Teasergrafik Altpapier vom 3. Februar 2021: Porträt Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 3. Februar 2021 Kein Bock auf Schockrock

03. Februar 2021, 11:01 Uhr

Die Berichterstattung über die Vorwürfe gegen Marilyn Manson versucht, dessen Attitude nicht mit den Beschuldigungen in einen Topf zu werfen – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Gibt es Schockrock noch?

Das onkelige Wort "Schockrocker" gehört in die gleiche, staubige Kategorie wie "Blödelbarde", aus ähnlichen Gründen: Der eine schockt schon lange nicht mehr richtig, der andere geht bereits mindestens genauso lange zum Blödeln in den Keller. Der Musiker und Namensgeber der Band Marilyn Manson zählte (neben Alice Cooper, Ozzy Osbourne und Gwar) ebenfalls zu den "Schockrockern" – dabei kommt einem das "schockierende Verhalten" jener albernen Männer, der Songkrach, das Schwarztragen, die Kriegsbemalung, die bunten Kontaktlinsen, das Fledermauskauen und das Grunting und Growling, überholt vor: Wirklich schockierend sind Xavier Naidoo und Rechtsrock. (Auf ersteren passt wiederum auch Blödelbarde ganz gut.) Und trotzdem gibt es momentan "Schockrocker"-Schlagzeilen, und zwar unter anderem hier:

"Schockrocker Marilyn Manson weist Missbrauchsvorwürfe zurück",

zitiert RP Online neben vielen ähnlichen Medien eine dpa Meldung. Es geht um Anschuldigungen der Exfreundin Mansons, der eigentlich Brian Warner heißt. Die 33jährige Schauspielerin Evan Rachel Wood hatte bereits vor ein paar Jahren vor einem Komitee des kalifornischen Senats zur Unterstützung des "Phoenix Act" (ein Gesetz, das den Nachweis häuslicher Gewalt vereinfachen soll) von Missbrauchserlebnissen berichtet. Ein Expartner, deren Namen sie zunächst nicht nannte, habe die damals 19jährige zunächst umworben, um sie dann mit  Demütigungen, Isolation, körperlicher und sexueller Gewalt und "Gaslighting" (eine nach dem verstörenden, gleichnamigen Psychothriller von George Cukor benannte psychologische Taktik der Manipulation eine*r Partner*in, damit er/sie an der eigenen Gesundheit zweifelt) schwer zu traumatisieren.

Wood hat ihre Vorwürfe nun konkretisiert, und Manson beschuldigt – und vier weitere Frauen, allesamt Ex-Freundinnen des Mannes, berichten von ähnlichen Torturen durch Manson.

Sind Bürgerschrecke gewalttätig?

Und es ist sehr schwierig, die Geschichte, die momentan noch aus Behauptungen auf beiden Seiten besteht (Manson hat in diesem Instagrampost seine Unschuld beteuert, und erklärt, seine Beziehungen seien stets konsensuell und mit gleichgesinnten Partnerinnen gewesen), zu erzählen, ohne zwischen dem provokante Bürgerschreck-Verhalten Mansons und seinen angeblichen Gewalttaten den Kausalzusammenhang zu ziehen, der irgendwann früher, als "Schockrocker" tatsächlich schockierten und die Vorverurteilung einer bürgerlichen Gesellschaft billigend in Kauf nahmen, permanent gezogen wurde.

Dem Spiegel gelingt es jedoch hier ganz gut: Manson übe eine starke, ambivalente Anziehung aus,

"vielleicht weil er seine eigenen Dämonen nie versteckt hat, sondern sie in oft grotesk überzeichneter Form in aller Öffentlichkeit zur Schau stellte wie in einem Zirkus der Kaputtheiten. Bei Marilyn Manson, der Kunstfigur, wie auch dem Menschen Brian Warner lagen immer schon alle Abgründe weit offen. Man blickte mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu in sie hinein."

Wann darf die Zivilgesellschaft richten?

Der Fall landet erst dann vor Gericht, wenn die US-Justiz tatsächlich Anklage erhebt, und die Beweisvorlage eröffnet – ein kompliziertes und oft kritisiertes Verfahren, denn erstens können derartige Anschuldigungen verjähren (darum der erwähne Phoenix Act), aber Verarbeitungsmechanismen auf der Opferseite (die andere ist normalerweise nicht an Aufklärung interessiert) brauchen eben ihre Zeit.

Und zweitens ist die Beweisführung in Bezug auf eine private Beziehung ohnehin schwierig, wenn nicht unmöglich: Meist waren ja nur die beiden dabei, die sich jetzt gegenüber stehen und Gegenteiliges behaupten.

Die taz thematisiert hier aufgrund der Ankündigung von Mansons Plattenlabel, die Zusammenarbeit mit ihm jetzt schon, auch ohne Verhandlung und Urteil zu kündigen, den Zusammenhang zu "cancel culture":

"Viele Menschen zeigen sich am Montag in sozialen Netzwerken solidarisch mit den mutmaßlich betroffenen Frauen, darunter auch Prominente. Andere kritisieren die Reaktion der Platten- und Produktionsfirmen, unterstellen "Zensur" und "Cancel Culture". Die Zivilgesellschaft hat nicht zu entscheiden, ob jemand eines Verbrechens schuldig ist. Aber sie kann durchaus über gewaltverherrlichendes Verhalten bei einem Prominenten richten, sofern es öffentlich dokumentiert oder bezeugt ist. Beides ist hier der Fall. Was sagen die Fans heute zu Mansons Lyrics und Aussagen? Provokation? Cool? Oder geht gar nicht – auch nicht als Fantasie?"

Ein schwieriges Fass – kann die "Zivilgesellschaft" wirklich über "gewaltverherrlichendes Verhalten" richten, wenn es in einer als "Schockrocker" verkleideten Kunstfigur ausgemacht wird? Kann man von Mansons klassisch-provokantem Verhalten in der Öffentlichkeit und seinem Erzählen von Gewaltfantasien auf tatsächliche Gewaltfantasien schließen – und von denen wiederum auf das Ausleben derselben? Muss ein "Schockrocker" nicht qua Definition Gewalt verherrlichen, um sich vom "Softrocker" abzuheben, und dessen vorgetäuschten "good intentions" zu karikieren?

Ebenjenes Verhalten, das Wood Manson vorwirft, besang übrigens Henry Rollins (dem man garantiert keine albernen und/oder ambivalenten Schockrocker-Ambitionen nachsagen kann, dafür ist seine Gesellschaftskritik viel zu eindeutig) im Jahr 1994, im Song "Liar" – das legendäre Video zeigt einen zwischen der einen, "guten" und der anderen, "bösen" Identität hin- und herrennenden  Rollins, der textlich das von Wood in ihrer oben zitierten Aussage genannte "Love Bombing" mit anschließender Gehirnwäsche wiedergibt:

"I`ll hide behind a smile / And understanding eyes / And I`ll tell you things that you already know / So you can say / I really identify with you, so much / And all the time that you`re needing me /Is just the time that I`m bleeding you / Don`t you get it yet?  / I`ll come to you like an affliction / And I`ll leave you like an addiction"

Ist das #metoo?

Der Tagesspiegel titelt zu der Geschichte "#metoo-Vorwürfe gegen Rockstar", was nicht stimmt, denn die Vorwürfe beziehen sich auf konkrete Fälle von mutmaßlichem sexuellen Missbrauch, und nur am Rande auf das Wegschauen einer gesamten Branche – zwar tauchen in vielen Berichten auch immer wieder Zitate von Menschen und auf, die Wood angeblich ansahen, dass sie unglücklich mit Manson ist.

#metoo bezeichnet jedoch spezifisch den Missbrauch in systemischen Machtstrukturen, in denen das Opfer selbst dann keine Hilfe bekommt, wenn es danach fragt, oder in denen die Offenlegung jener Taten mit dem Karriereende beziehungsweise einem sozialen Suizid des Opfers einherginge. Das war bei Wood und Manson beides nicht der Fall. (Zur Ehrenrettung des Tagesspiegel-Artikels muss aber gesagt werden, dass #metoo tatsächlich nur im kleinen Übertitel vorkommt.)

Manson, egal ob schuldig oder nicht, ist jedenfalls jetzt schon in die vom Spiegel benannten "Abgründe" gestürzt, und wird nicht wieder herauskommen. Immerhin muss man (oder müssen potentiell Manson-spielende Radiosender) die eigene Moral in diesem Fall nicht mit der komplexen "Werk vs. Autor"-Diskussion quälen, und sich überlegen, ob man noch Marilyn Manson-Werke kaufen/spielen/runterladen darf, sollte er nach einem etwaigen Verfahren schuldig gesprochen werden: Die sind musikalisch glücklicherweise komplett überflüssig.


Altpapierkorb (... mit Demi Moores Hobby, Erkenntnisse bei Disney+ und dem designierten  Politkrimibestseller "Merkels letzte Wette")

+++ In vielen letzten Altpapieren, unter anderen gestern, ging es in Bezug auf eine WDR-Talkshow bereits um sprachliche Sensibilität. Hier ist noch ein ganz kleiner sprachsensibler Nachschlag zu einem anderen Thema: Die Faz schreibt in ihrer Rubrik "Neues von den Promis", dass Demi Moore nach einem

"Auftritt bei der Paris Fashion Week, bei der sie in der vergangenen Woche mit eingefallenen Wangen und ungewohnt gebogenen Lippen Operationsgerüchte schürte" sich "jetzt bei Instagram wieder mit vertrauten Gesichtszügen"

zeigte. Da kann man ja froh sein, dass jenes ominöse, von der FAZ somit als aktive Tätigkeit gebrandmarkte "Schüren von Operationsgerüchten" nicht zum Haupt-Hobby der 58jährigen geworden ist.

+++ Und nochmal Sprachsensibilität bzw. das Vermeiden von Stereotypen: Viele Medien berichten darüber, dass Disney jene Klassiker aus seinem Kinderprogramm genommen hat, die rassistische und sexistische Stereotypen transportieren, unter anderem "Dumbo", das "Dschungelbuch" und "Aristocats" – um diese Filme zu schauen, müssen die Kinder über den Zugang ihrer Erziehungsberechtigten gehen bzw. sollen, so die dahinterstehende Idee des Konzerns, sie sozusagen inklusive erklärendem und relativierendem Audiokommentars der Eltern genießen.  Ein "müder Kompromiss", urteilt die taz.

+++ Die Süddeutsche hat sich dieses Themas etwas persönlicher angenommen, und Filmklassiker der 80er und 90er (Indiana Jones, Pretty Woman, Night on Earth etc.) nochmal mit erwachsenen, feministische, woken Augen angeschaut. Nebenbei natürlich auch eine klassische Corona-Beschäftigung.

+++ Und als letztes: Alle haben selbstverständlich irgendetwas zu Merkels Auftritt beim Impfgipfel und ihr "Impfversprechen" zu sagen, mal unzufrieden, mal ironisch, mal lobend. Aber nur die NZZ gibt dem Thema den Titel einer imaginären Fernsehsendung, oder eines von einem ehemaligen, nicht mehr ganz so erfolgreichen Hauptstadtjournalisten mit Aussteigeambitionen geschriebenen Polit-Krimis, der Kurs auf die Spiegel-Bestsellerliste nimmt: "Merkels letzte Wette". Und orakelt:

"Wenn jeder Deutsche bis zum 21. September die Möglichkeit einer Impfung erhalten hat – also ein echtes Angebot und nicht nur einen Termin vom Gesundheitsamt Wochen oder Monate später –, dann verabschiedet sich Europas dienstälteste Regierungschefin zumindest in diesem Punkt als Krisenmanagerin aus dem Amt. Wenn sie ihr Versprechen bricht, dann geht sie als Verliererin."

Je nach Prio-Gruppe werden wir dann berichten, wann es soweit war.

Neues Altpapier kommt morgen.

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