt es weiter:

"Die No-Billag-Initiative will nämlich nicht nur die öffentlichen Medien in der heutigen Form abschaffen. Sie will auch verhindern, dass überhaupt je wieder solche entstehen könnten. In der Verfassung würde festgehalten, dass weder die staatliche Erhebung von Gebühren noch eine anderweitige Subventionierung künftig erlaubt wären (…). Die No-Billag-Initiative ist nicht einfach ein bisschen SRG-Kritik. Sie ist die totale Deregulierung des heutigen Mediensystems, das sich im kollektiven Besitz befindet. Es wäre, wie wenn man den SBB die Züge von den Schienen nähme, die Schienen gleich auch noch versteigerte und künftig jeden öffentlichen Verkehr verbieten würde: Sollen doch alle mit dem Auto kommen."


60 Jahre konkret

Wenn alles mit linken Dingen zugeht, wird sich in den nächsten Tagen eine signifikante Zahl von Medienjournalisten und Feuilletonisten mit dem 60-jährigen Jubiläum der Monatszeitschrift konkret beschäftigen. Falls nicht, können Sie sich darüber freuen, dass wenigstens das Altpapier, Ihr liebstes Influencer-Kollektiv, ein paar diesbezügliche Hinweise parat hat. Zu den prägenden Stücken des ab Freitag am Kiosk erhältlichen Jubiläumshefts gehört eine Zusammenstellung prägnanter Zitate von Schriftstellern, die in den vergangenen sechs Jahrzehnten für konkret geschrieben haben, darunter etwa Peter Handke, Patricia Highsmith - und Rainald Goetz. Der schrieb 1983:

"Über den Zeitschriftenleser und seine Erwartungen glauben alle Zeitschriftenmacher geradezu phantastisch genau Bescheid zu wissen, und die Zeitschriftenschreiber sollen sich dann danach richten. Deshalb, nur deshalb sind fast alle Zeitschriften so einheitsbreimäßig schlecht; der Einheitsbrei riecht faulig nach totem Fisch."

Huch! Sind wir da nicht mittendrin in einer halbwegs aktuellen Debatte, in der die Meinung vorzuherrschen scheint, dass die Lage erst in der jüngeren Vergangenheit so mies geworden ist?

"Wenn man sich die Magazine anschaut, ist es verwunderlich, dass nicht mehr Kolleginnen und Kollegen bereits irre geworden sind. Von Geist und Relevanz befreiter Blödsinn rauf und runter - und es sind auch die Guten unter uns, die ihn verzapfen. Aus der Not",

konstatierte Silke Burmester neulich in ihrer Kolumne für "@mediasres" (siehe Altpapier).

Zurück zum konkret-Jubiläum. In der Rubrik, die anderswo "Hausmitteilung" heißt, teilt Maxim Biller mit:

"Ja, ich lese konkret, und manchmal lese ich konkret monatelang nicht, aber trotzdem finde ich es in dieser Zeit immer sehr beruhigend, dass es konkret gibt. Warum? Weil die Texte in allen anderen Zeitungen und Zeitschriften inzwischen so klingen, als würden sie im selben Links-Rechts-Labor hergestellt werden."

Offenlegung: Ich schreibe - sporadisch - für konkret.


Das Comeback eines Strippenziehers

Einen medienpolitischen, tja, Knüller, gibt es auch zu vermelden: Der große sozialdemokratische Schlawiner Em Jay Eumann, bis Juli noch Medienstaatssekretär In NRW, "soll neuer Direktor der rheinland-pfälzischen Landesmedienanstalt werden". Das berichtet die Medienkorrespondenz. Frei ist der Top-Job ab 1. April 2018, und sollte der begnadete Fädenzieher ihn bekommen, dann auch deshalb, weil für die Besetzung dieses Behördenchefpostens in Rheinland-Pfalz andere Regeln gelten als in NRW (die dort unter signifikanter Mitwirkung Eumanns verabschiedet wurden). Konkreter:

"Überraschend an der Personalie Eumann ist nun, dass der Medienpolitiker Chef der LMK werden soll, obwohl er nicht über die Schlüsselqualifikation verfügt, die er selbst für die Leitung einer solchen Aufsichtsbehörde für notwendig erachtet. Bei der Novelle des nordrhein-westfälischen Landesmediengesetzes im Jahr 2014, die unter Eumanns Federführung entstand, wurde die Vorgabe eingefügt, dass der Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) Volljurist sein, also über die Befähigung zum Richteramt verfügen muss",

schreibt MK-Redakteur Volker Nünning. Eumann wiederum ist - um hier mal zu versuchen, das hübsche Wort zu toppen - Nicht-Volljurist.

Dass das Porträt einer Jazzmusikerin derart viel mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht, wie das nun bei "Der Preis der Anna-Lena Schnabel" der Fall ist (siehe Altpapier), ist gewiss ungewöhnlich. Dass das dieser 3sat-Dokumentation widerfährt, die einen durchaus instruktiven Blick wirft auf Jazz in Deutschland im Allgemeinen und den Nischenpreis ECHO Jazz im Besonderen wirft, hängt mit einer Vorabzuspitzung eines Teilinhalts bei Zeit Online zusammen. Es steht der Vorwurf Schnabels im Raum, dass der NDR, der eine Zusammenfassung des ECHO Jazz sendete, es ihr verboten habe, bei der Veranstaltung eine Eigenkomposition zu spielen, weil diese nicht gefällig genug sei.

Das NDR-Medienmagazin "Zapp" kritisiert nun, dass sowohl der Autor des 3sat-Films als auch der Autor der Zeit-Online-Rezension dem NDR, der eine ganz andere Sichtweise der Dinge hat, keine Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben haben. Derzeitiger Stand: Das ZDF, das den Film für 3sat produziert hat, bedauert Letzteres, Ulrich Stock (der Zeit-Online-Autor) meldet sich nicht (jedenfalls nicht bei "Zapp"), und die Künstlerin meldet sich nicht einmal bei ihrer Plattenfirma, die aber wiederum sich immerhin darüber freuen darf, dass derzeit "das Interesse an Anna-Lena Schnabel und ihrer Musik (…) geradezu 'explodiert.'"

Die Kunst, die Kritiker zu bestätigen, indem man versucht, sie zu widerlegen, beherrscht übrigens der im 3sat-Film ebenfalls attackierte Bundesverband der Musikindustrie:

"Am Ende muss im Medium TV eine Sendung entstehen, die die TV-Zuschauer/innen erreicht und inhaltlich abholt und mitnimmt",

schreibt dieser in einer Anfang der Woche veröffentlichten Pressemitteilung.

In den Begriffen "abholen" und "mitnehmen" manifestiert sich ja nun gerade die kritisierte öffentlich-rechtliche Ideologie der Zuschauer-Unterforderung. Dass es um die Auswahl eines Stückes für eine Sendung im Nachtprogramm ging, die nicht von abholbedürftigen Zuschauern eingeschaltet wird, sondern von solchen, die das gezielt tun, sei in diesem Zusammenhang auch noch erwähnt.


Kebekus als Petry

Dass Carolin Kebekus sich über den deutschen Comedy-Preis freuen darf, kommentiert Hans Hoff in der SZ heute folgendermaßen:

"(Kebekus) hatte bereits in den vier Vorjahren den Titel beste Komikerin heimgetragen und stand in diesem Jahr wieder mit einem Preis da. Weil die Männer- und Frauenkategorie erstmals zusammengeworfen wurden, darf sie sich nun lustigster Mensch Deutschlands nennen. Das ist eine Botschaft an all ihre haltungslosen Kollegen, denn Kebekus scheut selten das klare öffentliche Wort."

Heute läuft auch eine neue Folge von Kebekus’ "Pussy Terror TV", und ein Video daraus hat die ARD freundlicherweise schon mal vorab in die Welt gesetzt. Kebekus widmet sich dort Frauke Petry, sie zeigt auf ihre Weise "Haltung", wie Hans Hoff vielleicht sagen würde. Dass sie es auf gelungene Art tut, sieht man im Übrigen auch daran, dass ein Springer-Onkel namens Manuel Lorenz das Video nicht so gelungen findet.


Altpapierkorb (Myanmar, Burda, Theaterkritik)

+++ Wie es der Regierung in Myanmar mit Hilfe von Facebook gelingt, die Wirklichkeit zu verzerren und die Bevölkerung zu manipulieren, beschreibt die New York Times. "For many people, Facebook is their only source of news, and they have little experience in sifting fake news from credible reporting", heißt es in dem Artikel, den das New York Magazine zusammenfasst.

+++ Stefan Niggemeier (Übermedien) zeigt anhand des Covers der aktuellen Freizeit Revue auf, dass der Burda-Verlag "unter anderem" mit "alternative facts" sein Geld verdient - und erwähnt in diesem Zusammenhang noch einmal, dass auch Burda gemeint war, als die Funke-Mediengruppe im Juni stellvertretend für die gesamte Yellow-Press-Branche vom Netzwerk Recherche den Negativpreis Verschlossene Auster verliehen bekommen hatte (siehe hier und hier). Die Klarstellung war notwendig geworden, weil der Burda-Hierarch Philipp Welte auf den Medientagen München mit einer "verlogenen Sonntagsrede" (Niggemeier) auffällig geworden war. Sieh auch Altpapier von Mittwoch.

+++ Anlässlich von Rezensionen einer Inszenierung von Anta Helena Recke an den Münchener Kammerspielen geht Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell bei Spiegel Online hart ins Gericht mit beispielsweise für die SZ und die NZZ in die Tasten hauenden Theaterkritikern: "Wie kann es sein, dass sogenannte Experten nicht in der Lage sind, einen Theaterabend adäquat zu beschreiben, bei dem es zur Abwechslung mal nicht darum geht, einen hundertfach auf die Bühne gebrachten und als klassisch abgesicherten Text in der Neuinszenierung zu besprechen, mit Nacherzählung des Inhalts, Einzelbeurteilungen bekannter Schauspielerinnen und einem Absatz zum Bühnenbild?" Die besagten Texte sind für Dell auch ein Anlass, das "in der weißen deutschen Theaterkritik" verbreitete "Racial Profiling" zu brandmarken. Dort tauchten "dauernd - und auch in wohlwollenden Texten - 'Farbige' auf (…), wenn Leute unbedingt mit ihrer Hautfarbe markiert werden müssen, die anders aussehen als man selbst (auch dann, wenn die Hautfarbe für das, was gesagt werden soll, gar keine Rolle spielt). Ein Wort, das ohne Not diejenigen beleidigt, die damit gemeint sein sollen - kein Mensch ist ein Buntstift".

+++ Verena Mayer (SZ) und Michael Hanfeld (FAZ) loben die in der Arte-Reihe "Re:" zu sehende Reportage "Weil du Jude bist." Mayer spricht von einer "deprimierenden Bestandsaufnahme über Antisemitismus in Europa. Eine Geschichte, die alltäglicher ist, als es viele wahrhaben wollen, allein an das Jüdische Gymnasium in Berlin kommen jedes Jahr mindestens acht Kinder, die in anderen Schulen gemobbt wurden. Der Film erzählt aber auch von einer Familie, die sich ihren Optimismus und den Glauben an die deutsche Zivilgesellschaft nicht nehmen." Hanfeld schreibt: "Oscar, der vierzehnjährige Junge aus Berlin, den Katrin Sandmann in ihrer Reportage klugerweise nicht zeigt, aber dessen Geschichte sie umso eindrücklicher erzählt, lernt inzwischen Karate. Er will sich für das Leben in Deutschland wappnen - als Jude, der seinen Glauben nicht verbergen muss." Warum die Reihe "Re:" generell zu würdigen ist, habe ich vor wenigen Wochen für die Medienkorrespondenz aufgeschrieben.

+++ Wie die Münchener Polizei auf die Vorwürfe des TV-Veterans Christoph Lütgert reagiert, sein Team und er seien vor rund zwei Wochen bei Dreharbeiten vor dem Frauengefängnis München-Stadelheim von Polizisten schikaniert und bedroht worden - davon setzt uns meedia.de in Kenntnis.

+++ Dass die rechtsextremen Breitbart News neuerdings stets den Hashtag #war zum Einsatz bringen, wenn sie sich jenen widmen, die sie zu ihren Hauptfeinden auserkoren haben, greift "@mediasres" auf. Der Ton von Breitbart sei "so reißerisch wie eh und je", konstatiert Sacha Verna. Und: Die Berichte dort "(scheinen) nur als Vorwand für Leser zu dienen (…), sich in den Kommentarspalten die Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens aus dem Leib zu schreiben."

+++ Die Medienkorrespondenz hat den Einleitungstext, den Lutz Hachmeister für das kürzlich erschienene "Medienevolutions"-Sonderheft verfasst hat, online gestellt. Hachmeister schreibt unter anderem: "Heute verfügen wir mir mit dem Smartphone-Minicomputer über einen zentralen kybernetischen Massenapparat - auch wenn er zunächst als extrem dezentral erscheint - und spätestens damit kann die Frage nach der Dialektik von Präzision und Unsicherheit noch einmal neu gestellt werden. Je mehr Präzision, Speicher, Clouds und Serverfarmen, desto stärker wächst die gesellschaftliche Unsicherheit, so könnte eine These lauten, die weiter zu diskutieren wäre."

+++ Ebenfalls frei online bei der Medienkorrespondenz: ein Artikel von mir über die sehr befremdliche, beim Nischensender Nitro zu sehende Montagabendshow "100% Bundesliga".

+++ Zum Schluss noch was Erfrischendes, meinethalben auch erfrischend Vulgäres: "Dass solch teurer Scheißdreck, in mancher Hinsicht durchaus state of the art, von der deutschen Vorab-Kritik gefeiert und gehätschelt wurde, sollte ihr das Rückgrat brechen, wenn sie eines hätte. Aber sie versteht sich ja seit Jahrzehnten als Promoter und Mentor dieser deutschen Scheiße, deren Ursünde die volkspädagogische Gutgemeintheit ist, die weder Realismus noch artifizielle Überspannung (…) zulässt." So urteilt der lange auch als Filmkritiker unterwegs gewesene Ex-Merkur-Herausgeber Kurt Scheel im Blog Das Schema über "Babylon Berlin".

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.